* REPORT Extrem-Wanderin ChristineThürmer Unterwegsins Glück Keine Tour unter tausend Kilometern: Eine mutige <strong>Berliner</strong>in hat ihr altes Leben aufgegeben, um die Welt laufend zu entdecken –völlig allein. Sie hat es nie bereut In ihrem Stammcafé am Freizeitforum Marzahn hat sich ChristineThürmer eine hochkalorische Wildpreiselbeer-Buttercremeschnitte gegönnt. Sie braucht Energie. In ein paar Tagen startet sie eine 6500 Kilometer lange Wanderung, diesie von Irland über die Alpen und den Balkan bis nach Griechenland führt. 35 Kilometer wird sie, bepacktmit Zelt und Ausrüstung, durchschnittlich pro Tagzurücklegen. Obwohl sie inzwischeninder Szeneals „die meistgewanderte Frau der Welt“ giltund mit insgesamt zurückgelegten 45 000 Kilometern mehr als einmalumdie Erde gelaufen ist, stellt sie sich vor dem Aufbruch zu einer neuen Tour jedes Mal die gleiche Frage: „Warum tue ichmir das eigentlich an?“ Beruflichmachte sie als ManagerininderUnternehmenssanierung Karriere. Eigentlich hätte alles immer so weitergehenkönnen. Doch dann wurde ihr gekündigt. Viel einschneidender noch war der Schlaganfall, den ein guter Freund nur wenig später erlittund an dessen Folgen er kurz darauf starb. Er war nur zehn Jahre älter als sie. Und sie fragte sich: Was hätte erwohl gerne gemacht, wenn er weitergelebt hätte? Sie begriff: Unsere wichtigste Ressource ist die Lebenszeit, und die ist nicht vermehrbarwie Geld. Im Jahr 2004 ging Christine Thürmer den 4277 Kilometer langen Pacific Crest Trail, der von Mexiko nach Kanada führt. Nach zwei Wochen warihr klar, dasssie „auf dem richtigenWeg“ war. Nach und nach stieg sie ganz ausihrem bisherigenLeben aus. Während sie den Kamm zu Hause lässt –estun auch zehn Finger –darf die neueste Technik nicht fehlen: Smartphone, Powerbank und Klapptastatur. Morgensumsechs postet die 52- Jährige ihre Erlebnisseauf Facebook und Instagram. Über ihren Blog ist sie weltweit vernetzt. Das GPS-Navigationsgerät hilft bei der Vorbereitung der Tagesetappen. Die Logistik muss bis ins kleinste Detail stimmen. Wo ist der nächste Supermarkt? Wo die nächste Wasserquelle? Das Fotos: Daniela Noack Zelt ist multifunktional eingerichtet.Der Kleidersack dient als Kopfkissen und Bürostuhl zugleich. Christine Thürmer ist das lebende Beispiel dafür, dass der Ausstieg aus einer bürgerlichen Existenzund Erfolg kein Widerspruch sein müssen. Ihre Reiseberichte verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum mehr als 100000-mal und standen insgesamt überein Jahrauf der “Spiegel“-Bestsellerliste. In der wanderfreien Zeit schreibt sie in ihrerEinzimmerwohnung in Marzahn ein drittes Buch, es soll im Frühjahr erscheinen. Mehr noch als die schönen Landschaftengenießtsie es,„im HierundJetztzuleben“. Pro Tag hat sie nur noch zwei wirklich wichtige Termine: den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang. Sie liebt „die Reduzierung der Grundbedürfnisse aufs Minimum“. Jede noch so kleine Annehmlichkeit wird plötzlich zum großen Geschenk: das Glück, sichimFluss waschenzukönnen odermal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu dürfen. Überlaufene Strecken wie den Jakobsweg oderden West Highland Way in Schottland meidet Christine Thürmer ist oft wochenlang allein unterwegs. Hier testet sie ihreAusrüstung im TreptowerPark. sie. Sie war schon in Gegenden unterwegs, wo es in 50 oder100 Kilometern Entfernung keinen einzigen Menschen gab. Alleine wandern als Frau? Machtihr das keine Angst?