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Berliner Kurier 04.08.2019

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Darm<br />

Endometriose<br />

Zysten und Entzündungen<br />

Eierstock<br />

Bauchfell<br />

Gebärmutter<br />

Scheide<br />

Grafik/Galanty<br />

Blase<br />

zum Arbeiten. In einer Tech-<br />

Firma hatte sie ein Team aus 35<br />

Leuten geleitet, viele Überstunden<br />

gemacht –das ging nicht<br />

mehr.<br />

Die Zeit zu Hause hatte sie genutzt,<br />

um zu recherchieren.<br />

Auf Facebook fand sie eine<br />

Gruppe, in der Zehntausende<br />

Betroffene aus der ganzen Welt<br />

Erkenntnisse aus neuen Studien<br />

teilen, sich über Ärzte und<br />

Therapien austauschen.<br />

Auf Instagram stehen allein<br />

unter dem Hashtag #endometriosis<br />

mehr als eine Million<br />

Posts: Selfies, unter denen<br />

Frauen ihre Geschichten aufschreiben,<br />

Durchhaltesprüche,<br />

Ernährungstipps. Es gibt zig<br />

weitere Hashtags: #endowarrior,<br />

#endosister, #endoempowerment.<br />

Auch Irene schreibt über ihre<br />

Erkrankung, seit sie einen Namen<br />

dafür kennt.ImMärz postet<br />

sie ein Bild. Ihr Bauch ist zu sehen,<br />

die Narben von ihren OPs<br />

hat sie mit Jahreszahlen markiert<br />

und mit Strichen verbunden.<br />

Es sieht aus wie ein windschiefes<br />

Haus.<br />

Die New Yorker Fotografin<br />

Georgie Wileman hatte Betroffene<br />

dazu aufgerufen, um darauf<br />

aufmerksam zu machen, wie viele<br />

Operationen Patientinnen<br />

über sich ergehen lassen, die<br />

nicht helfen, sondern zu noch<br />

mehrSchmerzen führen.<br />

Auf einem Bild, das Irene ein<br />

paar Wochen vor ihrer Operation<br />

beiSylviaMechsner postet, ist<br />

ihr Torso zu sehen, der Bauch<br />

aufgebläht wie ein Ballon. „Ich<br />

bin nicht schwanger“, schreibt<br />

sie, „so sehen innere Blutungen<br />

und Entzündungen aus.“ Darunter:<br />

#butyoudontlooksick –<br />

du siehst garnichtkrank aus.<br />

Irene erzählt ihre Geschichte,<br />

damit andere die richtigen Fragen<br />

eher stellenals sie.<br />

Die sozialen Netzwerke sind<br />

Eileiter<br />

Diehäufigsten möglichen Symptome<br />

Physische und psychische<br />

Beschweren vorder<br />

Regelblutung (PMS)<br />

Unregelmäßiger Zyklus<br />

Schmerzen während<br />

des Eisprungs<br />

Starke, langanhaltende<br />

Blutungen<br />

Bauchschmerzen<br />

Übelkeit/Erbrechen<br />

Durchfall/Verstopfung<br />

Schmerzen beim Stuhlgang/beim<br />

Urinieren<br />

Migräne<br />

Schwindelgefühl<br />

Verwirrungsgefühl<br />

Schlafstörungen<br />

Erschöpfung<br />

Atemnot<br />

Häufige Infekte<br />

Unerwünschte Kinderlosigkeit<br />

Schmerzen beim Sex<br />

Schmerzen im unteren<br />

Rücken<br />

Schmerzen, die in die<br />

Beine/Knie ausstrahlen<br />

Quelle: Endometriose-Vereinigung<br />

Deutschland<br />

Einer Studie<br />

zufolge verursacht<br />

Endometriose in<br />

Deutschland<br />

jährlich Gesamtkosten<br />

von 1,96 Milliarden Euro.<br />

in den vergangenen Jahren zu<br />

einem nie abreißenden Strom<br />

von Geschichten geworden.<br />

Spätestens seit #MeToo<br />

fühlen sich insbesondere<br />

Frauen ermutigt, dort ihre<br />

Erfahrungen zu teilen. Es<br />

