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GSa144_Nov2018_181022_Web_ES

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Thema: Bindung – Beziehung – Bildung<br />

sprechen, suggeriert dies, die Betroffenen<br />

seien als einzelne Individuen –<br />

losgelöst vom sozialen und politischen<br />

Kontext – ›selbst schuld‹ an ihrer Lage.<br />

An die Stelle, an der ein Diskurs um<br />

Arbeitsbedingungen und Arbeits- bzw.<br />

Lehrergesundheit geführt werden sollte,<br />

tritt sodann ein psychologischer Diskurs<br />

um individuelle Stressbewältigungsstrategien.<br />

Diese Individualisierung und<br />

Privatisierung von Problemen verdeckt<br />

paradoxerweise die Gründe für den Anstieg<br />

an Burn-out-Diagnosen, statt sie<br />

aufzudecken. Aufgrund dessen steht der<br />

Anstieg an individualistischen Psychologisierungen<br />

und Pathologisierungen<br />

in einem engen Zusammenhang zu<br />

neoliberalen Leistungsregimen.<br />

Eine zentrale These der Inklusionspädagogik<br />

ist daher, dass es stets wichtig<br />

ist, ebenjene schulischen Rahmenbedingungen<br />

und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse<br />

im Blick zu behalten und<br />

zu fragen, wie diese die Menschen im<br />

Lernen und Arbeiten behindern (statt<br />

davon auszugehen, dass Menschen ›einfach<br />

so‹ behindert sind).<br />

In Grundschulen bedeutet dies zu<br />

fragen, ob eine zunehmende Pathologisierung<br />

von Kindern davon ablenkt,<br />

Rahmenbedingungen wie die Klassengröße,<br />

mangelnde Ressourcen, eine zu<br />

geringe Anzahl an Stunden in Doppelbesetzung<br />

(Teamteaching, zu wenig<br />

sonderpädagogische Fachkräfte, zu wenig<br />

Zeit für Kooperation etc.) zu thematisieren.<br />

Des Weiteren lenkt sie von gesamtgesellschaftlichen<br />

Problemen wie<br />

Dr. Mai-Anh Boger<br />

ist von Haus aus Sonderpädagogin und<br />

arbeitet in der AG ›Schulentwicklung<br />

und Schulforschung‹ der Universität<br />

Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte<br />

sind Theorien der Inklusion<br />

und Philosophie der Differenz.<br />

Kinderarmut, wachsender sozialer Ungleichheit<br />

und fragwürdigen Gentrifizierungsdynamiken<br />

in größeren Städten<br />

ab. Das Grundproblem der Pathologisierung<br />

besteht also darin, dass sie die<br />

zuvor genannten organisationalen und<br />

strukturellen Probleme gewissermaßen<br />

auf die Kinder abwälzt und versucht, am<br />

Individuum – also am einzelnen Kind –<br />

etwas zu ›therapieren‹, was gar nicht auf<br />

dieser Ebene entstanden ist.<br />

Da sich die guten Rahmenbedingungen<br />

für schulische Inklusion jedoch<br />

nicht so einfach herzaubern lassen und<br />

die Praxis Tag für Tag unter Handlungsdruck<br />

steht, wiederholt sich dieses<br />

Grundsatzproblem der Scheinlösung<br />

struktureller Probleme auf individueller<br />

Ebene nicht selten ohne jedwede reflexive<br />

Unterbrechung. In diesem Sinne<br />

Förderschwerpunkte in der Grundschule<br />

Abb. 2: Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Grundschule<br />

bezogen auf alle Grundschülerinnen und Grundschüler (ab 2003 ohne Niedersachsen,<br />

»da dort Aufschlüsselung nach Schularten nicht möglich« ist; KMK 2018, 12)<br />

Dr. Annette Textor<br />

ist Professorin für empirische Schulforschung<br />

an der Universität Bielefeld und<br />

wissenschaftliche Leiterin der Laborschule.<br />

Sie arbeitet schwerpunktmäßig<br />

zu den Themenbereichen Inklusion,<br />

Praxisforschung und Didaktik.<br />

ist die zunehmende Pathologisierung<br />

von Kindern ein pädagogischer Bewältigungsversuch<br />

eines nicht-pädagogischen<br />

Problems. Jedes Desaster birgt<br />

jedoch auch eine Chance.<br />

Die Chance auf eine Revitalisierung<br />

der Debatten um gute Erziehung<br />

in Grundschulen<br />

Es macht bereits einen enormen Unterschied,<br />

ob man sich der oben erläuterten<br />

Tatsache, dass es sich bei der Vermassung<br />

an Pathologisierungen um<br />

eine verzweifelte Scheinlösung handelt,<br />

bewusst ist oder nicht. Diese Tatsache<br />

nicht zu verleugnen und nicht zynisch<br />

darüber zu werden, ist der erste Schritt<br />

zur Lösung. Herrscht nämlich kein Bewusstsein<br />

darüber, dass hier strukturelle<br />

Probleme individualisiert werden,<br />

kommt es zu einem essenzialistischen<br />

Bild psychischer Störungen: Die pädagogischen<br />

Fachkräfte glauben in diesem<br />

Fall wirklich, dass dieses Kind einfach<br />

krank sei, aus sich selbst heraus defizitär<br />

in seinem Wesen, und dass dies<br />

nichts mit der Organisation von Schule<br />

und gesellschaftlichen Problemen zu tun<br />

habe. Hat man dieses Problembewusstsein<br />

jedoch erlangt, wird man den Prozess<br />

der Pathologisierung durch Einleiten<br />

eines Verfahrens zur Feststellung<br />

eines sonderpädagogischen Förderbedarfs<br />

als strategische, gar als instrumentelle<br />

Praxis verstehen. Wenn wir niemals<br />

vergessen, dass wir gerade versucht haben,<br />

ein strukturelles Problem auf individueller<br />

Ebene zu lösen, blockieren wir<br />

den Etikettierungsprozess, der dazu verführt,<br />

die so entstandene Diagnose am<br />

GS aktuell 144 • November 2018<br />

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