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Dokument 1.pdf (14.973 KB) - OPUS - Universität Würzburg

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Sonderheft - 100 ] ahre Röntgenstrahlen<br />

Wahrnfillmungsschock betrifft nicht allein<br />

das Bild gewordene Memento mori, den<br />

Blick in das tierisch ungestalte innerste Zentrum<br />

von Gefühl, Emotion, Lust und<br />

Schmerz. Und dennoch überlagern auf diesem<br />

Höhepunkt von Wahrnehmungs schock<br />

und Tabuverletzung die "Gefühle der Rührung<br />

und Frömmigkeit" die augenfällige Entmythologisierung,<br />

die "auf Veranstaltung der<br />

physikalisch-optischen Wissenschaft" zustande<br />

kam.<br />

Aber Hans Castorp setzt sich auch noch<br />

der letzten Erfahrung aus, indem er am Ende<br />

Röntgens erste photographische Aufnahme<br />

auf seine Weise "nacherlebt" und rekonstruiert<br />

und seine eigene Hand durch den Leuchtschirm<br />

betrachtet. Mit "durchschauenden,<br />

voraussehenden Augen" "erblickte er einen<br />

vertrauten Teil seines Körpers" "und zum<br />

ersten mal in seinem Leben verstand er, daß<br />

er sterben werde."<br />

Von der Verkörperlichung des Seelischen<br />

einmal abgesehen, erscheint hier das zentrale<br />

Thema, mit dem das Satyrspiel in der Hexenküche<br />

des Durchleuchtungslaboratoriums<br />

an ein ernstes Ende kommt, das im Kontrast<br />

von Zeit, Todeserfahrung und Vergänglichkeit<br />

das Thema "Zeit" als das beherrschende<br />

Leitmotiv im Zauberberg aufnimmt<br />

und zugleich relativiert.<br />

Zweifellos gehört die "Röntgen-Laboratoriums-Szene",<br />

an der Thomas Mann im<br />

Frühjahr 1920 so viel gelegen ist, zu den<br />

Höhepunkten in der Geschichte der Wirkung<br />

von Röntgens Strahlen auf die deutsche Literatur.<br />

In ihrer Intensität überschattet sie alle<br />

späteren Versuche, den Wahrnehmungsschock,<br />

der zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

ganz besonders heftig gewesen ist, in Bilder<br />

umzusetzen. Aber auch noch in der aktuellen<br />

Gegenwartsliteratur sind nicht nur<br />

schwache Reflexe von Röntgens Entdeckung<br />

oder ein Echo aus dem Zauberberg zu finden,<br />

sondern ein neues Interesse am faszinierenden<br />

Blick nach innen.<br />

IV. "Herzwand" und "Schädelbasislektion"<br />

Ein Ausblick<br />

So steht der Eingang des Romans, der<br />

"Herzwand" heißt und der, als er 1990 erscheint,<br />

von Peter Härtling demonstrativ und<br />

mit gutem Grund den Untertitel "Mein Roman"<br />

erhält, im Schatten des "Zauberberg".<br />

"Ich betrachtete mein Herz und das, was vielleicht<br />

meine Seele war." Die Literaturkritik<br />

hat diesen Romananfang (mit der Katheter­<br />

Sonde auf dem Weg zur Herzwand) "atemberaubend"<br />

genannt, den "vorweggenomme-<br />

nen Höhepunkt", auch wenn die Konsequenz<br />

des Wahrnehmungsschocks, des "kardialen<br />

Orgasmus", wie der Autor ihn bezeichnet,<br />

einen vertrauten Topos autobiographischen<br />

Schreibens auslöst. Die Verwirrung des inneren<br />

Gelächters hat "Wesen und Gedächtnis<br />

verändert". Der Blick ins Innerste, auf<br />

Herz und Seele, setzt Erinnerung an längst<br />

Vergessenes frei: Anamese im poetischen<br />

Sinn.<br />

Wesentlich vertrackter, intellektueller, gewiß<br />

auch zynischer als Härtlings poetische<br />

Aufrichtigkeit, stellt sich der "Röntgenblick"<br />

