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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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Kapitel 1<br />

1. Von der Geschichte zum Digital Storytelling<br />

Wirft man einen Blick auf die Menschheitsgeschichte, auf<br />

unterschiedliche Epochen und Kulturen, so stellt man schnell<br />

fest, dass die Tradition des Geschichtenerzählens zu jeder<br />

Zeit an jedem Ort bekannt war. Auch beim Digital Storytelling<br />

(DST), also bei der Verknüpfung des traditionellen Geschichtenerzählens<br />

mit multimedialer Technik, steht die Geschichte<br />

selbst und nicht etwa die technische Umsetzung im Vordergrund.<br />

Bevor also geklärt werden kann, was eine digitale<br />

Geschichte ist und wie die Methode des Digital Storytellings<br />

in der Jugend(verbands)arbeit genutzt werden kann, ist es<br />

notwendig, sich zunächst dem Begriff der „Geschichte“<br />

selbst zu nähern. Der Duden definiert eine Geschichte als<br />

„eine schriftliche oder mündliche Schilderung eines tatsächlichen<br />

oder erdachten Geschehens, Ereignisses etc.“. Hierunter<br />

fallen demnach also Romane, Novellen und Kurzgeschichten,<br />

Mythen und Märchen, aber auch autobiographische<br />

Texte und Alltagserzählungen. Unabhängig von Gattung,<br />

Genre und Stil erkennen wir eine Geschichte meistens sofort,<br />

wenn wir sie hören, lesen oder sehen. Es muss also bestimmte<br />

Merkmale geben, die dieses Erkennen möglich machen.<br />

Welche sind das? Oder: Was macht eine Geschichte zu einer<br />

Geschichte?<br />

1.1 Was ist eine Geschichte?<br />

Joseph Campell (amerikanischer Mythenforscher, 1904-<br />

1987) untersuchte in den 30er und 40er Jahren Sagen und<br />

religiöse Mythen aus verschiedenen Kulturen und Epochen.<br />

Dabei stellte er bezüglich Ablauf und Struktur viele Gemeinsamkeiten<br />

fest und entwickelte auf dieser Basis das Konzept<br />

einer universellen Heldengeschichte (Monomythos):<br />

Der Held wird durch ein Ereignis aus seinem Alltag gerissen.<br />

Das Ereignis ist so tiefgreifend, dass er sich entschließt, dem<br />

„Ruf des Abenteuers“ zu folgen und sich auf den Weg zu<br />

machen. Unterwegs muss der Held Hindernisse überwinden,<br />

Probleme lösen und Rückschläge hinnehmen. Am Ende<br />

seines Weges findet dann meistens eine entscheidende Prüfung<br />

statt: Hier kommt es zur Konfrontation und schließlich<br />

zur Überwindung des Gegners. Anschließend kehrt der Held<br />

dahin zurück, wo er hergekommen ist, aber – und das ist<br />

das zentrale Element - er ist nicht mehr der selbe wie vorher.<br />

Die Reise hat ihn verändert. Heldenreisen finden demzufolge<br />

also nicht nur auf einer physisch sondern vor allem auch auf<br />

einer psychischen Ebene statt (Transformation).<br />

Tipp: Gute Geschichten sind Heldengeschichten.<br />

Für die Arbeit mit der Methode des Digital Storytellings<br />

ist es gut, die Grundstruktur einer Heldenreise<br />

stets im Hinterkopf zu haben. Geschichten, also auch<br />

Alltagsgeschichten, werden zumeist erst dann zu guten<br />

Geschichten, wenn möglichst viele Elemente<br />

einer Heldenreise in ihr auftauchen. Es empfiehlt sich<br />

also, die Geschichten der Teilnehmer*innen darauf<br />

hin zu prüfen und gegebenenfalls Hilfestellung zu<br />

geben. (Siehe auch Kapitel 8.2 )<br />

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich von dem Begriff<br />

des Helden nicht verwirren zu lassen. Ein Held muss nicht<br />

zwangsläufig jemand sein, der „Heldenhaftes“ vollbracht<br />

hat – also zum Beispiel Leben gerettet oder den Ozean in<br />

einem Ruderboot überquert hat. Ein Held im Sinne einer<br />

Dramaturgie ist vielmehr ein ganz „normaler“ Mensch, der<br />

