07.08.2018 Aufrufe

Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 9<br />

Bildhälfte platziert ist und im scharfgestellten Hintergrund<br />

das Warnschild „Hochspannung Lebensgefahr“ sichtbar und<br />

lesbar wird.<br />

Der peergroup, seinen Freunden, mit denen er in dieser Zeit<br />

Kontakt hatte, stellt B. sich auch. Diese Bindungen waren<br />

für B. offensichtlich von großer Bedeutung. Umso traumatischer<br />

sicherlich die Erfahrung, dass die engste dieser Beziehungen<br />

im Alltag nicht fortgesetzt werden konnte, da sein<br />

bester Freund in Haft kam. Das Bild, das diesen Abschnitt<br />

der Erzählung begleitet, zeigt uns einen Aspekt dieser<br />

Beziehung. Dominiert wird die Aufnahme von einem jungen<br />

Mann im Bildvordergrund, B. selbst steht schrägt hinter ihm,<br />

stützt sich auf seine rechte Schulter und schaut leicht zu ihm<br />

auf (Anmerkung der Redaktion; dieses Bild wurde im Rahmen<br />

des Workshops nachgestellt. Die Person auf dem Foto<br />

ist nicht identisch mit der Person in der Erzählung). Diese<br />

Aufnahme versinnbildlicht B.‘s eigene lebensgeschichtliche<br />

Erklärung für seine Faszination für diese neue Lebenswelt:<br />

Der neue Freundeskreis hat ihn in diese andere Welt mit<br />

hineingezogen. Die neuen anderen Freunde waren dabei<br />

der treibende Part, B. konnte sich ihrem Sog und dem Sog<br />

dieses Milieus nicht entziehen. Er konnte sich anlehnen, aufstützen,<br />

musste jedoch gleichzeitig auch folgen, mitmachen.<br />

Das wird im nächsten „Freundschaftsbild“ noch einmal<br />

anders deutlich. Zwei Freunde (er und ein anderer junger<br />

Mann) präsentieren sich in ähnlicher Körperhaltung: die<br />

Körper leicht schräg zur Seite geneigt, mit der linken Hand<br />

in ähnlicher Weise den Mittelfinger, den „Stinkefinger“,<br />

zeigend. Dieses Bild zeigt in seiner Präsenz von jugendkulturellen<br />

Zeichen, hier gibt es eine Verbindung, das gemeinsame<br />

Teilen einer Einstellung: der Verachtung und Abwehr<br />

des Außens; nicht nur durch die erhobenen aggressiven<br />

Mittelfinger, sondern auch durch die getragene Kleidung,<br />

wie dem „pit bull“ –T-Shirt. Beides sind Symbole für Aggression,<br />

aber auch für die Behauptung des Eigenen. Denn<br />

in der Abwertung des Außen/des Anderen kann das Innere/<br />

das Eigene aufgewertet und bekräftigt werden, zumal in<br />

Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen, die ähnlich empfinden,<br />

denken und handeln. Es ist eine Jugendkultur, die<br />

sich auf diesen Bildern ausdrückt und sich durch sie gleichzeitig<br />

konstituiert. Eine Jugendkultur, die in B‘s´ Erzählung,<br />

die Werte und Normen der Erwachsenenwelt attackiert. Für<br />

B. konnte sie nicht zum dauerhaften Identitätsort werden,<br />

obwohl der Sog für ihn sicherlich sehr stark war. In seiner<br />

Geschichte bietet er zwei Erklärungen dafür an. Einerseits<br />

erlebte er die Konsequenzen und damit auch Zerstörung<br />

dieser Form jugendkulturellen Lebens innerhalb seiner<br />

peergroup (Haft, Abschiebung), andererseits hatte und hat<br />

er starke familiäre Bindungen, die ihn damals unterstützten<br />

und bis heute tragen.<br />

Diese Abkehr vom Milieu und seinen Werten und Normen,<br />

die Abkehr und Abwehr von starker Faszination und<br />

Identifikation mit einem jugendkulturellen Milieu wird für B.<br />

zur „Wende“, eine, die er „geschafft“ hat. Im Film werden<br />

an diesem Punkt der Erzählung immer noch die erhobenen<br />

Mittelfinger (das Freundschaftsbild mit „Stinkefingern“)<br />

gezeigt, doch dann wechselt der Film wieder zu B. selbst.<br />

Wir sehen eine der ausdrucksvollen Porträtaufnahmen, auf<br />

denen er intensiv zurückschaut, sich der Welt und ihrem Urteil<br />

stellt, und nun beginnt er seine Botschaft, seinen Appell<br />

an alle Anderen, die in einer ähnlichen Situation sind oder<br />

dazu tendieren, in eine solche Situation zu geraten. Dieser<br />

bildliche Übergang analog zur erzählten Geschichte bezeugt<br />

noch einmal die Rekapitulation der eigenen Faszination<br />

und emotionalen Bindung an peergroup und Milieu durch<br />

den Protagonisten, der B. nun die einer Rückbesinnung auf<br />

das Selbst, die eigenen Wünsche und Eigenverantwortung<br />

gegenüberstellt. Diesen erfolgreichen Schritt, so schwer er<br />

auch fiel, diese eigene Erfahrung möchte B. mit diesem Film<br />

als Warnung und Anstoß in die Welt tragen.<br />

In den Sequenzen, die diese Abkehr thematisieren und sich<br />

in die Zukunft orientieren, wird die Erzählstimme spürbar<br />

entspannter, flüssiger und der Film schlussendlich mit einem<br />

Schuss Ironie gewürzt, wenn B. uns den Rücken zuwendet,<br />

das Victory-Zeichen macht, die Aufschrift seines T-Shirts „Exorcise<br />

the Demons“ sichtbar wird und er dazu spricht „Ich<br />

kann euch nur raten, hört auf eure Eltern!“<br />

Gleichwohl stellt diese Schlusssequenz keineswegs die<br />

Schwere und Ernsthaftigkeit der Erzählung und ihrer Visualisierung<br />

in Frage. Zumal die melancholische und warme<br />

Musik, mit der der Film unterlegt ist, bis zuletzt hörbar ist.<br />

Das letzte Bild symbolisiert vielmehr das Ende einer Reise,<br />

die im Auto begann (siehe das erste Bild des Films) und<br />

nunmehr mit beiden Füßen fest auf der Erde stehend, das<br />

Gesicht dem Himmel zugewandt, endet. Zwar ist dieser<br />

Himmel bedeckt, aufgewühlt durch Wolken, es ist kein<br />

klarer Himmel, jedoch bringen er und die gepflasterte Fläche<br />

vor B., eine neue Dimension in den Film: Weite, Offenheit,<br />

Bewegung. Es ist das einzige Bild, auf dem der Himmel<br />

überhaupt zu sehen ist und dieses Bild zeigt: Es geht weiter,<br />

ich habe einen festen Stand im Leben, ich schaue nunmehr<br />

in eine andere Richtung, diesem Teil meines Lebens kann ich<br />

den Rücken zukehren.<br />

Dieser Film ist ein eindrucksvolles Zeugnis über den Einfluss<br />

jugendkultureller Milieus auf Lebenswelt und Lebenswege<br />

junger Menschen. Gleichzeitig zeigt er jedoch auch, wie<br />

Jugendliche zu Akteuren ihrer eigenen Geschichte werden.<br />

Ein tragendes familiäres Umfeld kann sie dabei unterstützen<br />

– für B. wurde es zum emotionalen Bezugspunkt und zum<br />

Korrektiv.<br />

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