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ALLTAG<br />
<strong>#169</strong> | AUGUST 2019<br />
Mein Fazit nach vier Monaten?<br />
Das Gefühl, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, war ein Gefühl<br />
von purer Euphorie: Ich sah alles wieder klar, sah die grosse Entscheidung<br />
als Startpunkt von unglaublich vielen Chancen, und war stolz, mutig<br />
gewesen zu sein und den Schritt zu wagen. (Hätte ich ihn nicht gewagt,<br />
hätte ich doch sowieso jahrelang mit Was-wäre-wenn-Gedanken gelebt.)<br />
Die anfängliche Euphorie wurde aber relativ schnell wieder ersetzt durch<br />
die gleichen kleinen Alltagsprobleme und Zweifel, die ich bereits vorher<br />
hatte – und neue kamen dazu: Einerseits bringt die Entscheidung<br />
zum Auswandern eine Scheissmenge an administrativen Hürden mit sich<br />
(dazu gleich mehr), und andererseits ist eine riesige Umstellung nötig,<br />
um sich an die riesige Andersartigkeit einer neuen Stadt zu gewöhnen.<br />
Wo in Zürich 30 Minuten von A nach B als ewig lang wahrgenommen<br />
werden, rechnet man in London eigentlich mit immer mindestens einer<br />
Stunde. Für meinen Arbeitsweg habe ich ebenfalls, wenn der Verkehr gut<br />
läuft (und das tut er wirklich nicht oft), eine Stunde – und muss zweimal<br />
umsteigen. Und während ich in Zürich einen ziemlich guten Überblick<br />
darüber hatte, was es für Bars, Cafes, Läden und Kulturangebote gab, erschien<br />
mir das in London absolut unmöglich: Jedes noch so kleine Quartier<br />
bietet eine schier unendliche Auswahl an allem, was man nur brauchen<br />
könnte, und ich kann mir nicht vorstellen, mich jemals sattzusehen.<br />
Es leben mehr Menschen in London als in der ganzen Schweiz<br />
Erst bei dem Vergleich von Zürich und London in Zahlen merke ich, wie<br />
unrealistisch es ist, die beiden vergleichen zu wollen. Wenn immer mich<br />
jemand fragt, wie es mir seit dem Auswandern so ergeht, erzähle ich<br />
ihnen, wie ich wirklich auf die Welt gekommen bin wenn es darum geht,<br />
was es bedeutet, in einer Grossstadt zu leben, und dass Zürich keine<br />
Stadt mehr für mich ist. In Zürich leben 428’737 Personen, in London<br />
geschätzt 8.8 Millionen. Das sind 20-mal so viele – und fast 400’000<br />
mehr als in der ganzen Schweiz. Auch die Fläche der beiden Städte zu<br />
vergleichen, hat mich umgehauen. Zürichs Fläche beträgt 87,88 km², die<br />
von London 1572 km²: London ist 17-mal so gross wie Zürich.<br />
Die Fremde spiegelt sich aber nicht nur in der Grösse meines neuen<br />
Zuhauses wieder – sie macht sich auch in sprachlichen und kulturellen<br />
Hürden bemerkbar. In England gehört es zum Beispiel zum guten Humor,<br />
dass man sich ständig hochnimmt, ein wenig fertig macht. Dadurch<br />
sind alle sehr schlagfertig – ausser ich. Teilweise sitze ich schweigend in<br />
meinem Bürostuhl, weil ich entweder einem Witz nicht folgen konnte<br />
oder weil ich ihn einfach nicht lustig fand. Und das, obwohl ich wirklich<br />
überhaupt nicht schüchtern bin. Natürlich gibt es Menschen, die eher auf<br />
meiner Wellenlänge sind. Doch die muss man zuerst mal finden, eine Beziehung<br />
zu ihnen aufbauen – und das alles, während ich meine Freunde<br />
zuhause vermisse.<br />
Es ist alles nicht immer ganz einfach – und eine Entscheidung, auszuwandern,<br />
sollte durchdacht sein. Denn irgendwann kriecht immer der<br />
Alltag in seiner ganzen Unglamourösität wieder herein, und der Alltag,<br />
der stinkt. Ich baue hier gerade mein Leben auf. Ich wache immer noch<br />
manchmal auf und habe keine Ahnung, was ich tue. Aber ich liebe mein<br />
Zuhause, meine Tomatenpflanze auf dem Balkon, und dass ich nicht<br />
mehr in einer Fernbeziehung lebe. Ich liebe die Parks, die Konzerte, die<br />
Vielfältigkeit, die täglichen Überraschungen, das günstige Essen, das Lächeln<br />
von Fremden. Und ich liebe, dass ich die Zügel zu dem allem ganz<br />
fest selber in der Hand halte. w<br />
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