das Publikum emotional in Verbindung mit dem Thema<br />

bringt. Ein Held kann also zum Beispiel auch ein Kind sein,<br />

das Fahrradfahren lernt, ein Vater, der ein Faschingskostüm<br />

für seine Tochter näht, oder eine Oma, die mit ihrem Enkel<br />

einen Drachen baut. Der Held dient dem Publikum als Zugang<br />

zur Geschichte.<br />

1.2 Warum erzählen wir Geschichten<br />

Was eine Geschichte zu einer Geschichte macht, ist nun<br />

also geklärt. Was bleibt ist die Frage, warum wir überhaupt<br />

Geschichten erzählen beziehungsweise warum wir so gerne<br />

Geschichten hören – also die Frage nach der Funktion von<br />

Geschichten.<br />

Geschichten dienten schon immer der Wissensvermittlung.<br />

Sie waren lange Zeit das wichtigste Medium zur Weitergabe<br />

von kulturellen und religiösen Werten, Normen und Traditionen.<br />

Neben diesen eher gesellschaftlichen Funktionen hat<br />

das Geschichtenerzählen aber auch für den Einzelnen eine<br />

ganze Reihe von Funktionen, die auch für die Arbeit mit der<br />

Methode des Digital Storytellings von entscheidender Bedeutung<br />

sind. Der amerikanische Psychologe John McLeod<br />

hat diese Funktionen wie folgt zusammengefasst:<br />

„A story communicates:<br />

1. An expression of subjectivity, intentionality and identity –<br />

‚this is who I am‘.<br />

2. An expression of relationship – ‚this is the story I choose<br />

to tell to you‘.<br />

3.Data about the teller‘s understanding of his/her social<br />

world: ‚this is what I would expect, but look what happened<br />

yesterday...‘.<br />

As a form of thinking, or in more general term ‚sense-making‘,<br />

a story serves the following functions to the teller:<br />

4. Bringing order, sequence and a sense of completion to<br />

a set of experiences.<br />

5. Problem-solving, by providing a causal explanation for<br />

something that happened.<br />

6. Development of a sense of perspective, by placing a singular<br />

event into its broader context.“ (vgl. McLeod, 1997)<br />

Eine Geschichte ist also immer persönlich gefärbt und gibt<br />

deshalb zwangsläufig auch Auskunft über den Erzählenden<br />

selbst (1). Darüber hinaus werden Geschichten nicht zufällig<br />

erzählt sondern gezielt ausgesucht. Die Auswahl verrät etwas<br />

über die Beziehung, die zwischen dem*der Erzählenden<br />

und seinem*ihrem Publikum besteht (2). Außerdem erfährt<br />

man über Geschichten auch immer etwas über die soziale<br />

Welt, in der sich die erzählende Person bewegt (3). McLeod<br />

hält außerdem fest, dass das Geschichtenerzählen auch für<br />

den*die Erzählende*n wichtige Funktionen erfüllt. So kann<br />

das Erzählen zum Beispiel dabei helfen, Erfahrungen richtig<br />

einzuordnen (4), Probleme zu lösen oder besser zu verstehen<br />

(5), und schließlich können Geschichten dabei behilflich<br />

sein, bestimmte Ereignisse in einen größeren Kontext<br />

(zum Beispiel zeitgeschichtlich) einzuordnen (6). Ergänzend<br />

könnte man nach Campell hinzufügen, dass eine Geschichte<br />

(Heldenreise) immer auch vom Publikum nachempfunden<br />

und gewissermaßen miterlebt wird, und deshalb bestenfalls<br />

davon auszugehen ist, dass auch das Publikum eine Transformation<br />

durchläuft.<br />

Tipp: Geschichten haben Funktionen und wirken<br />

auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichen Ebenen.<br />

Für die Arbeit mit DST ist es wichtig, sich dieser<br />

Funktionen und Wirkungen bewusst zu sein. Für die<br />

Teilnehmenden ist der Prozess des Erzählens häufig<br />

sehr anstrengend und herausfordernd – hier ist wichtig,<br />

dass man sich stets unterstützend, aufgeschlossen<br />

und wertschätzend den Teilnehmenden und ihren<br />

Geschichten gegenüber verhält.<br />

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