„In jeder Großstadt gibt es mehr Gefahren als im Wald“, glaubt sie. Allein reisende Frauen haben sogar Vorteile. Wenn sie bei Fremden an der Tür klingeltund um Wasser bittet, ist die Hilfsbereitschaft groß. Jede kleine Annehmlichkeit wird zum Geschenk Und die nimmt mit steigendem Alter noch zu. Christine Thürmer nennt das den „Oma-Bonus“. Trotz ihrer stattlichen 1,84 Meter hat aber auch sie schonbeängstigende Situationen erlebt – auch wenn sie sich schnell als harmlos erwiesen. Der merkwürdige Mann im Jogginganzug, der allein durch den Wald strich, war ein Pilzsammler. Die vielen Männer, dieineiner verlassenen Gegend Frankreichs mitten in der Nacht mit Taschenlampen anihremZeltvorbeiliefen,machten eine Militärübung.Auf ihren Wanderungen sind ihr Klapperschlangen und der gefürchtete Grizzlybär begegnet – weitaus mehr Angst machen ihr jedoch Tiere, die schwer zuentdecken sind: Zecken. Zweimal hatte sie schon Borreliose, weshalb sie sich jeden Tag gründlich absucht. Unterwegs trifft sie häufig Menschen in Lebenskrisen,welche, die einen Partner verloren oder andere Schicksalsschläge zu verarbeiten haben. Auf den amerikanischen Trails sind viele traumatisierte Kriegsveteranen unterwegs. Für Christine Thürmer ist eine Extremwanderung allerdings eine schlechteVoraussetzung, um sich selbst zu finden, wie es Bücher wie „Wild“ oder „Picknick mit Bären“ versprächen. Den Wanderer erwarten viele Herausforderungen. Ein emotionales Päckchen, schmerzende Knie und drei Wochen Dauerregen können Menschen an ihre Grenzen bringen. „Man sollte deshalb schon im Vorfeld gut mit sich und auch mit der Einsamkeit klarkommen“, sagt sie. Weil das Langstreckenwandern für sie eine sehr egozentrischeAngelegenheitist, istsie aus Überzeugung am liebsten alleine unterwegs. Auch wenn sie nicht aus religiösen Gründen pilgert, wie es derzeitMode ist, macht das Laufen etwas mit ihr. „Wer auf Überflüssiges verzichtet, wird prinzipiell empfänglich für spirituelle Erlebnisse“,sagtsie. Ihre Eltern warensehr katholisch, was sie eher abgeschreckt hat. Seitsie wandert, geht sie wieder in die Kirche. Immer in Bewegung an der frischen Luft, das ist gesund und macht hungrig. Wie sieht es mit der Ernährung aus? Im Gepäck hatsie hauptsächlich Tütensuppen und Schokoriegel. Junkfood wiegt nicht viel und macht schnell satt. Einmal hat sie in einerStunde vier Snickers verputzt. Aber mindestens einmal pro Woche geht sie in die „Zivilisation“ und versorgt sich im Supermarktmit Obst, Gemüse und Milchprodukten. Bei aller Freiheit gibt es auch schwierigeZeiten. Neuralgische Momente sind Tage wie Geburtstag, Weihnachten oder Neujahr. An ihrem 51. Geburtstag war sie in Norwegen und musste 45 Kilometerentlang einerAutostraße laufen, um zu einer Tankstelle zu gelangen, wo esSchokolade gab. Weil die Tafel mit fünf Euro unverschämt teuer war, knabberte sie stattdessen nur Knäckebrot. Unvergessen ist ein Weihnachten im Dauerregen inSpanien. Um sie herum kläffende Hunde. Einziges Highlight: ein Stück Käsekuchen ausdem Supermarkt. Aber spätestens am nächsten Tag sieht die Welt wieder anders aus. „MeinLebenist wie ein bunter Hochglanzkatalog, aus dem ich mir die schönstenAngebote auswählen kann“, erzählt sie. Sie möchte mit niemandem auf derWelt tauschen. Ein Amerikaner, den sie auf derWanderschaft traf, hatihr Lebensgefühl ganz gut in Worte gefasst: „Das Langstreckenwandern hat mein Leben ruiniert. Ich danke Gott dafür!“ DanielaNoack
* SEITE19 BERLINER KURIER, Montag, 5. August 2019 Die Reiseberichte vonChristine Thürmer verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum mehr als 100000-mal.