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Thema: Bindung – Beziehung – Bildung<br />

Frauke Hildebrandt<br />

Ohne Bindung keine Bildung<br />

Beziehung im gemeinsamen Nachdenken<br />

Durch die Studien von John Bowlby und Mary Ainsworth zur Bindungstheorie 1<br />

wissen wir, dass Kinder durch vielfältige Interaktionen eine Bindung zu Erwachsenen<br />

aufbauen, also eine emotionale Beziehung, die über einen längeren Zeitraum<br />

anhält. Diese Bindung an ihre Bezugspersonen brauchen die Kinder, um<br />

aktiv und selbstbestimmt lernen zu können.<br />

Erwachsene sind für sie eine »sichere<br />

Basis«, von der aus sie mit<br />

anderen in Kontakt treten können<br />

und ihre Umwelt explorieren. Kinder,<br />

die sich auf keine sichere Basis verlassen<br />

können, sind vor allem anderen<br />

damit befasst, eine solche Basis für sich<br />

zu suchen; sie zeigen Bindungsverhalten.<br />

Das hindert sie daran, mit anderen<br />

Kindern in soziale Beziehungen zu treten<br />

und die Welt zu erforschen: »Man<br />

bezeichnet die Form des Zusammenspiels<br />

zwischen den Systemen des Bindungs-<br />

und Erkundungsverhaltens als<br />

komplementär gekoppelt. Das heißt,<br />

dass immer nur ein Verhaltensmuster,<br />

das Bindungsverhalten oder das Erkundungsverhalten,<br />

aktiviert sein kann. Ist<br />

das eine präsent, dann ruht das andere<br />

zu dieser Zeit. Dies führt zu der auch für<br />

Pädagogen und Pädagoginnen so wichtigen<br />

Erkenntnis, dass ein Kind ohne innere<br />

emotionale Stabilität seine Umwelt<br />

mit all den so spannenden Spielzeugen,<br />

Gegenständen und Individuen darin<br />

nicht oder nur sehr eingeschränkt entdecken<br />

kann. Oder anders formuliert:<br />

Bindung und Lernen benötigen das innere<br />

Gefühl der Sicherheit«. 2 Stabile<br />

Bindungen sind daher für kindliches<br />

Lernen nicht nur bedeutsam, sondern<br />

eine grundlegende Voraussetzung.<br />

Beziehung: Gefühle teilen<br />

Und es gibt noch einen anderen Aspekt,<br />

der Beziehung für das Lernen wichtig<br />

macht. Ein Beispiel: Oft muss ich Vorträge<br />

halten. Wie gut mir das gelingt,<br />

hängt von meiner Vorbereitung und<br />

meiner Stimmung ab, aber ganz besonders<br />

vom Publikum, also von den Menschen,<br />

die mich anhören und mir zuschauen.<br />

Neulich merkte ich das wieder<br />

deutlich, denn ich hatte zwei Vorträge<br />

kurz nacheinander zu halten. Beide<br />

Male ging es darum, wie kleine Kinder<br />

lernen und welche Lernumgebungen sie<br />

brauchen. Im ersten Fall war das Publikum<br />

zugewandt und interessiert, konstruktiv-kritisch<br />

und wohlwollend. Mein<br />

Vortrag wurde immer besser. Das merkte<br />

ich, während ich sprach.<br />

Beim nächsten Mal war die Stimmung<br />

schlecht. Ich spürte Desinteresse<br />

und Ablehnung, die Beziehung zwischen<br />

mir und der Zuhörerschaft funktionierte<br />

nicht. Lag es an meiner Person,<br />

meinen Aussagen? Das Erstaunliche:<br />

Meine Stimme klang plötzlich in meinen<br />

Ohren überhaupt nicht mehr überzeugend.<br />

Was hatte ich hier eigentlich<br />

zu suchen?<br />

Plötzlich benahm ich mich genau so,<br />

