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hinnerk Bremen August 2018

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MUSIK<br />

Sharon Kovacs aus Eindhoven ist mit ihrer kräftig-sinnlichen<br />

Soulstimme der neue Star des europäischen Pop.<br />

Auf ihrem zweiten Album „Cheap Smell“ geizt die 28-Jährige<br />

nicht mit ihren großen und traurigen Gefühlen.<br />

Und sie begeistert nicht nur mit grandioser Offenheit, sondern<br />

auch mit großen Liedern.<br />

Das Fell ist weg. Die zottelige Kunstpelzmütze<br />

in Langhaarwolfsoptik, ohne<br />

die Sharon Kovacs jahrelang nicht aus<br />

dem Haus und schon gar nicht auf<br />

die Bühne ging, liegt nun zu Hause in<br />

Eindhoven unterm Bett. „Ich brauche<br />

die Fellmütze nicht mehr“, sagt Kovacs<br />

beim Treffen im Plattenfirmenbüro am<br />

Hackeschen Markt in Berlin. „Sie ist wie<br />

ein Spielzeug, mit dem ich nicht mehr<br />

spiele.“ Der Grund für die Nacktheit<br />

auf dem Haupt – Kovacs trägt das Haar<br />

seit elf Jahren raspelkurz, rasiert es<br />

dreimal die Woche – ist ein erfreulicher:<br />

„Ich konnte hinter der Mütze immer ein<br />

Stück weit im Verborgenen bleiben. Das<br />

muss ich jetzt nicht mehr. Ein wenig<br />

schüchtern bin ich immer noch, aber<br />

ich bin längst nicht mehr so unsicher<br />

wie am Anfang. Ich will mich nicht mehr<br />

verstecken.“<br />

Nicht weniger deutlich als auf dem<br />

Kopf zeigt sich Kovacs’ neu gewonnene<br />

Offenheit auf ihrem zweiten Album<br />

„Cheap Smell“. Das erscheint drei Jahre<br />

nach dem Debüt „Shades of Black“, mit<br />

dem Kovacs nicht nur in ihrer niederländischen<br />

Heimat, sondern in weiten<br />

Teilen Europas für Furore sorgte. Das<br />

von Metal-Fachmann Oscar Holleman<br />

(Within Temptation) produzierte Werk<br />

war voller dunkler Popsongs wie „My<br />

Love“, als schwermütige Soul-Pop-<br />

Lady mit Rock- und Blues-Einflüssen<br />

fand Kovacs ein Plätzchen irgendwo<br />

zwischen Amy Winehouse, Lana del<br />

Rey und Billie Holiday. Aber Produzent<br />

Holleman verließ sie und nahm die<br />

Band mit, was Sharon vorübergehend in<br />

tiefe Verzweiflung stürzte. Außerdem<br />

lebt man in drei Jahren so einiges an<br />

Leben, erst recht, wenn man das Drama<br />

so ein bisschen aufsaugt, wie Kovacs<br />

es tut. Also „fühlt sich ‚Cheap Smell‘ für<br />

mich wie ein brandneuer Start an. Ich<br />

habe als Mensch manches durchgemacht<br />

und mich verändert. Außerdem<br />

hätte ich die erste Platte nicht einfach<br />

reproduzieren wollen.“<br />

Mit ihrem neuen Co-Produzenten<br />

Liam Howe (bekannt unter anderem<br />

durch seine Arbeit für Marina And The<br />

Diamonds) hat die stimmgewaltige<br />

ehemalige Studentin des Rock City<br />

Institute in Eindhoven eine saustarke<br />

Platte gemacht, die musikalisch vielschichtiger<br />

ist: „Freakshow“ ist eine Art<br />

Flamenco-Ballade, „Adickted“ erinnert<br />

an den trotzigen Selbstbehauptungssoul<br />

einer Mary J. Blige, das leichtfüßige<br />

„Midnight Medicine“ an Madonnas „La<br />

Isla Bonita“. Und auch die Songinhalte<br />

sind jetzt nicht mehr ausschließlich<br />

düsterer Natur. „It’s The Weekend“ zum<br />

Beispiel ist sicher die unbeschwerteste<br />

Nummer, die Kovacs je gesungen<br />

hat. „Diesen Song habe ich in zwanzig<br />

Minuten geschrieben. Es geht einfach<br />

darum, am Freitagabend ein bisschen<br />

Gras zu rauchen und auszugehen. Das<br />

Lied ist oberflächlich und macht Spaß,<br />

aber das muss auch manchmal sein.“<br />

Oberflächlichkeit ist ansonsten nicht<br />

Sharons Ding. Ihre Lieder sind so ehrlich<br />

und persönlich, dass es schmerzt.<br />

Die Frau, die als Kind gern auf Bäume<br />

kletterte, lieber mit Jungs als mit<br />

Mädchen spielte und androgyne Ikonen<br />

wie Grace Jones, Benjamin Clementine<br />

und David Bowie zu ihren großen<br />

künstlerischen Vorbildern zählt, wuchs<br />

ohne Vater auf, wurde von der Mutter<br />

ins Kinderheim abgeschoben und<br />

drohte in der Jugend zu versumpfen.<br />

„Ich war teilweise sehr unglücklich und<br />

orientierungslos“, sagt sie. Dass Kovacs<br />

zuletzt einige Jahre an ihrem Freund<br />

festhielt, der das Kokain mehr liebte<br />

als sie, war ebenfalls hart und ein wenig<br />

demütigend. Gleich fünf Songs von<br />

„Cheap Smell“ arbeiten diese toxische<br />

Beziehung auf. „Ich bin in den vergangenen<br />

drei Jahren zu vielen Therapiesitzungen<br />

gegangen, das hat mir<br />

geholfen. Ich habe insgesamt weniger<br />

Ängste als früher und sehe die Zukunft<br />

optimistischer.“ Was aber geblieben sei,<br />

ist ihre Furcht vor Zurückweisung: „Als<br />

meine Mutter mich mit elf ins Heim<br />

steckte, hat mich das für alle Zeiten<br />

beschädigt.“ Immerhin, zu der Mutter<br />

habe Sharon heute ein brauchbares<br />

Verhältnis („it’s okay“), und auch den<br />

Vater hat sie vor einiger Zeit kennengelernt.<br />

„Mama & Papa“ ist der großartige<br />

Gospel-Soul-Pop-Song, der nach dieser<br />

denkwürdigen Begegnung entstand.<br />

„Mein Dad lebt in Deutschland und ist<br />

ein extrem religiöser Evangelist. Er wollte<br />

mir den Teufel austreiben. Da bin ich<br />

gegangen. Er muss mich so akzeptieren,<br />

wie ich bin. Vorher will ich ihn nicht<br />

wiedersehen.“ *Steffen Rüth

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