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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 9<br />

Protagonistin diese von ihrem Vater oder der kubanischen<br />

Familie erhalten hat. Die Familie wird hier sichtbar: eventuell<br />

ein Bruder zusammen mit dem Vater, möglicherweise<br />

die Großmutter – eine ältere ehrwürdige Dame auf einem<br />

prachtvoll verzierten Stuhl sitzend.<br />

Das letzte Bild des Films und auch der letzte Satz des Films<br />

überraschen. Das Bild zeigt wahrscheinlich den Vater (der<br />

Kopf ist nicht sichtbar, sondern nur der Körper) mit einem<br />

Motorrad, wahrscheinlich seinem Fahrzeug auf Kuba. Dieses<br />

erscheint gerade frisch gesäubert, glänzt, sieht aus wie neu,<br />

es funkelt den*die Betrachter*in geradezu an Dieses Fahrzeug<br />

dominiert die Aufnahme, zumal die ebenfalls abgebildete<br />

Person nicht „vollständig“ ist. Warum dieses Fahrzeug?<br />

Beim näheren Hinsehen wird der Bezug zur Geschichte<br />

dieses Films jedoch klar, denn es handelt sich um eine MZ –<br />

einem Motorrad made in GDR. Damit schließt sich der Kreis<br />

zum Beginn des Films, in dem wir die Spuren des Vaters in<br />

der DDR sahen. Wir kommen also wieder zur DDR und im<br />

letzten gesprochenen Satz der Filmemacherin ganz zu ihr<br />

selbst zurück. Denn der Satz, der sie von der Anspannung<br />

vor der ersten Begegnung mit dem Vater nach ihren Worten<br />

„erlöst“, ist die höflich formulierte Frage des Vaters „Sind<br />

Sie Cynthia Zimmermann?“. Diese Frage, der Mensch, der<br />

sie stellt, die Situation der Begegnung verweisen sie auf<br />

ihre Identität, ihre Herkunft – ja, sie ist Cynthia Zimmermann<br />

und ja, das hat für den Fragenden eine unauflösliche<br />

Bedeutung.<br />

Auf welche sozialen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe<br />

verweist diese Geschichte jenseits des anthropologischen<br />

Grundbedürfnisses nach der Kenntnis der eigenen<br />

Herkunft, der eigenen Geschichte? Es gäbe viele Deutungsmöglichkeiten.<br />

In diesem Fall jedoch gibt die Protagonistin<br />

selbst die Antworten. Ihre kubanisch-DDR-deutsche<br />

-Herkunft und wahrscheinlich deren Deutungen von außen<br />

erschweren ihr eine eindeutige Verortung in Kultur oder<br />

Nation – bis in das Jetzt hinein (So äußert sie sich in der im<br />

Nachgang erfolgten Befragung zum Workshop). Dieses Hinund-Her-Gerissensein<br />

verbunden mit einem Bedürfnis nach<br />

eindeutiger Zugehörigkeit ist ein ständiger Schmerz. Das<br />

Kennenlernen ihres Vaters und ihrer kubanischen Familie,<br />

des Ortes Kuba lindert jedoch diesen Schmerz – sie bieten<br />

für Cynthia einen Ort der Zugehörigkeit.<br />

9.3 „B. - Dämonenaustreibung“<br />

Die Geschichte, die wir hier kennenlernen dürfen, ist die<br />

eines so genannten kritischen Lebensereignisses mit weitreichenden<br />

Folgen für den Protagonisten. B. muss mit 15<br />

Jahren (er erinnert und nennt sogar das exakte Datum) in<br />

eine andere Stadt ziehen, sich komplett neu orientieren, vor<br />

allem in der neuen peergroup. Für ihn hat dieser Wechsel<br />

weitreichende Folgen. Er integrierte sich in einen neuen<br />

Freundeskreis, dessen Mitglieder gesellschaftliche Normen<br />

übertreten. In diesem Milieu gab es exzessive Gewalt.<br />

Gleichzeitig wurde aus dem „jung(en)“, „dynamisch(en)“,<br />

„sportlich(en)“ B., einem Jungen mit „guten Schulperspektiven“,<br />

in seiner Selbstbeschreibung ein Mensch mit den gegenteiligen<br />

Attributen. B. kann sich letztlich diesem Milieu<br />

entziehen und dieser Film berichtet von diesem Erfolg, aber<br />

auch von dem Weg dorthin.<br />

Die im Film präsentierten Fotografien stammen vermutlich<br />

aus aus der Zeit dieser Lebensepisode, manche wurden<br />

eventuell im Rahmen des Workshops nachgestellt. B. vergegenwärtigt<br />

sich damit noch einmal diese Phase, stellt sich ihr<br />

und das ist spürbar nicht leicht für ihn. Hörbar fällt es ihm<br />

schwer, überhaupt mit der Erzählung dieses Lebensabschnittes<br />

zu beginnen – im Erzählfluss gibt es eine Pause, dann<br />

ein hörbares tiefes Ein- und Ausatmen und ein Zögern,<br />

die nunmehr folgenden Worte auszusprechen. Es kostet<br />

ihn Überwindung, doch er tut es und die von ihm im Film<br />

präsentierten Bilder belegen diesen Mut in beeindruckender<br />

Weise. Zum einen zeigt B. ohne Scheu Bilder aus dieser Zeit,<br />

die unter anderem illustrieren, welche Haltung er damals<br />

der Welt gegenüber hatte: geballte Fäuste mit erhobenem<br />

Mittelfinger. Zum anderen sind diese Aufnahmen jedoch<br />

immer wieder mit Porträtaufnahmen kontrastiert, auf denen<br />

der Protagonist ernst und offen in die Kamera schaut.<br />

Hier erwidert er den Blick der Zuschauenden, er hält ihm<br />

stand – er stellt sich damit seiner Geschichte. Und dass diese<br />

Geschichte wahrscheinlich existenziell war, zeigt eine fotografische<br />

Szene, in der sein Gesicht unscharf in der linken<br />

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