bricht sich etwas Bahn, das<br />

lange Zeit nur im Verborgenen<br />

stattfand. Weibliches<br />

Leiden bekommt im Netz<br />

eine Stimme, Millionen<br />

Stimmen, tausendfach geteilt,<br />

und es ist immer jemand<br />

da, der gerade zuhört.<br />

Manche Stimmen sind lauter.<br />

Auch die Schauspielerinnen<br />

Susan Sarandon, Whoopi Goldberg<br />

und Gillian Anderson<br />

haben Endometriose und sprechendarüber.InDeutschland<br />

ist<br />

es gerade Anna Wilken. Vor ein<br />

paarJahrenwarsie bei „Germany’s<br />

Next Topmodel“ zu sehen,<br />

heute hat sieauf Instagram über<br />

200000 Follower, denen sievon<br />

ihrem täglichen Kampf mit Endometriose<br />

erzählt.Esgibt wohl<br />

keinen einfacheren Weg, um junge<br />

Frauenzuerreichen und darüber<br />

aufzuklären, was mit ihren<br />

Körpern los seinkann. Im Herbst<br />

erscheint WilkensBuch.<br />

Sylvia Mechsner hat ihr beratend<br />

zurSeite gestanden. Siebehandelt<br />

nicht nur, sondern beschäftigtsich<br />

auch mit den Ursachen<br />

der Krankheit. „Aber esist<br />

schwierig, Forschungsgelder zu<br />

bekommen“, sagt sie. Im Grunde<br />

habesich in den vergangenen 15<br />

Jahren wenig getan. Es gibtauch<br />

keineneuenMedikamente,dafür<br />

jede Mengeoffene Fragen.<br />

Wie zum Beispiel passt die<br />

Theorie, dass Endometriosezellen<br />

durch die Menstruation aus<br />

der Gebärmutter in den Unterleib<br />

geraten, dazu, dass Endometriose<br />

auch schon bei weiblichen<br />

Föten gefunden wurde –<br />

und beiMännern?<br />

Welche Rolle spielt es, dass<br />

FrauenheuteihreRegelvielöfter<br />

haben, weilsie länger leben und<br />

wenigerKinder gebären als noch<br />

vor einpaar Hundert Jahren?<br />

Welche Einflüsse haben UV-<br />

Strahlen oder Chemikalien in Lebensmittelnund<br />

Kosmetika?<br />

WarumleideneinigeFrauenan<br />

Schmerzen, obwohl sie nur wenige<br />

Herde haben, während andere<br />

ihre Endometriose erst bemerken,<br />

wenn sie schwanger<br />

werden wollen, es aber nicht<br />

klappt?<br />

Irene wolltenie Kinder haben;<br />

sie wollte auch dasMedikament<br />

nicht nehmen, das viele Ärzte<br />

nacheiner Operation empfehlen:<br />

ein GnRH-Analogon, daskünstliche<br />

Wechseljahre auslöst.<br />

Wechseljahre. Mit Mitte 30.<br />

Mit Nebenwirkungen wie Hitzewallungen,<br />

Depressionen, Scheidentrockenheit,<br />

verminderter<br />

Libido und, langfristig, Knochenschwund.<br />

Was sie jetzt brauche,<br />

sagt Irene, ist eine adäquate Behandlung<br />

ihrer Schmerzen. Die<br />

sind auch nach der zweiten OP<br />

Forschung konzentrierte<br />

sich zu lange auf die<br />

Gesundheit von<br />

Männern. Wir wissen viel<br />

übers Herz, aber zu wenig<br />

über die Gebärmutter.<br />

geblieben. Etwa alle zwei Tage<br />

„wird es böse“.<br />

Irene sagt: „Ich werde besser<br />

darin, mit dem Schmerz zu leben.“<br />

Siehat ihre Ernährung umgestellt,<br />

verzichtet auf Gluten,<br />

Fleisch und Milchprodukte, geht<br />

zum Osteopathen und macht eine<br />

Verhaltenstherapie. Cannabidiol-Ölhilftein<br />

bisschen, sagt sie;<br />

Yoga hilft bei vielem, aber nicht<br />

bei Endometriose. Wenn sie ein<br />

Konzertbesuchenwill, verbringt<br />

