Ausrüstung 44 <strong>Schweizer</strong> <strong>Jäger</strong> 9/2009 FLINTEN mit GESCHICHTE Teil I: Holland & Hollands «Paradox» Nach beinahe 100 Jahren produziert Holland & Holland die «Paradox» wieder. Tiger und Löwen haben nichts zu befürchten. Russel Wilkin, der technische Direktor von Holland & Holland und Vater der wiedererweckten «Paradox», hat die übermässig zunehmenden Hirsch-Populationen in Amerika und die Wildschweinrotten in Europa im Visier. Markus-Urs Felder testete die Paradox auf den H&H Shooting Grounds in Northwood.
Von Markus-Urs Felder Für den <strong>Jäger</strong> wurde alles etwas komplizierter, als es Mitte des 17. Jahrhunderts üblich wurde, spiralige Züge in den Lauf eines Gewehres einzuarbeiten. Ein Gewehr für Kugel und Schrot reichte nicht mehr aus. Ärgerlich, wenn der büchsenbewehrte Topfjäger weit und breit kein Schalenwild erblickt, aber den prächtigsten Fasanen begegnet und tags darauf, mit der Flinte unterwegs, dem lange nachgestellten Kronenhirsch gegenübersteht. Findige Büchsenmacher nahmen sich dem verständlichen Wunsch, jederzeit für alle Gelegenheiten gerüstet zu sein, an. Drillinge, Vierlinge und andere Linge entstanden – vor allem in deutschen Meisterwerkstätten. Wunderbare Waffen, technische Pretiosen, die aber oft Wünsche in Bezug auf Gewicht, Führigkeit, Handhabung oder Feuerkraft offen liessen. Wie wäre es mit einer leichten, handlichen Doppelbüchse, die Schrot wie die beste Flinte verdaut oder einer 3,2 Kilogramm schweren, gut balancierten Flinte, die bis mindestens 100 Meter grosskalibrige Projektile mit der Präzision einer guten Doppelbüchse ins Ziel bringt? Unmöglich? Es schien so, bis der ehemalige Oberstleutnant George Vincent Fosbery sein Patent Nr. 7568, mit Datum vom 20. Juni 1885, der Firma Holland & Holland vorlegte. Henry Holland erkannte die kommerziellen Möglichkeiten dieses «Dual-Systems» sofort: Wunderbar zu gebrauchen in den Kolonien des Empire, Indien, Südafrika und in allen wild- und artenreichen Revieren – bei Tiger und Schnepfe, kapitalem Keiler und Eichelhäher. Fosberys Idee: Patent Nr. 7568 vom 20. Juni 1885 Fosberys Konzept war bestechend einfach: Man versehe einen Flintenlauf mit gezogenem Chokebereich! Die letzten fünf Zentimeter des Laufes vor der Mündung weisen sieben tiefe Züge auf. Diese «Würgebohrung» Ein Mann seiner Zeit … George Vincent Fosbery war die Verkörperung eines Helden des Britischen Empire. Geboren am 11. April 1832 und in Eton erzogen, trat er 1852 als Freiwilliger in den Dienst des 4. Bengal-Regiments Ihrer Majestät. Als 31-jähriger Leutnant wurde ihm das «Victoria Cross», damals die höchste Auszeichnung für ausserordentliche Tapferkeit vor dem Feind, verliehen. Bei der Wiedereroberung des Forts Crag Piquet an der Nordwestgrenze Indiens führte er eine kleine Schar von Schützen an, ausgerüstet mit Enfield-Gewehren und geladen mit Patronen, die er selbst entwickelt hatte. Die London Gazette schrieb am 7. Juli 1865. «…Über 60 Mann waren beim Versuch, die Stellung zurückzuerobern, bereits gefallen. Leutnant Fosbery meldete sich freiwillig und führte eine Gruppe den Hügel hinauf . Der Zugang zum Fort war durch Felsen versperrt, so dass nur immer zwei Mann zugleich vorrücken konnten. Mit grosser Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit erreichte er als erster den Durchgang, trieb den Feind mit den ihm folgenden Männern aus den Stellungen in die Flucht und eroberte so die strategisch wichtige Position zurück.» 1877 trat er aus der Armee aus, um sich fortan den unterschiedlichsten Experimenten mit Feuerwaffen zu widmen. Er starb am 8. Mai 1907 in Bath, England. Fosberys «Victoria Cross» übrigens, über Generationen in Familienbesitz, wurde vor kurzem an einen unbekannten amerikanischen Privatmann für 45 000 Dollar versteigert … Patentskizze Nr. 7568 (oberes Bild): Die «gezogeneWürgebohrung» mit Übergangs- konus, sieben Feldern und sieben Zügen und die prak- tische Umsetzung (unteres Bild). (Photo mit freundlicher Genehmigung von Holland & Holland) verengt den Lauf um etwa einen Millimeter. Ein Bleigeschoss wird beim Durchgang durch den «Kanal» leicht in die Züge gedrückt, in Rotation versetzt und verlässt den Lauf wie ein stabilisiertes Büchsenprojektil, akkurat bis etwa 150 Meter. Der übrige Laufbereich entspricht einem glatten Flintenlauf. Der gezogene Bereich wirkt, bei Verwendung von Schrot, wie ein Viertel- Choke der besten Flinte. Das ist alles! Paradox, nicht wahr? Zugegeben, die Idee, glatte Läufe an bestimmten Stellen mit Zügen und Feldern zu versehen, war nichts Neues. Bereits Joe Manton experimentierte um 1820 in diese Richtung. James Purdey schlug im Patent Nr. 2952 vom 3. September 1870 vor, ein George Vincent Fosbery V.C., Erfinder der «Paradox» etwa 10 Zentimeter langes, mit Zügen und Feldern versehenes Rohr unmittelbar hinter der Mündung eines glatten Laufes einzufügen und war damit der Lösung schon recht nahe. Doch Purdeys Konzept war wohl der Zeit etwas voraus und blieb in den Schubladen liegen. Mit der Entwicklung und Perfektionierung der Würgebohrung Mitte der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war der Weg für Neues gebahnt – und Fosbery nutzte die Chance! Er experimentierte monatelang mit verschiedenen Kalibern, Projektilformen und -gewichten, unterschiedlichen Pulverladungen und -sorten auf verschiedenste Distanzen. Der Oberstleutnant a.D. war ein praktischer Mann und ein gewiefter Techniker. Zu guter Letzt liegen Konzepte und Berechnungen für Gewehre vor, welche in den Kalibern 8, 10, 12 und 16 exzellente Schussbilder mit Schrot liefern sowie eine Kugel auf 100 oder 150 Meter Entfernung mit guter Präzision ins Ziel bringen. Der Weg zurück – die «neue Paradox» Leider gingen Fosberys Aufzeichnungen, wie auch die Werkzeuge und Maschinen zur Fertigung, in den Wirren des zweiten Weltkriegs verloren. Vorhanden waren einige Paradox-Gewehre aus der Zeit und Bemerkungen über Läufe und Choke-Dimensionen in den Bestellbüchern der Holland-Archive. So wurde denn eine Reihe von geeigneten «Paradox» im Kaliber 12 mit Herstelldatum von 1890 <strong>Schweizer</strong> <strong>Jäger</strong> 9/2009 45 Ausrüstung