in Durs Grünbeins Gedichten dar. Da begegnet<br />

der dreiunddreißig Jahre junge Büchnerpreisträger<br />

des Jahres 1995 ein Jahrhundert<br />

nach Röntgens Entdeckung immer noch den<br />

vehementen Folgen einer revolutionären Geschichte<br />

der Wahrnehmung, changierend<br />

"zwischen wissenschaftlicher Präzision und<br />

hochfliegender Metaphorik, zwischen zauberhafter<br />

Poesie und schickem Techno-Geklingel."<br />

Aber es ist ein unverkennbar neuer<br />

Ton, in dem er seine melancholischen To-<br />

Röntgentechnik -<br />

unverzichtbar für die<br />

Archäologie<br />

Walter Janssen, Vortrag am 11. Oktober<br />

Röntgen-Ring-Vorlesung Medizin<br />

Das Bild, das viele Bürger von der<br />

vor- undfrühgeschichtlichen Archäologie<br />

und den Archäologen<br />

haben, wird weitgehend von der<br />

Vorstellung bestimmt, es handele<br />

sich dabei um eine Art Schatzsucherei,<br />

bei der es gelte, im Boden<br />

verborgene wertvolle Schätze,<br />

womöglich aus Gold und Silber, zu<br />

bergen. Die Wirklichkeit sieht<br />

dagegen anders aus.<br />

Die archäologische Arbeit auf dem Feld<br />

der Vor- und Frühgeschichte ähnelt eher einem<br />

ständigen Kampf der Ausgräber, dem<br />

vom Zahn der Zeit gezeichneten Boden der<br />

Vorzeit möglichst viel an Erkenntnis über das<br />

Leben vergangener Generationen abzugewinnen:<br />

Wie lebten die Menschen der Vorzeit?<br />

Wie sahen ihre Kleidung, ihre Waffen,<br />

ihre Behausungen, ihr Schmuck aus? Viele<br />

desvisionen und Schädelinnenansichten zur<br />

Sprache bringt.<br />

Röntgen ist gegenwärtig in "Falten und<br />

Fallen" (1994) und auch in "Schädelbasislektion"<br />

(1991) herrschen Diagnose und<br />

Körpererfahrung vor.<br />

Auch Grünbein vermag der verwundenden<br />

Wahrnehmung, dem harten Strahl des<br />

"Quecksilberblicks" des Spiegels nicht zu<br />

entgehen, der das Gesicht durchdringt "Wie<br />

ein Spion vom Clan der Röntgengeister."<br />

Seine grobe Auflehnung gegen den Tod<br />

mag, 100 Jahre nach Röntgens Entdeckung,<br />

gerade in einem Anatomischen Hörsaal zitiert<br />

werden: Das Motto zu "Schädelbasislektion"<br />

als Balanceakt am Ende:<br />

"Was du bist steht am Rand<br />

Anatomischer Tafeln.<br />

Dem Skelett an der Wand<br />

Was von Seele zu schwafeln<br />

Liegt gerad so verquer<br />

Wie im Rachen der Zeit<br />

(Kleinhirn hin, Stammhirn her)<br />

Diese Scheiß Sterblichkeit."<br />

dieser Fragen können Archäologen nicht<br />

mehr beantworten, weil Jahrhunderte und<br />

Jahrtausende die Spuren der Vergangenheit<br />

im Boden ausgelöscht haben oder undeutlich<br />

werden ließen. Fast möchte man zweifeln,<br />

ob es je gelingen werde, jahrhunderteoder<br />

gar jahrtausendealte Kulturspuren des<br />

vorgeschichtlichen Menschen im Boden wiederzuerkennen.<br />

Durch die epochemachende Entdeckung<br />

Wilhelm Conrad Röntgens wandelte sich<br />

auch das Feld der vorgeschichtlichen Archäologie<br />

tiefgreifend. Die Röntgentechnik<br />

bescherte der Archäologie umfassende Einblicke<br />

in vor- und frühgeschichtliche Bodenschichten<br />

und Fundzusammenhänge, die bis<br />

dahin noch nicht erkannt und wissenschaftlich<br />

untersucht werden konnten. Eine Sternstunde<br />

der modernen Archäologie war gekommen!<br />

Die neue Technik fand weniger Anwen-<br />

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