sie den Tag damit, sich darauf<br />

REPORT 21<br />

vorzubereiten. Gibt es dort einen<br />

Platz zum Sitzen?WelcheMedikamente<br />

muss sie mitbringen?<br />

Es fällt ihr schwer zu akzeptieren,<br />

dass ihre Krankheit chronisch<br />

ist,dass das jetzt ihr Leben<br />

sein soll. Immerhin hat sie wieder<br />

angefangen, als Übersetzerin<br />

zu arbeiten, einpaarStunden die<br />

Woche, freiberuflich und von zu<br />

Hause aus.<br />

Laut einer Krankheitskostenstudie<br />

verursacht Endometriose<br />

in Deutschlandjährlich Gesamtkostenvon<br />

1,96 Milliarden Euro,<br />

durch Arztbesuche, Medikamente,durch<br />

den Ausfallvon Arbeitszeit.Das<br />

mache Endometriose<br />

zu einer „bedeutsamen gesellschaftlichen<br />

Belastung“.<br />

Das wirdbishergesundheitspolitisch<br />

in Kauf genommen.<br />

„Wir bräuchten ein individuelles<br />

Fallmanagement,<br />

wie es bei anderen chronischen<br />

Krankheiten längst<br />

üblich ist“, sagt Martina<br />

Schröder vom Feministischen<br />

Frauengesundheitszentrum.<br />

Im Moment würden<br />

Betroffenenicht einmalausreichend<br />

darüber informiert,<br />

dass ihnen nach einer OP eine<br />

Reha zustünde. AlternativeHeilmethoden,<br />

die vielen Linderung<br />

verschaffen, würden nicht finanziert,<br />

Ärzte und medizinisches<br />

Personal nicht ausreichend weitergebildet.<br />

Und die Aufklärung<br />

in Schulensei auch im Jahr 2019<br />

nicht so weit, dass es für Mädchennormalist,<br />

über ihreMenstruationzusprechen.<br />

„Es sollte aber normal sein“,<br />

sagt Schröder. Und auch, auf Fragen<br />

die richtigen Antworten zu<br />

bekommen.<br />

Das Internet ist dafür nicht immer<br />

geeignet. „Wem es besser<br />

geht, von dem liestman aberoft<br />

nichts mehr“, sagt Irene.Manchmal<br />

braucht sie selbst eine Pause,<br />

erträgt es nicht, die immer gleichen<br />

Geschichten zu lesen. Die<br />

Stimmen sind da,jetzt kommtes<br />

daraufan, dass auch die zuhören,<br />

die etwas verändern können.<br />

Das beginnt inder Forschung,<br />

die sich zu lange auf die Gesundheit<br />

von Männern konzentriert<br />

hat, weswegen wir viel über das<br />

Herz und zuwenig über die Gebärmutter<br />

wissen. Und das in einer<br />

Gesellschaft, die ein eigenes<br />

Wort kennt für weibliche Beschwerden:<br />

„Frauenleiden“. Was<br />

verrät, wie ernst man diese<br />

Beschwerden nimmt. Selbst<br />

wenn eine Fraunur drei, vier<br />

Tage im Monat starke<br />

Schmerzen hat, summiert<br />

sich das bei der Zeit, die<br />

durchschnittlich bis zurDiagnose<br />

verstreicht, auf ein<br />

knappes Jahr. „Es gibt keine<br />

Männerkrankheit, bei der<br />

das so ist“, sagt Sylvia Mechsner,„und<br />

wennessie gäbe,dann<br />

hätten wir längsteine Lösung gefunden.“<br />

Noch aber müssen betroffene<br />

Frauen dafür kämpfen, dass ihnen<br />

ihr Schmerz überhaupt geglaubt<br />

wird. Irenegeht nur noch<br />

zusammen mit ihrem Freund<br />

zum Arzt. Ihr war aufgefallen,<br />

dasseseinen Unterschiedmacht,<br />

wenn er neben ihr sitzt, ein<br />

Mann, der bezeugen kann, dass<br />

ihr Schmerz echt ist.<br />

Anne Lena Mösken

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