Society 359 / 2011
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
WISSENSCHAFT<br />
THERAPIE<br />
Ein Blick in die psychotherapeutische Praxis<br />
Tabus, Familiengeheimnisse<br />
und Unaussprechliches<br />
Geheimnisse in der Familie haben oft einen gravierenden Einfluss auf die seelische und körperliche<br />
Gesundheit. Sie in therapeutischer Arbeit aufzudecken bedeutet Versöhnung mit der<br />
eigenen Geschichte und Selbstwerdung. Von SILVIA PROSQUILL-SALZMANN<br />
Der Begriff des Tabus kommt aus dem<br />
Polynesischen, er hat zwei Bedeutungen,<br />
zum einen meint er heilig und geweiht,<br />
zum Anderen verboten und gefährlich.<br />
Ein Tabu benennt Handlungen und<br />
Verhaltensweisen, die im sittlichen Verständnis<br />
geächtet, in vielen Fällen per Gesetz<br />
geahndet werden und eine kulturabhängige<br />
Gültigkeit haben. Ein Tabubruch<br />
ist seit Jahrhunderten Ziel öffentlicher Beurteilung<br />
und Verurteilung und hat die<br />
Menschheit immer berührt.<br />
Gleichsam berührend sind Tabus, die<br />
an Familiengeheimnisse anknüpfen und<br />
durch ganz individuelle Erlebnisse große<br />
Belastungen und seelische Konflikte hervorrufen.<br />
So können „heimliche und unheimliche“<br />
Geschichten, wie sie uns Freud<br />
in einem seiner wichtigsten Aufsätze<br />
hinterlassen hat, die heute oder damals,<br />
auch Generationen davor stattgefunden<br />
haben, unbewusste Spuren hinterlassen<br />
und damit gravierenden Einfluss auf das<br />
heutige Leben nehmen.<br />
Bestimmte Begegnungen, Orte, Gerüche<br />
oder Musikstücke lassen uns oft in eine<br />
unergründliche Stimmung sinken, ohne<br />
dass wir dafür eine Erklärung finden.<br />
Ein Ort, wie in manchen Gesprächen zu erfahren<br />
war, an dem viel über Geheimnisse<br />
gesprochen wird, ist oft der Letzte Platz eines<br />
Menschen – der Friedhof. Hier wird der<br />
positiven und negativen Eigenschaften gedacht<br />
und im Zuge dessen werden Familiengeheimnisse<br />
wach. Kinder erzählen<br />
dann: an einem gewissen Platz, bei einer<br />
gewissen Musik, bei einer gewissen Geschichte<br />
hat die Oma immer geweint, ist<br />
der Opa immer zornig geworden. Kinder<br />
haben feine Sensoren für alles Verheimlichte<br />
und Unausgesprochene.<br />
***<br />
Die Vielfalt der Geheimnisse<br />
Wiederholt erzählen mir Betroffene<br />
nach Aufdeckung eines Geheimnisses: „Geahnt<br />
habe ich es ja schon immer.“ Die Vielfalt<br />
der Geheimnisse ist unbegrenzt und<br />
stellt uns oftmals vor die Frage: Hat es das<br />
„Unaussprechliche“ auch in unserer Familie<br />
gegeben? Um nur einige zu nennen:<br />
Geschwisterkinder, die nicht die gleichen<br />
Eltern haben; verheimlichte Adoptionen,<br />
Abtreibungen, unheilbare und psychische<br />
Erkrankungen; Vernachlässigung ungeliebter<br />
Kinder; Vergewaltigungen; Selbstmorde;<br />
Rätsel im Zusammenhang mit Geld; jüdische<br />
oder nationalsozialistische<br />
Vergangenheiten usw.<br />
Geheimnisse können generationsübergreifende<br />
Gefühle auslösen. Die Verknüpfung<br />
des eigenen Schicksals mit dem der<br />
Ahnen lässt wiederholt Schande, Mitschuld<br />
und Schamgefühle entstehen, die<br />
ÜBER DIE AUTORIN<br />
Silvia Prosquill-Salzmann ist diplomierte Lebens- und Sozialberaterin<br />
in eigener Praxis. Sie ist Absolventin der Sigmund-Freud-Privatuniversität<br />
in Wien, wo sie zur Psychoanalytikerin<br />
ausgebildet wird und einen BA p.th.<br />
erworben hat.<br />
KONTAKT<br />
Silvia Prosquill-Salzmann<br />
Dipl. Lebens- und Sozialberaterin<br />
Psychotherapeutin in Ausbildung und Supervision<br />
Laudongasse 31/5/15, A 1080 Wien<br />
Mobil +43-(0)664-190 32 31<br />
uns über weite Strecken in unserem Leben<br />
beeinträchtigen und Angst vor Ausschluss<br />
und Außenseitertum zur Folge hat. Die<br />
Aufdeckung von familiären Heimlichkeiten<br />
geht mit bedrückender Angst einher<br />
und wird erst durch Gewissheit gemildert.<br />
Die Fantasie ist es, die uns quält z. B. ein<br />
ungeliebtes Kind, oder der Enkel eines NS-<br />
Opfers bzw. Täters, oder ein Ersatzkind,<br />
oder ein Kind aus einem Inzest zu sein.<br />
Diese Vorstellungen sind schlimmer, als<br />
die Wahrheit zu erfahren, das Unaussprechliche<br />
zu formulieren und sich mit<br />
der Auswirkung auf sich selbst zu befassen.<br />
***<br />
Entlastung der inneren Spannung<br />
Im therapeutischen Rahmen erlebe ich<br />
immer wieder die große Erleichterung,<br />
wenn ein Betroffener sich erstmals öffnet<br />
und über sein geheimes Thema spricht.<br />
Die Neutralität und der professionelle Umgang<br />
ermöglichen eine weitgehende Entlastung<br />
der inneren Spannung, die sich<br />
manchmal über Jahre aufgebaut hat. Vielfach<br />
sind Familiengeheimnisse von parallel<br />
auftretenden körperlichen und seelischen<br />
Symptomen wie Schlaflosigkeit,<br />
Melancholie, sexueller Empfindungslosigkeit,<br />
Schmerzen verschiedenster Art begleitet.<br />
Im Zuge einer therapeutischen Aufarbeitung<br />
ist eine Auflösung der<br />
körperlichen Beschwerden regelmäßig zu<br />
beobachten. So können etwa Träume im<br />
therapeutischen Prozess erhellend und<br />
wegweisend für verdrängte Erlebnisse sein.<br />
Eine wichtige Phase tritt ein, wenn ein Betroffener<br />
sich mit Vergangenem konfrontiert,<br />
Unaussprechliches besprechbar wird<br />
und in weiterer Arbeit damit versöhnt.<br />
Ein langer therapeutischer Prozess nähert<br />
sich dem Ende zu.<br />
Im dem Zusammenhang denke ich an<br />
den Satz „Werde der, der du bist“ mit allen<br />
Geheimnissen und daraus resultierenden<br />
Schwierigkeiten, doch im Bewusstsein,<br />
dass sie ein Teil von dir sind und deiner<br />
Selbstwerdung und Selbstheilung dienen.<br />
78 | SOCIETY 3/4_11