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Dokument 1.pdf (14.973 KB) - OPUS - Universität Würzburg

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steller sogar bis in die Träume verfolgt, die<br />

er in seinen Tagebüchern akribisch protokollierte<br />

und zu deuten versuchte. Seine Traumbeschreibung<br />

und Traumanalyse vom 17.<br />

Oktober 1915 belegt dies eindrucksvoll.<br />

Noch komplexer stellt sich der Bewußtseinszerfall<br />

des jungenArztes Rönne in GottfriedBenns<br />

Novelle "Gehirne" dar, die 1915<br />

in "Die weißen Blätter" veröffentlicht wird,<br />

zeitgleich mit dem Röntgentraum desArthur<br />

Schnitzler. Bereits die zeitgen?ssische Literaturgeschichtsschreibung<br />

diagnostiziert die<br />

"Depersonalisation" und "Entfremdung der<br />

Wahrnehmungswelt", wobei deutlich zu erkennen<br />

ist, daß Rönnes Krise die literarische<br />

Projektion der Krise des Dr. Benn darstellt.<br />

Weit entfernt von solcher Verstörung ist<br />

die auf den ersten Blick magisch-naive Erhebung<br />

eines Röntgenbildes in Hans Carossas<br />

autobiographischer Erzählung "Der Tag<br />

des jungen Arztes": Eine Familie hatte ihren<br />

kleinen Sohn verloren, ein aspiriertes<br />

Uhrschlüsselchen im Lungengewebe war die<br />

Todesursache gewesen, und gewissermaßen<br />

als Reliquie wurde das <strong>Dokument</strong> dieses frühen<br />

Todes aufbewahrt: Beim Besuch der jungen<br />

Eltern fällt dem Arzt "etwas vorher nie<br />

Gesehenes in die Augen, das ich nie mehr<br />

vergessen konnte; zwischen den Bildern von<br />

Jesus und Maria hing als dritte Heiligenta-.<br />

fel die Röntgenaufnahme der Münchener<br />

<strong>Universität</strong>sklinik, die Vater Thomas mit einem<br />

hübschen hellbraunen Rahmen umgeben<br />

hatte." Carossa registriert "die andächtige<br />

Verehrung, welche die bei den Eltern<br />

dem unschuldigen Marterwerkzeug erwiesen",<br />

das Röntgenbild war zur Ikone geworden<br />

und hatte sich in den Augen der Eltern<br />

in ein Andachtsbild verwandelt, das an die<br />

Passionsgeschichte ihres Kindes erinnern<br />

sollte.<br />

III. "Mein Gott, ich sehe!"<br />

Hans Castorp im Röntgenlaboratorium<br />

des Zauberbergs<br />

Der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen<br />

ist in der Familie Mann kein Unbekannter<br />

gewesen. Katia Pringsheim gehörte zum<br />

Schülerkreis des berühmten Professors, der<br />

1899 an die <strong>Universität</strong> München berufen<br />

worden war. Und eine Röntgenaufnahme der<br />

Katia Mann aus dem Jahr 1912 und eine<br />

Fehldiagnose dieses Röntgenbildes sind<br />

schuld am "Zauberberg". Christian Virchow<br />

stellte dies bei einem Vergleich der Röntgenaufnahmen<br />

der Jahre 1912 und 1967 fest.<br />

Sein Attest: "Der ,Zauberberg' ist das Resultat<br />

einer übervorsorglichen, einer Verdachts-,<br />

einer Fehldiagnose."<br />

Die Entstehungsgeschichte des Röntgenkapitels<br />

läßt sich aus den erhaltenen Tagebüchern<br />

des Jahres 1920 en detail rekonstruieren.<br />

Dies scheint insofern wichtig zu sein,<br />

als die Notate deutlich machen, wie groß das<br />

Interesse Thomas Manns an der "Durchleuchtungsszene"<br />

gewesen ist und wie unübersehbar<br />

das Schreiben an dieser Szene mit<br />

dem beklemmenden Gefühl einer aufsteigenden<br />

Todesangst verbunden war.<br />

Daß der Autor seine Vorstudien zum Röntgenkapitel<br />

im Februar 1920 in der Münchener<br />

<strong>Universität</strong>sklinik (Ziemßenstraße) vorbereitet,<br />

und daß seine Darstellung auf Autopsie<br />

beruht, wurde bisher so wenig beachtet<br />

wie das akribische Protokoll der Fortschritte<br />

der "Röntgen-Laboratoriums-Szene"<br />

in den folgenden Märzwochen.<br />

Schließlich ist der Abschnitt im Brief an<br />

Ernst Betram vom 16. März 1920 als Schlüsseltext<br />

zu lesen, weil hier sehr nuanciert der<br />

Ton und die Perspektive der "Szenen" angedeutet<br />

werden: "Der Zauberberg wächst<br />

langsam aber gleichmäßig, darf ich sagen.<br />

Ein paar entschieden kuriose Scenen sind<br />

neuerdings entstanden: so bin ich bei einer,<br />

die im Röntgen-Laboratorium spielt - auch<br />

einer recht unerlaubten Veranstaltung in meinem<br />

Lichte. Alle Aerzte und ehemaligen Patienten,<br />

