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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 9<br />

9.2 „Hühnchen & Pommes auf Kuba“<br />

(Gesucht und gefunden)<br />

Dieser Film handelt von einem der wichtigsten Ereignisse<br />

im Leben eines Menschen. Die Protagonistin lernt ihren<br />

leiblichen Vater kennen. Sie selbst ist wahrscheinlich in den<br />

1980er Jahren in der DDR geboren und aufgewachsen.<br />

Ihr Vater war kubanischer Vertragsarbeiter, so die offizielle<br />

Bezeichnung für Menschen aus anderen Ländern, die in<br />

der DDR auf der Grundlage von bilateralen Staatsverträgen<br />

arbeiteten. Cynthia begibt sich als 22-jährige junge Frau nun<br />

selbst nach Kuba, um nach ihm zu suchen und ihn kennenzulernen.<br />

Es ist ein Film, der relativ nüchtern daherkommt<br />

und das, obwohl wir es hier mit einem „kritischen Lebensereignis“<br />

(siehe auch Kapitel 4.1) zu tun haben, das einen<br />

basalen Punkt unseres Lebens darstellt: unsere Eltern, unsere<br />

Herkunft. Wir alle möchten wissen, wer sind die Menschen,<br />

die uns ins Leben geschickt haben. Und auch, wenn wir<br />

nicht mit ihnen zusammen aufwachsen durften, wollen wir<br />

sie sehen, kennenlernen, mit ihnen sprechen, um unsere<br />

eigene Identität einzuordnen. Zumal dann, wenn deren<br />

kulturelle und/oder regionale Herkunft zu unserer dominierenden<br />

Lebensumwelt differiert. Wir haben es hier also mit<br />

einem brisanten Ereignis zu tun und doch sind die gesprochene<br />

Stimme, die Konstruktion des Textes an sich und schon<br />

allein der Titel „Hühnchen & Pommes auf Kuba“ zunächst<br />

vordergründig wenig emotional. Wie bedeutend jedoch für<br />

die Protagonistin dieses Ereignis war und ist, zeigen ihre<br />

Wahl, diese – doch so intime – Geschichte zu erzählen und<br />

damit sichtbar zu machen, aber auch das Zusammenspiel<br />

von Erzählung und visueller Gestaltung.<br />

Es ist eine sehr künstlerische Erzählung, die sich in ihrer<br />

Chronologie beim ersten Hören und Sehen nicht sofort<br />

erschließt. Zeiten und Logik der Geschichte sind radikal<br />

verschoben. Die sie illustrierenden Fotografien erscheinen<br />

zunächst wahllos gewählt übereinander gelegt. Doch beim<br />

näheren Hinsehen erschließen sich sowohl deren Logik also<br />

auch die Geschichten, die mit den Bildern parallel ergänzend<br />

erzählt werden. Die Erzählung beginnt mit der Lokalisierung<br />

der zu erzählenden Geschichte - „Kuba, Havanna,<br />

Studentenwohnheim“ - und zeigt parallel die Geburtsurkunde<br />

der Protagonistin, auf der schräg gelegt eine Schwarz-<br />

Weiß-Fotografie mit drei Männern zu sehen ist, einer davon<br />

ihr Vater. Diese Fotografie ist sehr wahrscheinlich in der DDR<br />

entstanden und möglicherweise ebenfalls vor beziehungsweise<br />

auf dem Balkon eines Wohnheimes.<br />

Parallel zur Erzählung des telefonischen Erstkontaktes mit<br />

ihrer kubanischen Familie werden weitere Fotografien aus der<br />

DDR gezeigt, auf denen erst ihr Vater in einer Gruppe von<br />

anderen Männern (im Hintergrund das Treptower Ehrenmal<br />

in Berlin), ihr Vater allein vor einem Lada, dann ihr Vater<br />

und ihre Mutter vor dem Brandenburger Tor zu sehen sind.<br />

Die emotionale Schrecksekunde, die eintritt, wenn wir bei<br />

einem wichtigen Anruf auf die Stimme der Angerufenen<br />

warten, symbolisiert Cynthia durch ein schwarzes Bild. Dann<br />

meldet sich eine Frauenstimme, und wir sehen parallel<br />

ihre Mutter und ihren Vater als ein fotografiertes Paar. Das<br />

Telefongespräch wird durch die Protagonisten beendet –<br />

schwarzes Bild.<br />

Nun beginnt die Erzählung einer weiteren Szene, in der sie<br />

das erste Mal ihren Vater als einen sozialen Vater erlebt: er<br />

und ihre Cousine unterstützen sie bei einem Bewerbungsgespräch,<br />

das der Protagonistin ermöglichen soll, in basalen<br />

Lebensdingen (Unterkunft, Geld) abgesichert in Kuba länger<br />

bleiben zu können. Diese Szene bebildert Cynthia unter<br />

anderem mit zwei Bildern, auf denen ihre Eltern mit ihr<br />

als Baby wahrscheinlich nach der Geburt das Krankenhaus<br />

verlassen – also ganz frisch „gebackene“ Eltern sind. Interessant<br />

ist die Anordnung dieser Fotografien: Zunächst sehen<br />

wir das Baby auf dem Arm seiner Mutter, der Vater steht<br />

dicht daneben, das Köpfchen ist an seine Schulter geschmiegt.<br />

Die Mutter schaut glücklich in die Kamera, der Vater<br />

weiß noch nicht genau, wie er schauen soll. (Ein Freund<br />

oder Verwandter steht ironischerweise mit einem Dackel auf<br />

dem Arm und ohne sonstigen Bezugspunkt neben dieser<br />

neuen Familie.) Dann kommt ein paar Sekunden schwarzes<br />

Bild, und danach sehen wir eine weitere Aufnahme aus<br />

dieser Situation, die eine andere Konstellation abbildet: Der<br />

Vater hält nun das Baby in den Armen und schaut es intensiv<br />

an, die Mutter schaut leicht skeptisch in die Kamera.<br />

Die jungen Eltern sind nun allein auf diesem Bild – es gibt<br />

keinen ironischen Kommentar. Cynthia spricht weiter über<br />

diese Szene im Bewerbungsgespräch, in der ihr Vater das<br />

erste Mal ihr sozialer Vater ist. Sie fühlt sich beschützt<br />

(„Löwenverhalten“) und gleichzeitig beschämt, da sie an<br />

sich ja schon dem Schutz der Eltern entwachsen ist (sie ist<br />

zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt). Und nun sehen wir eine<br />

fotografische Szene aus ihrer Kindheit: sie selbst als Kleinkind<br />

in einer Nahaufnahme mit einem weiteren Kleinkind<br />

– vielleicht einem Geschwister. Diese Aufnahme stammt<br />

möglicherweise aus dem Kindergarten, sie ist mit Sicherheit<br />

eine professionelle (Atelier)-Fotografie. Ein starkes Beschützerverhalten<br />

schreibt sie auch ihrer Mutter zu – hier stellt sie<br />

Gemeinsamkeiten her und zeigt gleichzeitig dieses Bild aus<br />

ihrer Kleinkindzeit. Vielleicht hätte sie sich beide Eltern als<br />

soziale Eltern in ihrer Kindheit gewünscht?<br />

Nun kommen wir erzählerisch wieder zurück zu dem<br />

Geschehen auf Kuba und ab jetzt sehen wir Fotografien<br />

aus dem kubanischen Familienkontext. Interessanterweise<br />

sind dies alles Farbfotografien. Es ist anzunehmen, dass die<br />

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