GSa144_Nov2018_181022_Web_ES
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Tagebuch<br />
Allein unter Monstern<br />
Jonas Lanig<br />
ist gelernter Gymnasiallehrer<br />
und Bundesvorsitzender<br />
der Aktion Humane Schule<br />
Als Lehrer bin ich bei Grillpartys und Geburtstagsfeiern<br />
ein begehrter Gesprächspartner. Viele meiner Freunde<br />
und Nachbarn sind durch die Horrormeldungen aus<br />
den Schulen aufgeschreckt, die derzeit unseren Nachrichtenkosmos<br />
erschüttern. In mir sehen sie so etwas wie<br />
einen Frontberichterstatter, von dem sie sich einen realistischen<br />
Blick auf die Situation in unseren Klassenzimmern<br />
erwarten. Da geht es um muslimische Schüler, die<br />
im Ramadan dem Unterricht nur noch kraftlos und unkonzentriert<br />
folgen. Oder um verhaltensauffällige Kinder,<br />
vor deren Schlägen, Tritten und Gemeinheiten niemand<br />
mehr sicher ist. Oder aber um Eltern, die ihre Kinder mit<br />
dem familieneigenen SUV zur Schule chauffieren und die<br />
für das Verkehrschaos rund um unsere Grundschulen<br />
verantwortlich sind.<br />
Zwischen Gartengrill und Bierfass transformieren die<br />
Kinder und ihre Eltern zu unberechenbaren Monstern,<br />
deren Aufgedrehtheiten wir Lehrer machtlos gegenüberstehen<br />
und deren Anspruchsdenken wir schutzlos ausgeliefert<br />
sind.<br />
Als erfahrungsgestählter Schulmann könnte ich Öl ins<br />
Feuer gießen und die vielen hässlichen Schlagzeilen mit<br />
schrillen oder abstoßenden Anekdoten aus meinem Lehreralltag<br />
unterfüttern. Das würde den Unterhaltungswert<br />
mancher Partygespräche ansteigen lassen – oder wenigstens<br />
deren Fröstelfaktor. Damit aber kann und will ich<br />
nicht dienen. Ich kann da nur beschwichtigen und den<br />
gedankenlos kolportierten Schreckensmeldungen eine<br />
differenzierte Wahrnehmung meiner pädagogischen Praxis<br />
entgegenhalten.<br />
Offensichtlich hat es sich herumgesprochen: Um die<br />
Öffentlichkeit zu beeindrucken, müssen sich die Impressionen<br />
aus dem Klassenzimmer zu einem Horrorgemälde<br />
verdichten. Dabei sind es nicht die Kolleginnen und Kollegen,<br />
die die staunende Öffentlichkeit mit solchen angstmachenden<br />
Bildern und Befunden versorgen. Vielmehr<br />
sind es einzelne Lehrerverbände, die regelmäßig eine<br />
neue Sau durchs Dorf treiben und das Zerrbild von den<br />
Monsterkindern und ihren Helikopter eltern in immer<br />
aggressiveren Farben leuchten lassen. Dabei beruft man<br />
sich gerne auf wissenschaftliche Studien – auch wenn<br />
man diese selbst in Auftrag gegeben und wahrscheinlich<br />
auch bezahlt hat. Schließlich wirken die Schreckensmeldungen<br />
aus dem Klassenzimmer besonders gruselig,<br />
wenn sie durch die Autorität anerkannter Sozialforscher<br />
abgesichert werden.<br />
Das ist z. B. der Fall, wenn der Verband Bildung und<br />
Erziehung (VBE) bei dem ausgewiesenen Inklusionskritiker<br />
Bernd Ahrbeck eine Studie über Kinder mit emotionalen<br />
und sozialen Defiziten bestellt. Der von seiner Mission<br />
beseelte Empiriker kommt darin zu dem gewünschten<br />
Ergebnis: Bis zu 17 % der Schüler eines Jahrgangs seien<br />
psychisch krank, und alleine in den letzten 15 Jahren habe<br />
sich ihr Anteil verdoppelt. Offensichtlich will man die<br />
Öffentlichkeit bei dem Gedanken schaudern lassen, diese<br />
emotional und sozial beeinträchtigten Kinder könnten<br />
den regulären Unterrichtsbetrieb torpedieren und andere<br />
Schüler vom Lernen abhalten. Da dürfte der unvoreingenommene<br />
Leser Herrn Ahrbeck nur allzu gerne folgen,<br />
wenn dieser die psychisch angeknacksten Kinder von der<br />
Regelschule fernhalten und ihnen die Sonderschule als<br />
einen »Ort der Geborgenheit« andienen möchte.<br />
Zu ähnlichen Erschütterungen der Medienwelt kam<br />
es, als der VBE die Gewalttaten der Schüler gegen uns<br />
Lehrer zum Thema machte und damit in die Schlagzeilen<br />
und Talkshows drängte. Eine repräsentative FORSA-<br />
Umfrage hatte ergeben, dass 21 % der Lehrkräfte an ihren<br />
Schulen Tätlichkeiten und Gewaltexzesse beobachten.<br />
Und der VBE-Vorsitzende Beckmann rechnete vor, bereits<br />
45 000 Lehrkräfte seien von ihren Schülern tätlich angegriffen<br />
worden. Seitdem muss ich damit leben, dass ich mir<br />
wegen jedes Pflasters und wegen jedes blauen Flecks hämische<br />
Kommentare anhören darf. Freunde und Nachbarn<br />
sind sich ganz sicher, dass solche Blessuren dem täglichen<br />
Nahkampf im Klassenzimmer geschuldet sind.<br />
Es ist legitim, wenn die Lehrerverbände für ihre<br />
Mitglieder bessere Arbeitsbedingungen fordern. Auch<br />
ich wünsche mir eine Verkleinerung der Klassen, eine<br />
Entrümpelung der Lehrpläne und eine Entzerrung der<br />
Stundentafeln. Aber solche Forderungen rechtfertigen<br />
es noch lange nicht, junge Menschen in dieser Form zu<br />
dämonisieren, ja zu kriminalisieren. Aus berufsständischen<br />
Motiven heraus dürfen Kinder nicht als durchgeknallte<br />
Nervensägen und nicht als prügelnde Monster<br />
stigmatisiert werden. Unser gemeinsames Anliegen sollte<br />
eine Schule sein, in der alle Kinder Respekt und Wertschätzung<br />
erfahren. Das muss für das Innenleben unserer<br />
Schulen gelten.<br />
Aber bitteschön auch für ihre Außendarstellung.<br />
2 GS aktuell 144 • November 2018