Rojava Report
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ich habe auch zuerst das emotionale wieder beiseite<br />
geschoben und reichlich überlegt, was ich will und ob<br />
ich überhaupt weg kann. Ich habe mit den Genossen und<br />
Genossinnen diskutiert. Niemand wollte, dass ich gehe.<br />
Niemand hat gesagt, «hurra, super, du bist der Held».<br />
Das Thema war auch, wie weit wir unser Land verlassen<br />
sollen und die politische Arbeit, die wir dort führen,<br />
ein Stück weit ruhen lassen sollen, um uns dann hier<br />
einzubringen.<br />
Schlussendlich war der Gedanke auf jeden Fall<br />
nochmals ganz deutlich aufzuzeigen, dass die Kämpfe<br />
zusammenhängen, auch wenn wir natürlich mit<br />
unterschiedlichen Mitteln kämpfen. In Deutschland<br />
gehen wir auf die Strasse, organisieren Demonstrationen<br />
und hier lernen wir schiessen und das ist unterschiedlich.<br />
Seit wann bist du hier?<br />
Seit dem Spätsommer 2015, also zweieinhalb Monate.<br />
Kannst du schon eine vorläufige Bilanz ziehen?<br />
Hier ist nichts so, wie ich‘s mir in Deutschland<br />
vorgestellt habe. Ich hatte ein ganz, ganz anderes Bild<br />
und in grossen Teilen, wenn man nicht direkt an der<br />
Front ist oder hinter der Front, sieht das Leben <strong>Rojava</strong><br />
ganz normal aus. Was auffällt sind die Checkpoints der<br />
Asaisch, der Polizei und es ist ganz anders und auch das<br />
Leben im Tabûr, die Ausbildung. Ich habe gedacht, die<br />
Ausbildung ist viel härter, es gäbe bedeutend mehr Sport,<br />
die Anforderungen seien höher, es sei strenger, doch das<br />
ist nicht der Fall. Es ist vielmehr ein bisschen zu liberal,<br />
die Disziplin wird zu wenig durchgesetzt denke ich, aber<br />
um jetzt ein wirkliches Fazit zu ziehen ist es zu früh.<br />
Ich bin hergekommen und zu lernen, um Erfahrungen<br />
zu sammeln und ich lerne auch, aber nicht so, wie ich es<br />
gedacht hätte.<br />
Ich kann mir vorstellen, dass, wenn du zurück bist,<br />
du dann auch zusammen mit den Genossinnen und<br />
Genossen eine Bilanz ziehen kannst und sicher auch<br />
verallgemeinern kannst, was die Lehren sind, die wir<br />
für die Revolution oder den revolutionären Prozess in<br />
Europa ziehen können.<br />
Ich denke, dass wenn ich wieder zurück bin in<br />
Deutschland, dass ich dann vor allem mit den Genossinnen<br />
und Genossen rede. Dann kann ich zum Beispiel meine<br />
Eindrücke schildern und alles nach und nach erzählen<br />
und dadurch nochmal alles mehr oder weniger in Ruhe<br />
reflektieren und auch ausführlich auf Fragen antworten,<br />
wo ich mir dann auch deutlich die Sachen nochmal ein<br />
Stück weit ins Gedächtnis rufe und nochmal überlege.<br />
Ich glaube mit einem bisschen Abstand ist es auch<br />
viel besser, wirklich ein Fazit zu ziehen und wie die<br />
Erfahrungen ein Stück weit auszuwerten.<br />
Was wir hier zum Beispiel haben, oder was vor allem<br />
ich jetzt gerade habe, ist sehr viel freie Zeit. Wenn die<br />
Ausbildung abgeschlossen ist und jetzt bin ich von der<br />
Front zurück, dann habe ich eigentlich direkt nichts zu<br />
tun. Ich muss mich den ganzen Tag selber beschäftigen<br />
und habe einfach ganz, ganz viel Zeit zum Nachdenken.<br />
Während ich in Deutschland immer mehr oder weniger<br />
in so einem Trott drin war. Ich lebte zwischen Aufstehen,<br />
arbeiten, nach Hause kommen, Essen, vielleicht Sport<br />
machen und dann die politische Arbeit und so erledigen.<br />
Selten ist eigentlich wirkliche Zeit da, um einfach in<br />
Ruhe nachzudenken. Auch wenn man nachdenkt, wenn<br />
man reflektiert, wenn man irgendwelche theoretischen<br />
Diskussionen führt, man ist immer unter einem gewissen<br />
Zeitdruck, immer damit verbunden, dass es ein Ergebnis<br />
haben muss, möglichst schnell, sonst sitzt man tagelang<br />
über irgendwelchen Texten und am Ende ist man nicht<br />
weiter.<br />
Hier ist das alles alles gar nicht der Fall. Hier hat man<br />
einfach Zeit und hier muss man auch nicht zu Ergebnissen<br />
kommen, sondern man kann einfach nachdenken und<br />
reflektieren, gar nicht mit dem Anspruch hier jetzt sofort<br />
ein Ergebnis zu haben, wo man was niederschreiben<br />
kann und weiter diskutieren kann. Ich glaube da nehme<br />
36