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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 9<br />

umgehen. Auch die Themen Sexualität und gender werden<br />

einigen Filmen aufgegriffen. Hierbei geht es vor allem um<br />

sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentität. Gerade<br />

bei diesen Filmen wird die Interaktion von Selbst- und Weltbezug<br />

besonders deutlich, denn in einer heterodominanten<br />

Gesellschaft werden sowohl sexuelle als auch geschlechtliche<br />

Identitäten prekär. Die Filme begegnen dieser Dominanz<br />

auf unterschiedliche Art und Weise: mal normalisieren sie<br />

implizit („Freundschaften [Gleich und Gleich gesellt sich<br />

gern?]“), mal zeigen sie offensive Strategien und Ressourcen<br />

auf („Spielkind“).<br />

Die Filme, die Freundschaften thematisieren, verweisen auf<br />

die enorme Bedeutung von peergroups und Freundschaften<br />

mit Gleichaltrigen für Heranwachsende. Auch hier zeigen<br />

sich Bezüge zur gesellschaftlichen Situation, denn wie<br />

noch nie zuvor hat sich „(…) die Bedeutung informeller<br />

Gleichaltrigengruppen für Jugendliche erhöht, das Spektrum<br />

freizeitbezogener Öffentlichkeiten ausgeweitet und<br />

die Wahlmöglichkeiten für kulturelle Lebensstile enorm<br />

vergrößert.“ (Krüger 2007, S. 372) Gleichwohl funktioniert<br />

Familie nach wie vor als ein Orientierungspunkt, als eine<br />

originäre Bindung, die gegebenenfalls als Korrektiv und Halt<br />

fungieren kann („Exorcise The Demons“), die aber auch<br />

zur schmerzvollen Herausforderung auf einem Lebensweg<br />

werden kann („Mein Grund“).<br />

Die Filme sind aber nicht nur Selbstzeugnisse, sie sind auch<br />

Produkte der Selbstbehauptung und sie bezeugen Selbstwirksamkeit.<br />

„<strong>Capture</strong> <strong>your</strong> <strong>life</strong>“ zeigt sich nicht nur in<br />

der Eroberung von selbstbestimmter Darstellung kritischer<br />

Ereignisse und Lebensthemen und deren narrativ-visuellen<br />

Präsentation. Die im Nachgang geführten Interviews mit<br />

einigen Filmemacher*innen bestätigen und erweitern die<br />

Einschätzung der Filme hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeit<br />

für die Schöpfer*innen. Im Prozess der Konstruktion einer<br />

Erzählung, der Auswahl von und des Umgangs mit ausgewählten<br />

Erinnerungsstücken, der visuellen Bekräftigung<br />

und Kommentierung der Erzählungen werden verschiedene<br />

Formen der Selbstreflexion, Bewältigungsstrategien, Vergegenwärtigungen<br />

junger Menschen sichtbar.<br />

J. setzt sich in seinem Film „Mein Kind, mein Bubi“ anhand<br />

eigener Kindheitsfotografien mit seiner Kindheit<br />

auseinander und kann so eine produktive Distanz schaffen:<br />

„Die Geschichte ist jetzt ein Äußerliches, auf das ich mit<br />

mehr Abstand schauen kann.“ (Interview mit J.). K. („Mein<br />

Grund“) berichtet, wie er im Zuge der Videoproduktion wieder<br />

Kontakt zu seinem Vater herstellen und pflegen konnte,<br />

obwohl durchaus ambivalente Erinnerungen und Gefühle<br />

durch seine Videoproduktion ausgelöst wurden: „(…) Ich<br />

war erst wieder ziemlich wütend auf meinen Vater und<br />

insbesondere dessen Freundin, gleichzeitig aber habe ich ihn<br />

auch wieder vermisst. Inzwischen besteht zwischen mir und<br />

ihm wieder regelmäßiger Kontakt, sozusagen direkt nach<br />

dem Video habe ich ihn wieder aufgenommen.“ (Interview<br />

mit K.) D.s Film „Für Dich Mama“ ist eine Liebeserklärung<br />

an die verstorbene Mutter, gleichzeitig ist er ein Abschied<br />

von ihr und ein Beitrag zur Klärung der eigenen Gefühle<br />

und damit verbundenen Handlungen: „Ich habe gemerkt,<br />

dass ich nicht nur traurig bin, sondern auch wütend über<br />

das, was mir passiert ist. Und über das, was mir passiert.<br />

Ich habe einen anderen Blick auf mein Alkoholtrinken.“<br />

(Interview mit D.)<br />

Für mich sind die Filme zwar auch „Geschichten, die andere<br />

hören, die andere sehen sollten“ (so in einer Ankündigung<br />

zum Workshop). Sie enthalten Botschaften und Appelle an<br />

die Zuschauenden und vielfältige Bezüge zu gesellschaftlichen<br />

Konstellationen und Bedingungen- jedoch eher<br />

implizit. Sie bieten die Chance, jugendliche Lebenswelten<br />

auf eine besondere Art kennenzulernen, Vielfalt zu erfahren,<br />

Perspektiven zu verändern, verborgene Lebenswelten<br />

sichtbar zu machen. Sie sind eine Möglichkeit, den verschiedenen<br />

Lebensentwürfen und Identitätsbildungsprozessen<br />

der Macher*innen Raum zu geben.<br />

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind sie beeindruckende<br />

Quellen für die Analyse jugendlicher Lebenswelten.<br />

Gleichwohl erweisen sich die Produktionsprozesse in den<br />

Workshops selbst für die Teilnehmenden als Chance für eine<br />

konstruktive Verarbeitung persönlicher Herausforderungen<br />

oder wie ein Teilnehmer formuliert: „(…) Denn trotz allem<br />

Bitteren und Traurigen sind wir als Menschen dazu in der<br />

Lage, mit unseren Geschichten aufrecht da zustehen und<br />

uns auszudrücken.“ (Interview mit J.)<br />

Im Folgenden werden drei Filme näher vorgestellt und in<br />

ihren Aussagen als Selbstzeugnisse jugendlicher Lebenswelten<br />

interpretiert. Analysiert und interpretiert wurden jeweils<br />

die Erzählungen, die verwendeten visuellen Zeugnisse und<br />

schließlich die Verschränkung und das Zusammenspiel von<br />

beidem. Gearbeitet wurde mit Methoden der qualitativen<br />

Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010), der Film-Strukturanalyse<br />

(vgl. Ehrenspeck/Lenzen 2003) und der seriell-ikonografischen<br />

Fotoanalyse (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2005).1<br />

Literatur<br />

– Ehrenspeck, Yvonne/Dieter Lenzen: Sozialwissenschaftliche<br />

Filmanalyse – ein Werkstattbericht. In: Ehrenspeck,<br />

Yvonne/Burkard Schäffer (Hrsg.): Film- und Fotoanalysen<br />

in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen<br />

2003. S. 439-450.<br />

– Häder, Sonja: Der Bildungsgang des Subjekts: Thema –<br />

Kontext, Quellen – Methode – Theorie. In: Zeitschrift für<br />

Pädagogik. 48. Beiheft. 2004. S. 7-27.<br />

– Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen<br />

und Techniken. Weinheim 2010.<br />

– Pilarczyk, Ulrike/Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Die<br />

seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und<br />

Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn 2005.<br />

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