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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 2<br />

2. Bildsprache<br />

Digitale Geschichten werden immer über Fotos erzählt. Ähnlich<br />

wie bei der Betrachtung eines Fotoalbums mit Freunden<br />

oder Familienmitgliedern kann die Erzählung dabei viele<br />

verschiedene Formen annehmen: Sie kann in Worte fassen,<br />

was auf dem Bild zu sehen ist, Informationen über Zeit, Ort,<br />

Anlass und Personen liefern oder aber sich auch sehr weit<br />

vom Sichtbaren entfernen und von Gedanken, Gefühlen<br />

oder Erinnerungen sprechen, die mit dem, was das Auge<br />

sieht, nur lose verknüpft sind.<br />

Auf diese Weise kommen persönliche Lebensgeschichte und<br />

objektives Zeitgeschehen zusammen. Fotos - auch persönliche,<br />

intime, familiäre – bewahren immer Geschichte auf;<br />

kommen die „Geschichten“ der erzählenden Person dazu,<br />

kann das Publikum die Verschränkung von privat und geschichtlich-öffentlich<br />

besonders gut nachvollziehen. Es kann<br />

deutlich werden, wie privates Erleben mit geschichtlich-politischen<br />

Zusammenhängen verknüpft ist und umgekehrt.<br />

Das mag nicht selbstverständlich sein, schließlich handelt es<br />

sich ja bei unseren privaten Fotos nicht um offizielle Bildwerke,<br />

die mit einer bestimmten (dokumentarischen) Absicht<br />

entstehen. Oft machen wir solche Bilder ganz nebenbei, aus<br />

der Situation heraus. Um zu verstehen, wie die gesellschaftlichen<br />

Umstände ins Bild kommen, müssen wir uns anschauen,<br />

was ein Foto überhaupt ist und wie es funktioniert. Was<br />

unterscheidet ein Foto von einem gemalten Bild oder einer<br />

schriftlich festgehaltenen Erinnerung?<br />

Fotos halten einen Moment in seiner Gesamtheit fest. Solche<br />

Momente bestehen aber aus viel zu vielen Einzelheiten,<br />

die ein*e Fotografin*in kaum alle kontrollieren kann, gerade<br />

dann, wenn ein Bild nebenbei im Alltag entsteht. Wie die<br />

Menschen vor der Kamera angezogen sind, wie sie gucken,<br />

welche Pose sie einnehmen, aber auch, was im Hintergrund<br />

zu sehen ist, wie Wetter, Straßen, Autos, Gebäude, lässt sich<br />

nicht bis ins Letzte planen. Es ist einfach da und gerät beim<br />

Schnappschuss vor die Linse. Während man bei einem Gemälde<br />

jedes Detail genau planen kann und bei einem Text<br />

nur ausgewählte Elemente übernimmt, erfasst die Kamera<br />

zunächst einmal unterschiedslos alles, was im Bildausschnitt<br />

gerade vorhanden ist. Ob wir wollen oder nicht, das Foto<br />

entzieht sich immer ein bisschen unserer Kontrolle. Schon<br />

damit drängt sich ungefragt eine Menge Zeitgeschichte ins<br />

Bild, auch wenn wir gar nichts dokumentieren wollen.<br />

Fotos entstehen aber auch immer aus Gewohnheiten heraus,<br />

die uns selbstverständlich erscheinen. Wenn wir Gruppenfotos<br />

machen, bitten wir größere Menschen, sich hinten<br />

aufzustellen oder sich vor die Kleineren zu hocken. Wir<br />

finden es selbstverständlich, dass alle in die Kamera schauen<br />

und lächeln – das berühmte „Cheese!“. Schaut man sich<br />

viele typische Fotosituationen im Vergleich an – also Bilder<br />

aus dem Kindergarten, aus der Schule, von Festen, aus dem<br />

Urlaub – stellt man fest, dass es allgemein gültige Posen,<br />

Gesichtsausdrücke und Personenanordnungen gibt, die<br />

Fotograf*in und fotografierte Person ganz automatisch<br />

einnehmen und einfordern, ohne sich ausdrücklich darüber<br />

zu verständigen. Wir „wissen einfach“, wie bestimmte Fotos<br />

auszusehen haben und verhalten uns entsprechend.<br />

Solche Bildkonventionen haben immer damit zu tun, welche<br />

Bedeutung die Situation in unserem Leben hat: Ist Urlaub<br />