die von dem Unternehmen hören,<br />

lechzen nach der Satire. Wenn es mit dem<br />

bischen Satire nur eben gethan wäre!"<br />

"Satire" und "kuriose Scenen", das klingt<br />

nach Satyrspiel und parodistischer Inszenierung.<br />

Indessen bleibt es nicht bei diesem Ton<br />

und dieser komischen Färbung: mit der Satire<br />

allein ist es eben nicht getan. Es gibt einen<br />

Rest von Indezenz und "unerlaubter Veranstaltung",<br />

und damit ist fraglos das Spiel<br />

um Liebe und Tod, Erotik und Vanitas gemeint.<br />

Das "Durchleuchtungslaboratorium"<br />

als Theatrum Mundi, als Welttheater und<br />

BLICK<br />

punkt zur Botschaft des "Schnee"-Kapitels<br />

und seiner visionären Bilder.<br />

Auf den wenigen Seiten, welche die "Epiphanie"<br />

im Durchleuchtungslaboratorium<br />

beschreiben, ist auf alle Nuancen zu achten:<br />

auf das Raffinement der Lichtregie zwischen<br />

"Halbdunkel", "künstlichem Halblicht" oder<br />

"mattem Deckenlicht", auf die Richtungen<br />

und Brechungen der Blicke. Die Szene ist<br />

auf Spannung und Steigerung angelegt, die<br />

Raumsymbolik nicht zu übersehen. Denn<br />

dem Durchleuchtungslaboratorium gegenüber<br />

liegt Dr. Krokowskis analytisches Kabinett<br />

im selben gebrochenen Halbdunkel.<br />

Psychoanalyse und Röntgendiagnostik sind<br />

spiegelbildlich aufeinander bezogen.<br />

Hofrat Behrens empfängt die "Dioskuren"<br />

Hans Castorp und Joachim Ziemßen in seiner<br />

"Hexenoffizin" , und sein grober diabolischer<br />

Zynismus spielt alle Assoziationen,<br />

Bilder und Aktionen in eine unverhüllte<br />

Zweideutigkeit der Sprache hinüber. Die<br />

Führung durch seine "Privatgalerie" präsentiert<br />

zunächst die ästhetischeAnatomisierung<br />

des ganzen Menschen, um unvermittelt auf<br />

die platten sexuellen Phantasien seiner<br />

"Lichtanatomie" zu kommen. Die Pantomime<br />

von Geschlechtsakt und Hinrichtung, dazu<br />

der Ausbruch fürchterlicher Naturgewalten,<br />

wie sie Thomas Mann bei seinen Beobachtungen<br />

in der Münchner Ziemßenstraße<br />

(!) wohl aufgezeichnet hatte, beherrschen die<br />

Szene.<br />

Aber die Phänomene von Licht, Durchleuchtung<br />

und verstörender Wahrnehmung<br />

werden sich in einem wilden Szenario von<br />

Hexenküche und Walpurgisnacht zu ungeahnten<br />

Sensationen steigern: das "Rubinlicht"<br />

erlischt, und aus der dichtesten Finsternis<br />

läßt der teuflische Hofrat Behrens<br />

"auf seinem Schusterschemel" reitend, "die<br />

Schenkel gespreizt", auf dem bleichen Vier-<br />

Hexenküche, Inferno und Purgatorium: kurz, eck des Leuchtschirms die wunderbarsten<br />

eine "recht unerlaubte Veranstaltung" im<br />

Lichte Thomas Manns und Wilhelm Conrad<br />

Röntgens!<br />

Wenn man das Raffinement der Konstruktion<br />

des Romans und seiner Siebenzahl der<br />

Großkapitel nach Zahl und Proportion zu rekonstruieren<br />

versucht, dann liegt das Röntgen-Kapitel<br />

an der Grenzlinie des ersten<br />

Drittels, während das berühmte "Schnee"­<br />

Kapitel den Übergang zum letzten Drittel der<br />

monumentalen Erzählung markiert. So läßt<br />

sich im kompositorischen Geflecht der Themen<br />

und Leitmotive doch wohl die These<br />

riskieren, daß der "Durchleuchtungsszene",<br />

die Thomas Mann so sehr am Herzen liegt,<br />

an ihrem achsialen Wendepunkt eine nicht<br />

zu unterschätzende Bedeutung zukommt:<br />

eben als komplexem Satyrspiel und Kontra-<br />

Bilder erscheinen, die jene "zerrende Lust<br />

der Indiskretion" wecken, die sich in Hans<br />

Castorps Brust "mit Gefühlen der Rührung<br />

und Frömmigkeit" mischen.<br />

"Er studierte die Flecke und Linien, das<br />

schwarze Gekräusel im inneren Brustraum,<br />

während auch sein Mitspäher nicht müde<br />

wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein<br />

zu betrachten, dies kahle Gerüst<br />

und spindeldürre Memento. Andacht und<br />

Schrecken erfüllten ihn. "Jawohl, jawohl, ich<br />

sehe", sagte er mehrmals. "Mein Gott, ich<br />

sehe!""<br />

Im Spiel der Metaphern, die Joachims<br />

Herz, das "pulsierende Gehänge", "Qualle"<br />

und "Sack", zu umschreiben versuchen, spiegeln<br />

sich Schock und Verstörung, die "Zweifel<br />

an der Erlaubtheit seines Schauens". Der

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