ROTWILDES 6 - Schweizer Jäger
ROTWILDES 6 - Schweizer Jäger
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Jagdgeschichten<br />
JAGDFIEBER<br />
Da stand ich nun und zitterte<br />
am ganzen Körper wie<br />
ein Schlosshund. Es schüttelte<br />
mich derart, dass ich im<br />
wahrsten Sinne des Wortes<br />
glaubte, keinen Fuss mehr auf<br />
den Boden zu kriegen. Kennen<br />
Sie dieses Gefühl? Dagegen<br />
gibt es kein Medikament,<br />
da hilft weder Tamiflu noch<br />
eine Schutzmaske und von<br />
keinem Arzt würde man deswegen<br />
für arbeitsunfähig erklärt<br />
werden. Höchstens für<br />
eingeschränkt zurechnungsfähig,<br />
aber das wäre dann eine<br />
andere Geschichte. Nur wer<br />
diesen Zustand schon erlebt<br />
hat, der weiss, wovon die Rede<br />
ist. Das Jagdfieber hatte mich<br />
gepackt. Eben war ich noch<br />
«kerngesund» und marschierte<br />
etwas verträumt und wenig<br />
aufmerksam auf dem Waldweg<br />
nach Hause und schon befand<br />
ich mich mitten in einem meiner<br />
aufregendsten Jagderlebnisse,<br />
die ich bis heute erleben<br />
durfte. Was hatte sich zugetragen?<br />
Um neun Uhr wollte ich<br />
mich mit meinem Bruder auf<br />
dem Dorfplatz beim Brunnen<br />
in Compatsch treffen. Es war<br />
also Zeit, die morgendliche<br />
Pirsch abzubrechen und sich<br />
auf den Rückweg zu machen.<br />
Die Sonne stand schon hinter<br />
den sich langsam gelblich verfärbenden<br />
Lärchen des Samnauntals<br />
und allerlei Insekten<br />
schwirrten durch die kühle<br />
Morgenluft. Es sollte ein wundervoller<br />
Herbsttag werden.<br />
Keine Wolke war am Himmel<br />
auszumachen und die kalte<br />
Nacht musste endgültig weichen.<br />
Schon auf dem Hinweg<br />
hatte ich unter dem Forstweg<br />
eine Rehgeiss mit zwei Kitzen<br />
gesehen. Die mutmasslich alleinerziehende<br />
Dame beäugte<br />
mich zwar etwas argwöhnisch,<br />
beschloss dann aber, mir nicht<br />
jene Aufmerksamkeit zu Teil<br />
werden zu lassen, die ich meines<br />
Erachtens eigentlich verdient<br />
hätte. Frauen halt, dachte<br />
ich mir und ging meines<br />
Weges. Die beiden Kitze, die<br />
bereits das Winterfell trugen,<br />
38 <strong>Schweizer</strong> <strong>Jäger</strong> 9/2009<br />
nahmen überhaupt keine Notiz<br />
von mir und ästen friedlich<br />
das mit morgendlichem Tau<br />
benetzte Grün, das sich zwischen<br />
den Bäumen einen Platz<br />
an der Sonne zu ergattern versuchte.<br />
Nun, wie gesagt, ich befand<br />
mich auf dem Rückweg und<br />
kam wieder an der Stelle vorbei,<br />
wo ich vor gut zwei Stunden<br />
die alte Dame mit ihrer<br />
Kinderstube sah. Etwas neugierig,<br />
ob sich die Drei immer<br />
noch an der selben Stelle aufhielten,<br />
pirschte ich langsam<br />
und so leise wie möglich den<br />
Weg entlang. In der Ferne hörte<br />
ich die Glocken des Kirchturms<br />
viertel vor Neun schlagen.<br />
Nach wenigen Schritten<br />
sah ich zwischen den Bäumen<br />
ein Kitz und gleich daneben<br />
die Geiss. Beide ästen unbekümmert<br />
und hatten mich wohl<br />
noch nicht bemerkt. Die Sonne<br />
schien nun schon gut eine halbe<br />
Stunde auf die «Platten»,<br />
sodass sich die Luft schon ein<br />
wenig erwärmte und der Wind<br />
nach oben stieg. Günstige Verhältnisse<br />
also, mindestens was<br />
den Wind anging. So setzte ich<br />
einen Fuss vor den anderen,<br />
bis ich schräg über den beiden<br />
Rehen auf dem Weg stand. Ich<br />
verharrte einen Augenblick<br />
und sog die friedliche Morgenstimmung<br />
regelrecht in mich<br />
hinein, als plötzlich links von<br />
den beiden Rehen ein drittes<br />
Stück Rehwild auf einer kleinen<br />
Lichtung erschien. Zuerst<br />
dachte ich, es würde sich dabei<br />
um das zweite Kitz handeln,<br />
doch dann schoss mir durch<br />
den Kopf, dass die Rehkitze<br />