etwas Besonderes, das man sich nur mühevoll leisten kann,<br />

oder ganz alltäglich? Muss man sich in der Schule gut benehmen<br />

und „passen“ oder sollen wir dort eher individuell<br />

und kreativ sein? Ist Weihnachten das Fest einer Großfamilie,<br />

bei dem Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse eine<br />

Rolle spielen, oder geht es vor allem um Spaß und Geschenke?<br />

Wie Fotos „richtig“ inszeniert werden, was ein „normales“,<br />

„gutes“ Bild ist, verrät uns so schon eine Menge über<br />

gesellschaftliche Umstände.<br />

So etwas ändert sich natürlich im Lauf der Zeit – und auch<br />

das kann man anhand von Fotos beobachten. Und natürlich<br />

kann man auch ganz bewusst gegen Bildkonventionen<br />

verstoßen und sich vor der Kamera so verhalten, wie es<br />

eigentlich überhaupt nicht angesagt ist. Auch das kann man<br />

aber (im Vergleich mit anderen Fotos) erkennen und auch<br />

das sagt uns dann etwas über die Normalität dieser Zeit und<br />

die Versuche, die es gab, dagegen aufzubegehren.<br />

Fotos entstehen also im Spannungsfeld zwischen Kontrollverlust<br />

– wenn wir auf den Auslöser drücken, können wir<br />

nicht 100-prozentig bestimmen, was gerade vor der Kamera<br />

los ist – und dem Versuch der Inszenierung – wir fotografieren<br />

so, wie wir es aus unserer Zeit und Prägung heraus richtig<br />

und angemessen finden, stellen uns die Leute richtig hin<br />

und sortieren am Ende die Bilder aus, die wir für ungeeignet<br />

halten. Es gibt kein Foto, das nicht wenigstens ein bisschen<br />

Platz für Zufälle hat, und kein Foto, das nicht bis zu einem<br />

gewissen Grad geplant ist.<br />

Beides ebnet der gesellschaftlichen Umwelt den Weg ins<br />

Foto. Der Zufall holt auch die Elemente unserer Umwelt ins<br />

Bild, an die wir nicht gedacht haben und die wir vielleicht<br />

lieber gar nicht im Bild hätten; die Planung zeigt unsere<br />

Auseinandersetzung mit gesellschaftlich geformten<br />

Vorstellungen von guten und angemessenen Bildern, die<br />

wir befolgen oder von denen wir uns abgrenzen können.<br />

Fotos zeigen damit auf zwei Ebenen, wie unser privater<br />

Blick mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammen hängt:<br />

Durch das, was auf dem Bild zu sehen ist, und durch die<br />

Inszenierung, die sich im Bild ausdrückt, also die Art, wie<br />

Fotograf*in und Personen vor der Kamera das Bild aufbauen.<br />

Wenn wir – über ein Fotoalbum gebeugt, mit Freunden am<br />

Handy oder in einer Digitalen Geschichte – mit anderen über<br />

Bilder sprechen, fügen wir noch eine weitere Ebene hinzu.<br />

In der Fotoanalyse spricht man davon, dass „ein Blickpfad“<br />

durch das Bild gelegt wird. Erzähler*innen wählen beim<br />

Betrachten aus, sie konzentrieren sich auf das, was ihnen<br />

wichtig ist, und lassen anderes beiseite, sie thematisieren<br />

die Inszenierung oder nicht, ziehen Vergleiche mit anderen<br />

Bildern und so weiter. Das ist der individuelle Blick auf die<br />

gesellschaftlichen Zustände im Damals des Fotos aus dem<br />

Heute der Betrachter*innen. Und auch diese Auswahl,<br />

was wir interessant finden und was nicht, ist wieder durch<br />

unsere gesellschaftliche Lage beeinflusst – was wir erlebt<br />

haben (und was nicht), was man uns als gut und angemessen<br />

beigebracht hat, was uns ins Auge springt und was wir<br />

für unwichtig halten, was uns vielleicht gar nicht auffällt.<br />

Eine Digitale Geschichte ist die Neuinszenierung eines Bildes<br />

durch Sprache. In ihr denken wir laut darüber nach, wie eine<br />

vergangene Mischung aus Individuellem und Gesellschaftlichem<br />

uns heute prägt.<br />

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