MEDIAkompakt Ausgabe 26
Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart
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30<br />
MIND<br />
mediakompakt<br />
Und wo kommst<br />
Du WIRKLICH her?<br />
Illustration: Connor Steinert<br />
Machen wir neue Bekanntschaften,<br />
ist eine der ersten<br />
Fragen oft, wo wir herkommen.<br />
Was damit gemeint ist,<br />
ist nicht die Adresse, die im<br />
Ausweis steht, sondern das<br />
Land, aus dem unsere<br />
Vorfahren kommen.<br />
VON ANTONIA PLANKENHORN<br />
Egal wo ich war, ich habe immer ein<br />
bisschen den Anschluss verloren“, sagt<br />
Selma, während sie ihren Kaffee trinkt.<br />
Wir sitzen draußen, sie trägt eine Sonnenbrille,<br />
ich sehe aber dennoch, dass<br />
ihr Blick beim Erzählen in die Ferne wandert.<br />
Selmas Eltern kommen aus Bosnien, sie ist in<br />
Belgien aufgewachsen und zog 2002 nach Biberach<br />
in Oberschwaben. Heute lebt sie in Stuttgart.<br />
Geschichten wie Selmas sind für mich normal.<br />
Im Jahr 2016 hatten in Stuttgart, wo ich aufgewachsen<br />
bin, 44 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund.<br />
Damit liegt Stuttgart weit<br />
über dem Durchschnitt, bundesweit hatte 2017<br />
immerhin fast jeder Vierte ausländische Wurzeln.<br />
Meine Schulfreundinnen sind hier geboren<br />
und für mich genauso „deutsch“ wie ich. Mit dem<br />
kleinen Unterschied, dass zuhause nicht Deutsch<br />
gesprochen wurde, sondern Kroatisch, Bosnisch<br />
oder Türkisch. Die Sommerferien, Weihnachten<br />
und Ostern verbrachten sie in ihrer „Heimat“.<br />
Und ich blieb neidisch in Stuttgart zurück. Wir<br />
machten nie mehr als zwei Wochen Urlaub. Heute<br />
denke ich mehr darüber nach, ob es nicht traurig<br />
sein muss, sich nach sechs Wochen Sommerferien<br />
von den Freunden zu verabschieden, die man erst<br />
Monate später wiedersieht. Vermutlich ähnlich<br />
traurig, wie mit den Freunden aus Deutschland<br />
nie ins Freibad zu gehen oder auf Festivals zu fahren.<br />
Wo fühlen sich Menschen wie meine Schulfreundinnen<br />
zuhause? Wo ist ihre Heimat? Und<br />
kommen sie dort je richtig an?<br />
Laura und Nicole, deren Wurzeln in Kroatien<br />
und Polen liegen, fahren beide regelmäßig in das<br />
Heimatland ihrer Eltern, fühlen sich jedoch in<br />
Deutschland daheim. Laura schwärmt von den<br />
Ferien in Kroatien, die sich für sie anfühlen, als<br />
ginge sie ins Hotel. „Für mich ist das Urlaub. Mein<br />
Nest ist aber hier in Stuttgart.“<br />
Selma antwortet darauf ganz anders. „Heimat<br />
ist für mich dort, wo ich keinen Anlass habe, mich<br />
aufgrund meiner Mentalität oder Religion unwohl<br />
zu fühlen. Dort, wo ich mich nicht verstellen<br />
muss.“ Selma ist Muslimin und hat häufig nervige<br />
Fragen zu ihrer Religion zu beantworten. „Wenn<br />
ich während des Ramadan faste, kann das hier keiner<br />
nachvollziehen. Das fühlt sich an wie früher<br />
in der Schule, wenn man nicht die coolen Nikes<br />
hatte.“ Selma zündet sich eine Zigarette an, bevor<br />
sie weitererzählt. „Ich fühle mich nicht wie eine<br />
Ausländerin, aber auch nicht so richtig Deutsch.<br />
Es kommt mir vor, als hätte ich fünf Orte der Heimat,<br />
so richtig aufgenommen fühle ich mich aber<br />
nirgends.“ Hinter ihrer Sonnenbrille schaut sie<br />
immer noch an mir vorbei und wirkt nun traurig.<br />
Im Alltag ist dieses Thema für Selma nicht so<br />
präsent. Nur dann, wenn Leute auf einer Party mit<br />
der Antwort „Biberach“ nicht zufrieden sind und<br />
unbedingt wissen müssen, wo sie tatsächlich herkommt,<br />
ist sie genervt. „Wenn dann rauskommt,<br />
dass ich Muslimin bin, wird erstaunt gesagt, ich<br />
sei doch aber ganz normal.“ Und sie ergänzt, dass<br />
es sich in solchen Momenten anfühle, als wäre ihr<br />
Glaube etwas Schlechtes.<br />
Eine Sache haben Laura, Nicole und Selma gemeinsam,<br />
auch wenn sie nicht die gleichen Erfahrungen<br />
gemacht haben. Auf die Frage, was für sie<br />
Heimat ist, antwortet keine der drei mit einem bestimmten<br />
Ort. Ihre Antworten beschreiben Gefühle<br />
und Werte. Ähnlich war es bei all den anderen<br />
Leuten, die für diesen Beitrag gebeten wurden,<br />
in einem Wort zusammenzufassen, was für sie<br />
Heimat ausmacht.<br />
Da fielen Begriffe wie Familie, Geborgenheit,<br />
Zufriedenheit und Wärme. Nur eine Person antwortete<br />
mit „Stuttgart“. Warum also, ist es so<br />
wichtig, zu wissen wo unsere Mitmenschen herkommen?<br />
Wäre die Zeit nicht besser genutzt, würden<br />
wir weniger über Orte nachdenken und stattdessen<br />
fragen, woran unser Gegenüber glaubt und<br />
was ihm wichtig ist?<br />
Selma trinkt ihren letzten Schluck Kaffee und<br />
sieht mir in die Augen: „Linien klar zu ziehen<br />
macht heutzutage keinen Sinn mehr. Es wäre so<br />
viel schöner, wären alle Menschen einfach nur<br />
Menschen.“<br />
Bild: Lena Joraschek