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Tagebuch<br />

Allein unter Monstern<br />

Jonas Lanig<br />

ist gelernter Gymnasiallehrer<br />

und Bundesvorsitzender<br />

der Aktion Humane Schule<br />

Als Lehrer bin ich bei Grillpartys und Geburtstagsfeiern<br />

ein begehrter Gesprächspartner. Viele meiner Freunde<br />

und Nachbarn sind durch die Horrormeldungen aus<br />

den Schulen aufgeschreckt, die derzeit unseren Nachrichtenkosmos<br />

erschüttern. In mir sehen sie so etwas wie<br />

einen Frontberichterstatter, von dem sie sich einen realistischen<br />

Blick auf die Situation in unseren Klassenzimmern<br />

erwarten. Da geht es um muslimische Schüler, die<br />

im Ramadan dem Unterricht nur noch kraftlos und unkonzentriert<br />

folgen. Oder um verhaltensauffällige Kinder,<br />

vor deren Schlägen, Tritten und Gemeinheiten niemand<br />

mehr sicher ist. Oder aber um Eltern, die ihre Kinder mit<br />

dem familieneigenen SUV zur Schule chauffieren und die<br />

für das Verkehrschaos rund um unsere Grundschulen<br />

verantwortlich sind.<br />

Zwischen Gartengrill und Bierfass transformieren die<br />

Kinder und ihre Eltern zu unberechenbaren Monstern,<br />

deren Aufgedrehtheiten wir Lehrer machtlos gegenüberstehen<br />

und deren Anspruchsdenken wir schutzlos ausgeliefert<br />

sind.<br />

Als erfahrungsgestählter Schulmann könnte ich Öl ins<br />

Feuer gießen und die vielen hässlichen Schlagzeilen mit<br />

schrillen oder abstoßenden Anekdoten aus meinem Lehreralltag<br />

unterfüttern. Das würde den Unterhaltungswert<br />

mancher Partygespräche ansteigen lassen – oder wenigstens<br />

deren Fröstelfaktor. Damit aber kann und will ich<br />

nicht dienen. Ich kann da nur beschwichtigen und den<br />

gedankenlos kolportierten Schreckensmeldungen eine<br />

differenzierte Wahrnehmung meiner pädagogischen Praxis<br />

entgegenhalten.<br />

Offensichtlich hat es sich herumgesprochen: Um die<br />

Öffentlichkeit zu beeindrucken, müssen sich die Impressionen<br />

aus dem Klassenzimmer zu einem Horrorgemälde<br />

verdichten. Dabei sind es nicht die Kolleginnen und Kollegen,<br />

die die staunende Öffentlichkeit mit solchen angstmachenden<br />

Bildern und Befunden versorgen. Vielmehr<br />

sind es einzelne Lehrerverbände, die regelmäßig eine<br />

neue Sau durchs Dorf treiben und das Zerrbild von den<br />

Monsterkindern und ihren Helikopter eltern in immer<br />

aggressiveren Farben leuchten lassen. Dabei beruft man<br />

sich gerne auf wissenschaftliche Studien – auch wenn<br />

man diese selbst in Auftrag gegeben und wahrscheinlich<br />

auch bezahlt hat. Schließlich wirken die Schreckensmeldungen<br />

aus dem Klassenzimmer besonders gruselig,<br />

wenn sie durch die Autorität anerkannter Sozialforscher<br />

abgesichert werden.<br />

Das ist z. B. der Fall, wenn der Verband Bildung und<br />

Erziehung (VBE) bei dem ausgewiesenen Inklusionskritiker<br />

Bernd Ahrbeck eine Studie über Kinder mit emotionalen<br />

und sozialen Defiziten bestellt. Der von seiner Mission<br />

beseelte Empiriker kommt darin zu dem gewünschten<br />

Ergebnis: Bis zu 17 % der Schüler eines Jahrgangs seien<br />

psychisch krank, und alleine in den letzten 15 Jahren habe<br />

sich ihr Anteil verdoppelt. Offensichtlich will man die<br />

Öffentlichkeit bei dem Gedanken schaudern lassen, diese<br />

emotional und sozial beeinträchtigten Kinder könnten<br />

den regulären Unterrichtsbetrieb torpedieren und andere<br />

Schüler vom Lernen abhalten. Da dürfte der unvoreingenommene<br />

Leser Herrn Ahrbeck nur allzu gerne folgen,<br />

wenn dieser die psychisch angeknacksten Kinder von der<br />

Regelschule fernhalten und ihnen die Sonderschule als<br />

einen »Ort der Geborgenheit« andienen möchte.<br />

Zu ähnlichen Erschütterungen der Medienwelt kam<br />

es, als der VBE die Gewalttaten der Schüler gegen uns<br />

Lehrer zum Thema machte und damit in die Schlagzeilen<br />

und Talkshows drängte. Eine repräsentative FORSA-<br />

Umfrage hatte ergeben, dass 21 % der Lehrkräfte an ihren<br />

Schulen Tätlichkeiten und Gewaltexzesse beobachten.<br />

Und der VBE-Vorsitzende Beckmann rechnete vor, bereits<br />

45 000 Lehrkräfte seien von ihren Schülern tätlich angegriffen<br />

worden. Seitdem muss ich damit leben, dass ich mir<br />

wegen jedes Pflasters und wegen jedes blauen Flecks hämische<br />

Kommentare anhören darf. Freunde und Nachbarn<br />

sind sich ganz sicher, dass solche Blessuren dem täglichen<br />

Nahkampf im Klassenzimmer geschuldet sind.<br />

Es ist legitim, wenn die Lehrerverbände für ihre<br />

Mitglieder bessere Arbeitsbedingungen fordern. Auch<br />

ich wünsche mir eine Verkleinerung der Klassen, eine<br />

Entrümpelung der Lehrpläne und eine Entzerrung der<br />

Stundentafeln. Aber solche Forderungen rechtfertigen<br />

es noch lange nicht, junge Menschen in dieser Form zu<br />

dämonisieren, ja zu kriminalisieren. Aus berufsständischen<br />

Motiven heraus dürfen Kinder nicht als durchgeknallte<br />

Nervensägen und nicht als prügelnde Monster<br />

stigmatisiert werden. Unser gemeinsames Anliegen sollte<br />

eine Schule sein, in der alle Kinder Respekt und Wertschätzung<br />

erfahren. Das muss für das Innenleben unserer<br />

Schulen gelten.<br />

Aber bitteschön auch für ihre Außendarstellung.<br />

2 GS aktuell 144 • November 2018

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