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Berliner Kurier 05.08.2019

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*<br />

REPORT<br />

Extrem-Wanderin ChristineThürmer<br />

Unterwegsins Glück<br />

Keine Tour unter tausend Kilometern: Eine mutige <strong>Berliner</strong>in hat ihr altes Leben aufgegeben,<br />

um die Welt laufend zu entdecken –völlig allein. Sie hat es nie bereut<br />

In ihrem Stammcafé am<br />

Freizeitforum Marzahn<br />

hat sich ChristineThürmer<br />

eine hochkalorische Wildpreiselbeer-Buttercremeschnitte<br />

gegönnt. Sie braucht Energie.<br />

In ein paar Tagen startet sie eine<br />

6500 Kilometer lange Wanderung,<br />

diesie von Irland über die<br />

Alpen und den Balkan bis nach<br />

Griechenland führt. 35 Kilometer<br />

wird sie, bepacktmit Zelt und<br />

Ausrüstung, durchschnittlich<br />

pro Tagzurücklegen. Obwohl sie<br />

inzwischeninder Szeneals „die<br />

meistgewanderte Frau der Welt“<br />

giltund mit insgesamt zurückgelegten<br />

45 000 Kilometern mehr<br />

als einmalumdie Erde gelaufen<br />

ist, stellt sie sich vor dem Aufbruch<br />

zu einer neuen Tour jedes<br />

Mal die gleiche Frage: „Warum<br />

tue ichmir das eigentlich an?“<br />

Beruflichmachte sie als ManagerininderUnternehmenssanierung<br />

Karriere. Eigentlich hätte<br />

alles immer so weitergehenkönnen.<br />

Doch dann wurde ihr gekündigt.<br />

Viel einschneidender<br />

noch war der Schlaganfall, den<br />

ein guter Freund nur wenig später<br />

erlittund an dessen Folgen er<br />

kurz darauf starb. Er war nur<br />

zehn Jahre älter als sie. Und sie<br />

fragte sich: Was hätte erwohl<br />

gerne gemacht, wenn er weitergelebt<br />

hätte? Sie begriff: Unsere<br />

wichtigste Ressource ist die Lebenszeit,<br />

und die ist nicht vermehrbarwie<br />

Geld.<br />

Im Jahr 2004 ging Christine<br />

Thürmer den 4277 Kilometer<br />

langen Pacific Crest Trail, der<br />

von Mexiko nach Kanada führt.<br />

Nach zwei Wochen warihr klar,<br />

dasssie „auf dem richtigenWeg“<br />

war. Nach und nach stieg sie<br />

ganz ausihrem bisherigenLeben<br />

aus. Während sie den Kamm zu<br />

Hause lässt –estun auch zehn<br />

Finger –darf die neueste Technik<br />

nicht fehlen: Smartphone,<br />

Powerbank und Klapptastatur.<br />

Morgensumsechs postet die 52-<br />

Jährige ihre Erlebnisseauf Facebook<br />

und Instagram. Über ihren<br />

Blog ist sie weltweit vernetzt.<br />

Das GPS-Navigationsgerät hilft<br />

bei der Vorbereitung der Tagesetappen.<br />

Die Logistik muss bis<br />

ins kleinste Detail stimmen. Wo<br />

ist der nächste Supermarkt? Wo<br />

die nächste Wasserquelle? Das<br />

Fotos: Daniela Noack<br />

Zelt ist multifunktional eingerichtet.Der<br />

Kleidersack dient als<br />

Kopfkissen und Bürostuhl zugleich.<br />

Christine Thürmer ist das lebende<br />

Beispiel dafür, dass der<br />

Ausstieg aus einer bürgerlichen<br />

Existenzund Erfolg kein Widerspruch<br />

sein müssen. Ihre Reiseberichte<br />

verkauften sich allein<br />

im deutschsprachigen Raum<br />

mehr als 100000-mal und standen<br />

insgesamt überein Jahrauf<br />

der “Spiegel“-Bestsellerliste. In<br />

der wanderfreien Zeit schreibt<br />

sie in ihrerEinzimmerwohnung<br />

in Marzahn ein drittes Buch, es<br />

soll im Frühjahr erscheinen.<br />

Mehr noch als die schönen<br />

Landschaftengenießtsie es,„im<br />

HierundJetztzuleben“. Pro Tag<br />

hat sie nur noch zwei wirklich<br />

wichtige Termine: den Sonnenaufgang<br />

und den Sonnenuntergang.<br />

Sie liebt „die Reduzierung<br />

der Grundbedürfnisse aufs Minimum“.<br />

Jede noch so kleine Annehmlichkeit<br />

wird plötzlich zum<br />

großen Geschenk: das Glück,<br />

sichimFluss waschenzukönnen<br />

odermal wieder in einem richtigen<br />

Bett schlafen zu dürfen.<br />

Überlaufene Strecken wie den<br />

Jakobsweg oderden West Highland<br />

Way in Schottland meidet<br />

Christine Thürmer ist<br />

oft wochenlang allein<br />

unterwegs. Hier testet<br />

sie ihreAusrüstung im<br />

TreptowerPark.<br />

sie. Sie war schon in Gegenden<br />

unterwegs, wo es in 50 oder100<br />

Kilometern Entfernung keinen<br />

einzigen Menschen gab. Alleine<br />

wandern als Frau? Machtihr das<br />