wie ich meinte, dass die Zuhörenden<br />

mich sahen, und bestätigte die Blicke,<br />

die auf mir ruhten. Tatsächlich änderten<br />

sich meine Überzeugungen und Gefühle<br />

unter diesen Blicken. Als ich das zum<br />

ersten Mal bewusst erlebt hatte, schien<br />

es mir, als habe da eine Zauberkraft gewirkt.<br />

Inzwischen kenne ich das Phänomen<br />

und bin etwas desensibilisiert und<br />

handhabe es professioneller. Jedenfalls<br />

lasse ich mich davon nicht mehr allzu<br />

sehr irritieren.<br />

Wie elementar wichtig die Sicht anderer<br />

Menschen auf uns und ihre Art, mit<br />

uns in Beziehung zu treten, für unser<br />

Selbstbild ist, bestätigen immer wieder<br />

empirische Forschungsergebnisse. Man<br />

könnte sogar sagen, dass der Blick der<br />

anderen auf uns – ihr Beziehungsangebot<br />

– dessen Ursprung ist.<br />

Ein Beispiel dafür ist die Affektspiegelung<br />

bei Babys in den ersten Lebensmonaten:<br />

Von Anfang an bilden wir als<br />

Bezugspersonen, wie Entwicklungspsychologen<br />

uns nennen, mit den Babys ein<br />

»affektives Kommunikationssystem«.<br />

Ab dem zweiten Lebensmonat beginnen<br />

sie, mit uns Gefühle – im wahrsten<br />

Sinne des Wortes – zu teilen, und wir<br />

tun das mit ihnen. Wir spiegeln ihnen<br />

positive und negative Emotionen durch<br />

unsere Mimik. Lächelt ein Baby, lächeln<br />

wir zurück, schaut ein Baby traurig oder<br />

ängstlich, blicken wir es so ähnlich an.<br />

Paradox daran ist, dass wir auch dann,<br />

wenn wir ein negatives Gefühl mimisch<br />

spiegeln, erfolgreich trösten und dem<br />

Baby helfen können, sein Gefühl zum<br />

Positiven zu regulieren. Das liegt daran,<br />

dass wir unser Spiegeln »markieren«,<br />

indem wir den Gefühlsausdruck<br />

übertreiben und dadurch seinen Alsob-Charakter<br />

verdeutlichen. Offenbar<br />

können die Babys das interpretieren. Sie<br />

können erkennen, dass wir ihre eigenen<br />

Gefühlszustände spiegeln; sie entkoppeln<br />

die ausgedrückten Gefühle von<br />

uns als Personen und schreiben sie sich<br />

selbst zu. Man könnte sagen: Erst dadurch,<br />

dass sie uns ansehen, fühlen sie,<br />

wie sie sich fühlen.<br />

Ein anderes Beispiel ist das soziale<br />

Rückversichern, das sich gegen Ende<br />

des ersten Lebensjahrs entwickelt:<br />

Babys, die sich in einer für sie unklaren<br />

Situation befinden – sie müssen<br />

ein Hindernis überwinden, um zur<br />

Bezugsperson zu kommen –, nutzen<br />

zur Entscheidungsfindung die emotionalen<br />

Gesichtsausdrücke, die wir als<br />

ihre Bezugspersonen zeigen. In ihrem<br />

Verhalten orientieren sie sich an den in<br />

unseren Gesichtern sichtbaren emotionalen<br />

Bewertungen von Situationen. Sie<br />

krabbeln los, wenn wir sie ermutigend<br />

anschauen, und halten inne, wenn wir<br />

ängstlich reagieren. Trauen wir ihnen<br />

zu, dass sie etwas schaffen, trauen sie es<br />

sich auch selbst zu.<br />

Lernen hat auch auf diese fundamentale<br />

Weise immer etwas mit Beziehung zu<br />

tun, mit Beziehungen zwischen Päda-<br />

GS aktuell 144 • November 2018<br />

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