GSa144_Nov2018_181022_Web_ES
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Praxis: Lernen braucht Beziehung<br />
das entscheidende Seil durchzunagen,<br />
denn erst dann könnte die große Kraft<br />
des Löwen zum Einsatz kommen. So<br />
kann auch das ängstliche Kind seinen<br />
Beitrag zum Überwältigen des Einbrechers<br />
beitragen. Die Kinder erleben in<br />
einer solchen geschützten Spielstunde<br />
ein großes Maß an Selbstwirksamkeit<br />
und Stärkung ihres Selbstbewusstseins.<br />
Hasan hat in diesen Stunden gelernt,<br />
sich mit Erwachsenen auf eine neue<br />
Art auseinanderzusetzen. Hatte er die<br />
Erwachsenen bis dahin oft als übermächtig<br />
erlebt, konnte er nun, da er sich<br />
vor ihren Angriffen genügend geschützt<br />
fühlte, neue Erfahrungen der Selbstwirksamkeit<br />
machen. Besonders die<br />
Pflege und Versorgung anzunehmen,<br />
fiel ihm zu Beginn sehr schwer. Später<br />
konnte er auch immer mehr die Kraft<br />
der Gruppe bei Angriffen genießen und<br />
war nicht mehr nur Einzelkämpfer.<br />
Drittes Beispiel<br />
Nun stelle ich noch unsere Kooperation<br />
mit der Denkzeit-Gesellschaft vor. Die<br />
Denkzeit-Trainingsprogramme sind<br />
psychoanalytisch fundierte Verhaltenstrainings,<br />
denen das psychoanalytische<br />
Konzept der »Ich-Funktionen« zugrunde<br />
liegt (Denkzeit.com).<br />
Diese Funktionen (z. B. Frustrationstoleranz,<br />
Impulskontrolle, Antizipation,<br />
Empathie, Wahrnehmen der eigenen<br />
Bedürfnisse etc.) werden im Rahmen<br />
einer gelungenen Entwicklung erworben.<br />
Aber wenn hier Defizite in der<br />
Entwicklung vorliegen, sehen wir auch<br />
schon bei unseren Schülern chronifizierte<br />
Verhaltensstörungen, die kaum<br />
durch pädagogische Interventionen zu<br />
regulieren sind. Diese Kinder geraten<br />
ständig in Konflikte und schlagen – wie<br />
Hasan zum Beispiel – auch dann weiter<br />
zu, wenn der »Gegner« bereits am Boden<br />
liegt oder schon Blut fließt. Hasan<br />
beschrieb nach schweren Konflikten<br />
»Ich-Zusammenbrüche«: »Da habe ich<br />
nur noch schwarz gesehen«.<br />
Um mit einzelnen Elementen und<br />
Techniken aus dem Denkzeit- Manual<br />
mit unseren großen Grundschulkindern<br />
arbeiten zu können, mussten meine<br />
Kollegin Tania Hertling und ich<br />
zunächst das schon erfolgreich in der<br />
Anwendung befindliche Denkzeit-präventiv-Programm<br />
überarbeiten.<br />
Im Denkzeit-Training musste Hasan z. B. eigene Probleme mit dem<br />
Problemlöseprozess (hier als Baustelle dargestellt) lösen und dabei<br />
verschiedene Möglichkeiten und Hindernisse bedenken<br />
Die drei Bausteine des Programms:<br />
●●<br />
Einzeltraining (zweimal wöchentlich)<br />
in einem Schulhalbjahr, in dem die<br />
unterentwickelten Ich-Funktionen nachgereift<br />
werden; dieses Angebot ist für<br />
Kinder im Alter zwischen 10 und 12<br />
Jahren mit aggressiv-durchbrüchigem<br />
Verhalten.<br />
●●<br />
Projekttage zu den Denkzeitinhalten<br />
mit der ganzen Klasse.<br />
●●<br />
Fortbildungsveranstaltungen für die<br />
Pädagogen der Schule und des angegliederten<br />
Horts, um die theoretischen<br />
Grundlagen hinter dem Programm<br />
kennenzulernen.<br />
Hasan absolvierte das »Denkzeit-<br />
Training« bei mir als Fünftklässler, denn<br />
nach dem Autounfall war sein Verhalten<br />
erneut sehr schwierig geworden, und besonders<br />
die Attacken auf die Mitschüler<br />
wurden zu einem großen Problem.<br />
Drei Themenfelder wurden im Training<br />
bearbeitet:<br />
●●<br />
Wie gehe ich mit Problemen um und<br />
wie schätze ich soziale Situationen ein?<br />
●●<br />
Welche Gefühle nehme ich wahr?<br />
Strategien im Umgang mit Wut finden.<br />
●●<br />
Moralische Fragestellungen diskutieren<br />
– gibt es nur richtig und falsch?<br />
Zu Beginn des Trainings war Hasan<br />
nicht bereit, über seine eigenen Schwierigkeiten<br />
zu sprechen: »Wieso muss<br />
ich hierher? Die anderen haben doch<br />
auch …« Aber nach und nach gewann<br />
er im Training viele Einsichten über<br />
sich selbst und er gestand mir, dass er<br />
manchmal Angst habe, verrückt zu<br />
werden. Das Modul zum Thema Gefühle<br />
half ihm, Signale für die projektiven,<br />
narzisstischen Wutanfälle zu deuten (er<br />
spürte ein Kribbeln in den Händen).<br />
Ausgestattet mit den entsprechenden<br />
Handlungsstrategien (rechtzeitiges<br />
Weggehen aus der brenzligen Situation<br />
und sich die Rache ausmalen) gelang es<br />
ihm zunehmend, den »Ich-Zusammenbruch«<br />
und damit die Attacken auf<br />
andere Kinder zu vermeiden.<br />
Zum Abschluss möchte ich noch einmal<br />
auf den Beziehungsaspekt im Sinne<br />
Bions zu sprechen kommen, der unsere<br />
Bemühungen im Umgang mit den<br />
verhaltensschwierigen Kindern durchzieht,<br />
denn eigentlich geht es in allen<br />
dargestellten Aspekten unserer Arbeit<br />
immer um die verlässliche, nicht rächend-strafende<br />
Beziehung zwischen<br />
Kind und Erwachsenem.<br />
So hat sich in letzter Zeit auch die Methode<br />
Check in, check out – das tägliche<br />
gezielte Begrüßen und Verabschieden<br />
schwieriger Schüler – als sehr hilfreich<br />
erwiesen. Diese stabilisieren sich durch<br />
die recht simple Maßnahme erstaunlich<br />
gut im Schulalltag, in dem sie sich häufig<br />
nicht mit ihren Bedürfnissen und Kränkungen<br />
wahrgenommen fühlen. Beim<br />
»Check in, Check out« wird mit ihnen gemeinsam<br />
der Tag strukturiert, mögliche<br />
Klippen antizipiert und zum Abschluss<br />
ausgewertet. Die große Wirkung erzielt<br />
diese einfache Maßnahme vermutlich,<br />
weil sie vorausschauend wirkt und nicht<br />
strafend, selbst wenn das Kind erneut<br />
gegen Schulregeln verstoßen hat. 3<br />
Anmerkungen<br />
1) W. R. Bion (1992): Lernen durch<br />
Erfahrung, Berlin.<br />
2) A. Aichinger und W. Holl (2010):<br />
Gruppen therapie mit Kindern, Wiesbaden.<br />
3) Deanne A. Crone (2010): Responding to<br />
Problem Behavior in School, New York.<br />
24 GS aktuell 144 • November 2018