keine Angst?„In jeder Großstadt<br />

gibt es mehr Gefahren als im<br />

Wald“, glaubt sie. Allein reisende<br />

Frauen haben sogar Vorteile.<br />

Wenn sie bei Fremden an der<br />

Tür klingeltund um Wasser bittet,<br />

ist die Hilfsbereitschaft groß.<br />

Jede kleine<br />

Annehmlichkeit<br />

wird zum Geschenk<br />

Und die nimmt mit steigendem<br />

Alter noch zu. Christine Thürmer<br />

nennt das den „Oma-Bonus“.<br />

Trotz ihrer stattlichen 1,84<br />

Meter hat aber auch sie schonbeängstigende<br />

Situationen erlebt –<br />

auch wenn sie sich schnell als<br />

harmlos erwiesen. Der merkwürdige<br />

Mann im Jogginganzug,<br />

der allein durch den Wald strich,<br />

war ein Pilzsammler. Die vielen<br />

Männer, dieineiner verlassenen<br />

Gegend Frankreichs mitten in<br />

der Nacht mit Taschenlampen<br />

anihremZeltvorbeiliefen,machten<br />

eine Militärübung.Auf ihren<br />

Wanderungen sind ihr Klapperschlangen<br />

und der gefürchtete<br />

Grizzlybär begegnet – weitaus<br />

mehr Angst machen ihr jedoch<br />

Tiere, die schwer zuentdecken<br />

sind: Zecken. Zweimal hatte sie<br />

schon Borreliose, weshalb sie<br />

sich jeden Tag gründlich absucht.<br />

Unterwegs trifft sie häufig<br />

Menschen in Lebenskrisen,welche,<br />

die einen Partner verloren<br />

oder andere Schicksalsschläge<br />

zu verarbeiten haben. Auf den<br />

amerikanischen Trails sind viele<br />

traumatisierte Kriegsveteranen<br />

unterwegs. Für Christine Thürmer<br />

ist eine Extremwanderung<br />

allerdings eine schlechteVoraussetzung,<br />

um sich selbst zu finden,<br />

wie es Bücher wie „Wild“ oder<br />

„Picknick mit Bären“ versprächen.<br />

Den Wanderer erwarten<br />

viele Herausforderungen. Ein<br />

emotionales Päckchen, schmerzende<br />

Knie und drei Wochen<br />

Dauerregen können Menschen<br />

an ihre Grenzen bringen. „Man<br />

sollte deshalb schon im Vorfeld<br />

gut mit sich und auch mit der<br />

Einsamkeit klarkommen“, sagt<br />

sie. Weil das Langstreckenwandern<br />

für sie eine sehr egozentrischeAngelegenheitist,<br />

istsie aus<br />

Überzeugung am liebsten alleine<br />

unterwegs.<br />

Auch wenn sie nicht aus religiösen<br />

Gründen pilgert, wie es<br />

derzeitMode ist, macht das Laufen<br />

etwas mit ihr. „Wer auf<br />

Überflüssiges verzichtet, wird<br />

prinzipiell empfänglich für spirituelle<br />

Erlebnisse“,sagtsie. Ihre<br />

Eltern warensehr katholisch,<br />

was sie eher abgeschreckt hat.<br />

Seitsie wandert, geht sie wieder<br />

in die Kirche. Immer in Bewegung<br />

an der frischen Luft, das ist<br />

gesund und macht hungrig. Wie<br />

sieht es mit der Ernährung aus?<br />

Im Gepäck hatsie hauptsächlich<br />

Tütensuppen und Schokoriegel.<br />

Junkfood wiegt nicht viel und<br />

macht schnell satt. Einmal hat<br />

sie in einerStunde vier Snickers<br />

verputzt. Aber mindestens einmal<br />

pro Woche geht sie in die<br />

„Zivilisation“ und versorgt sich<br />

im Supermarktmit Obst, Gemüse<br />

und Milchprodukten.<br />

Bei aller Freiheit gibt es auch<br />

schwierigeZeiten. Neuralgische<br />

Momente sind Tage wie Geburtstag,<br />

Weihnachten oder<br />

Neujahr. An ihrem 51. Geburtstag<br />

war sie in Norwegen und<br />

musste 45 Kilometerentlang einerAutostraße<br />

laufen, um zu einer<br />

Tankstelle zu gelangen, wo<br />

esSchokolade gab. Weil die Tafel<br />

mit fünf Euro unverschämt<br />

teuer war, knabberte sie stattdessen<br />

nur Knäckebrot. Unvergessen<br />

ist ein Weihnachten im<br />

Dauerregen inSpanien. Um sie<br />

herum kläffende Hunde. Einziges<br />

Highlight: ein Stück Käsekuchen<br />

ausdem Supermarkt.<br />

Aber spätestens am nächsten<br />

Tag sieht die Welt wieder anders<br />

aus. „MeinLebenist wie ein<br />

bunter Hochglanzkatalog, aus<br />

dem ich mir die schönstenAngebote<br />

auswählen kann“, erzählt<br />

sie. Sie möchte mit niemandem<br />

auf derWelt tauschen. Ein Amerikaner,<br />

den sie auf derWanderschaft<br />

traf, hatihr Lebensgefühl<br />

ganz gut in Worte gefasst: „Das<br />

Langstreckenwandern hat mein<br />

Leben ruiniert. Ich danke Gott<br />

dafür!“ DanielaNoack

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