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Unser tägliches Brot - Kirchenbezirk Geislingen

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Baumrinde und Sägespänen wurde <strong>Brot</strong> gebacken. Der<br />

Altenstädter Lehrer Melchior Lamparter schrieb, neben<br />

allerhand Kräutern und Wurzeln habe man auch<br />

Schnecken gegessen, so dass man zuletzt Krankheit oder<br />

gar den Hungertod befürchtete, wenn der Allmächtige<br />

nicht bald durch eine gute Ernte half.<br />

Die Regierung hielt es zunächst nicht für nötig, angesichts<br />

des entsetzlichen Übels Maßnahmen zur Linderung der<br />

Hungersnot einzuleiten. Im Juni 1816, als sich die<br />

Missernte abzeichnete, erwiderte König Friedrich I. von<br />

Württemberg: „Wir zweifeln nicht, dass bei der herannahenden<br />

Ernte die Besorgnisse wegen eines später<br />

eintretenden Mangels nach und nach von selber wieder<br />

verschwinden werden.“ Die Antwort erregte Aufsehen<br />

im ganzen Land. Das Geschäft der Kornwucherer blühte;<br />

die Nachbarstaaten Bayern und Österreich hatten längst<br />

Ausfuhrsperren verhängt.<br />

Hilfe in Not<br />

Sein Sohn und Nachfolger, Wilhelm I., und dessen junge<br />

Gemahlin Katharina hatten dagegen offene Augen und<br />

Ohren für die Not der Bevölkerung. Schon wenige Tage<br />

nach seiner Thronbesteigung erhöhte er die Ausfuhrzölle<br />

für Getreide, hob die Einfuhrzölle auf, verbot den Getreideverkauf<br />

ins „Ausland“, d. h. in die benachbarten deutschen<br />

Staaten, und verbot den Händlern den Getreideeinkauf<br />

in Privathäusern und Mühlen. Zugleich bemühte er<br />

sich, Getreide einzuführen, vor allem aus Russland, der<br />

Heimat der Königin. Doch dieses Getreide konnten sich<br />

zu diesem Zeitpunkt nur noch die Wohlhabenden leisten;<br />

die Armen litten weiterhin Not. In <strong>Geislingen</strong> wurde am<br />

3. Mai 1817 zum ersten Mal <strong>Brot</strong> aus russischem Getreide<br />

unter polizeilicher Aufsicht im Spital ausgeteilt. Jeder Bürger<br />

erhielt je nach Größe und Bedürftigkeit seiner Familie<br />

zweimal in der Woche zwei bis vier Pfund <strong>Brot</strong>.<br />

Im Januar 1817 schlug der König vor, Speiseanstalten zu<br />

gründen. Die Armen und Bedürftigen sollten dort eine<br />

warme Mahlzeit bekommen, oftmals nachdem sie sich<br />

vorher durch Arbeit beim Wegebau oder in der Forstwirtschaft<br />

ihr Essen verdient hatten. In <strong>Geislingen</strong> wurde<br />

darauf von der Stadtverwaltung eine Suppenanstalt<br />

eingerichtet, in der täglich 200 Portionen unentgeltlich<br />

ausgegeben wurden.<br />

Der König regte außerdem an, Wohltätigkeitsvereine einzurichten.<br />

Überall sollten Beschäftigungsanstalten entstehen,<br />

um den vielen Arbeitslosen, die sich bettelnd im<br />

Land herumtrieben, Chancen zu bieten, durch eigene<br />

Arbeit ihr <strong>Brot</strong> zu verdienen. In Altenstadt wurde ein Verein<br />

gegründet, der wöchentliche Sammlungen veranstaltete,<br />

um die Notleidenden mit Geld und Nahrung (<strong>Brot</strong>,<br />

Mehl) zu unterstützen.<br />

Im Oberamt <strong>Geislingen</strong> wurde ein „Arbeitsinstitut“ zur<br />

Beschäftigung der Arbeitslosen eingerichtet. Die Stadt ließ<br />

die Straßen und Wege auf ihre Kosten instandsetzen, um<br />

den Armen Unterhalt in dieser enormen Teuerung zu verschaffen.<br />

Hergestellt wurden die Straßen nach Amstetten,<br />

Eybach, Weiler, Türkheim und Überkingen. Beschäftigt<br />

waren Männer und Frauen. Ein Mann erhielt 30, eine Frau<br />

20 Kreuzer als Tagelohn.<br />

Einbringung des ersten Erntewagens in der Geislinger<br />

Hauptstraße nach zwei Teuerungsjahren am 23. Juli 1817.<br />

Glocken läuten zur ersten Ernte<br />

Die Witterung zeigte sich im Frühjahr 1817 genauso traurig,<br />

wie sie das ganze Jahr 1816 über war. Bis Ende April<br />

regnete es fast täglich. Im Mai fiel ein beispielloses<br />

Unwetter ein, das große Überschwemmungen verursachte<br />

und einer wahren Sintflut glich. An mehreren Stellen<br />

rutschten die Hänge der Albberge, vor allem zwischen<br />

Überkingen und Hausen. Doch damit hörte auch schlagartig<br />

die nasskalte Witterung auf. Die Bevölkerung konnte<br />

aufatmen. Die Feldfrüchte wuchsen jetzt prächtig heran<br />

und gerieten gut. In <strong>Geislingen</strong> konnte am 23. Juli der<br />

erste Wagen mit Wintergerste eingeführt werden. Es mag<br />

eine herzerhebende Feierlichkeit gewesen sein, als der<br />

Fruchtwagen nachmittags um 14 Uhr vor dem Stadttor<br />

ankam. Dort wurde er, prächtig mit Blumenkränzen<br />

geschmückt, von der Schuljugend empfangen. Als der<br />

Erntewagen in die Stadt einfuhr, läuteten alle Glocken,<br />

und die Schuljugend sang unter den Klängen der Musikkapelle<br />

das Lied „Die Ernt’ ist da, es winkt der Halm dem<br />

Schnitter in das Feld; laut schalle unser Freudenpsalm<br />

dem großen Herrn der Welt!“ So ging der festliche Zug<br />

bis vor das Alte Rathaus, wo die ganze Bürgerschaft<br />

versammelt war, und wohl selten stimmte eine Menge<br />

mit solcher Inbrunst in den mächtigen Choral ein „Nun<br />

danket alle Gott“.<br />

Karlheinz Bauer war<br />

Stadtoberarchivrat<br />

und Leiter des<br />

Geislinger Kulturamtes<br />

von 1965 bis 1977<br />

Aquarell von Jacob Früholz<br />

Nach heutigen Erkenntnissen ist das „Jahr ohne Sommer“ 1816<br />

und die folgende Hungersnot von 1816/17 auf den Ausbruch<br />

des Vulkans Tambora/Indonesien im Jahr 1815 zurückzuführen.<br />

Feinste Bestandteile (Aerosole) seines Auswurfmaterials<br />

verteilten sich rund um die Erdkugel und bewirkten<br />

globale Klimaveränderungen in Nordamerika und Europa.<br />

EVANG. KIRCHENBEZIRKSZEITUNG<br />

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