ja schon das Winterfell trugen<br />
Aquarell: Mario Prinz, Samnaun<br />
und das Reh dort unten noch<br />
ziemlich rot war. Also nahm<br />
ich mein Fernglas und wollte<br />
der Sache auf den Grund gehen.<br />
Was ich da zu sehen bekam,<br />
liess meinen Atem stocken.<br />
Da stand ein Bock, und<br />
was für einer. Hohe wuchtige<br />
Stangen, stark im Wildbret,<br />
das musste der Bock sein, von<br />
dem ich schon des öfteren hörte,<br />
den ich aber bis zu diesem<br />
Moment noch nie gesehen hatte.<br />
Der Gedanke war noch gar<br />
nicht zu Ende gedacht, da zerriss<br />
ein Schuss schon die morgendliche<br />
Stille. Wer hatte da<br />
geschossen, mögen Sie sich<br />
jetzt fragen. Um es vorweg zu<br />
nehmen: ich war es. Nur wie<br />
es soweit kam, kann ich heute<br />
nicht mehr mit Sicherheit<br />
sagen. Zwischen Ansprechen<br />
und Schiessen lagen lediglich<br />
Bruchteile von Sekunden. Wie<br />
und wann ich meine Ruger im<br />
Kaliber 10.3x60R entsicherte,<br />
ist mir heute noch schleierhaft.<br />
Da stand ich nun und zitterte<br />
am ganzen Körper wie<br />
ein Schlosshund. Es schüttelte<br />
mich derart, dass ich im<br />
wahrsten Sinne des Wortes<br />
glaubte, keinen Fuss mehr auf<br />
den Boden zu kriegen. Aber<br />
das sagte ich schon, ich weiss.<br />
Als ich mich wieder etwas gefasst<br />
hatte, versuchte ich mich<br />
in aller Ruhe daran zu erinnern,<br />
wo der Bock stand, als<br />
ich ihm den Schuss antrug. Er<br />
stand schräg links etwa 60 Meter<br />
relativ steil unter mir. Ich<br />
meinte gesehen zu haben, dass<br />
er im Schuss deutlich gezeichnet<br />
hatte. Aber hatte ich ihn<br />
in dieser Aufregung tatsächlich<br />
gut getroffen? Hatte ich<br />
überhaupt auf den Bock geschossen,<br />
oder hätte es nicht<br />
sein können, dass in der Zeit,<br />
in welcher ich das Fernglas<br />
durch die Büchse tauschte, das<br />
zweite Kitz, oder noch schlimmer,<br />
die führende Geiss an der<br />
Stelle des Bockes stand? Noch<br />
immer schüttelte es mich und<br />
wenn mich jemand in diesem<br />
Zustand auf dem Weg gesehen<br />
hätte, dann wäre mir sein Mitleid<br />
bestimmt gewiss gewesen.<br />
Während vom nahe gelegenen<br />
Dorf die Glocken des<br />
Kirchturms neun Uhr schlugen,<br />
wich das Jagdfieber langsam<br />
aber sicher aus meinem<br />
Körper und eine gewisse Unsicherheit<br />
machte sich breit.<br />
Den Anschuss konnte ich<br />
von hier oben einsehen, aber<br />
der Bock lag dort nicht. Was<br />
sollte ich jetzt tun? Sollte ich<br />
auf den Anschuss gehen, oder<br />
lieber noch ein wenig zuwarten?<br />
Ich entschloss mich, meine<br />
Position und den Anschuss<br />
zu markieren und dann meinen<br />
Bruder Mario zu holen.<br />
Immerhin hatte er schon einige<br />
Jagderfahrungen gemacht<br />
und ich war mir sicher,<br />
dass er mir in meinem fieberhaften<br />
Zustand eine Hilfe<br />
sein würde. Zudem würde<br />
mir etwas «Auslauf» in meiner<br />
Verfassung bestimmt gut<br />
tun. Ich machte mich also auf<br />
den Weg ins Dorf. Ich zwang<br />
mich langsam zu laufen, aber<br />
es half nichts. Die Aufregung<br />
in mir trieb mich an und so<br />
wähnte ich mich schon bald in<br />
Siebenmeilenstiefeln und lief<br />
mit zittrigen Beinen und grossen<br />
Schritten Richtung Compatsch.<br />
Auf halbem Weg kam<br />
mir mein Bruder schon entgegen.<br />
Er hatte den Schuss gehört,<br />
und sich wohl gedacht,<br />
er müsse bei seinem kleinen<br />
Bruder nach dem Rechten<br />
sehen. Auf dem Weg zum<br />
Anschuss schilderte ich ihm,<br />
was sich zugetragen hatte.<br />
In der Zwischenzeit war es<br />
viertel nach Neun. Ich führte<br />
also meinen Bruder zum Anschuss<br />
und wir suchten diesen<br />
nach Schweiss ab, doch finden<br />
konnten wir nichts. Dass ich<br />
das Tier verfehlt haben sollte,