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16 KULTUR JOKER Kultour<br />

Gute Bücher – neu oder neu aufgelegt<br />

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse<br />

Ein Mensch möchte er werden,<br />

keine Funktion sein. Freude an<br />

Besitz ist ihm fremd: „Er wollte<br />

ja nur mitlieben, mithelfen,<br />

Glück zu schaffen und schönes<br />

Dasein.“ So denkt der Protagonist<br />

in „Der Kramladen des<br />

Glücks“ (1913), dem soeben neu<br />

aufgelegten Roman von Franz<br />

Hessel. Dass er nicht zielgerichtet<br />

sei und keinen Beruf anstrebe,<br />

hält man Gustav Behrendt<br />

vor. Doch die Welt interessiert<br />

ihn unbedingt. Bei einem Spaziergang<br />

durch winklige Gassen<br />

in Basel entdeckt er einen „Spezereiladen“<br />

und ist fasziniert<br />

von all den unnützen Dingen,<br />

die dort zu sehen sind. Ähnlich<br />

beeindruckt ihn später eine Gemischtwarenhandlung,<br />

in der<br />

Walnüsse, Äpfel und Feigen neben<br />

einem Holzkreisel lagern.<br />

Solche Vielfalt versetzt ihn in<br />

Badenweiler Literaturtage <strong>10</strong>.–13. Oktober <strong>2019</strong><br />

DICHTUNG UND WAHRHEIT<br />

AUTOBIOGRAPHISCHES IN DER LITERATUR<br />

TUR<br />

Gastgeber Rüdiger Safranski empfängt:<br />

Uwe Tellkamp<br />

Angelika Klüssendorf<br />

Mariana Leky<br />

Sylvie Schenk<br />

F. C. Delius<br />

Bodo Kirchhoff<br />

Christian Berkel<br />

Christoph Brech<br />

www.badenweiler-literaturtage.de<br />

Badenweiler<br />

Literaturtage<br />

<strong>2019</strong><br />

seine Kindheit zurück, eine Zeit<br />

ohne Pläne und Absichten. „Der<br />

Kramladen des Glücks“ folgt<br />

zwar den Stationen des klassischen<br />

Bildungsromans - Kindheit,<br />

Jugend, frühes Erwachsenenalter<br />

-, aber der Held, den die<br />

sinnliche Liebe zunehmend seelisch<br />

erschüttert, arbeitet sich an<br />

nichts ab, sondern eignet sich die<br />

Welt offen und staunend an, als<br />

sei er ein Fremder. Auch wenn<br />

das Buch, soeben neu ediert,<br />

keine Autobiographie ist, erkennen<br />

wir hier die Haltung des<br />

Flaneurs Franz Hessel.<br />

Tomi Ungerer war ein unabhängiger<br />

Geist, worauf bereits<br />

der Titel seines Buches weist:<br />

„Die Gedanken sind frei. Meine<br />

Kindheit im Elsass“. An dessen<br />

Inhalt sind nicht nur die erzählten<br />

Erlebnisse eines hellsichtigen<br />

Heranwachsenden bedeutend,<br />

sondern insbesondere die<br />

naiven Zeichnungen, die er in<br />

dieser Zeit angefertigt hat. Er ist<br />

neun Jahre alt, als 1940 das Elsass<br />

besetzt wird und seine französischsprachigen<br />

Lehrer durch<br />

deutsche ersetzt werden; aus Jean-Thomas,<br />

Tomi genannt, wird<br />

Hans oder Johann, der in der<br />

Schule nun in Sütterlinschrift<br />

schreiben muss und einen Juden<br />

malen. Warum soll er aber nicht<br />

zur HJ und mitreißende Nazilieder<br />

singen? Schließlich haben<br />

die Besatzer für das Kind auch<br />

sympathische Seiten. Ungerer<br />

betreibt keine Schwarzweißmalerei,<br />

da er weder Vichy-Franzose<br />

noch Nazi-Deutscher war,<br />

erfährt er sich frei von Schuld<br />

und kann Scherze treiben.<br />

Drei zentrale Werke der<br />

französischen Autorin Annie<br />

Ernaux, „Die Jahre“, „Erinnerungen<br />

eines Mädchens“ und<br />

„Der Platz“ wurden ins Deutsche<br />

übersetzt und seither oft<br />

getadelt oder gepriesen; z.B.<br />

sagt Jürgen Habermas über „Die<br />

Jahre“: „Die ethnologische Beschreibung<br />

ihrer gewissermaßen<br />

depersonalisierten Lebensgeschichte<br />

im Spiegel der französischen<br />

Zeit- und Gesellschaftsgeschichte,<br />

davon bin ich ganz<br />

hingerissen.“ Annie Ernaux<br />

zeigt sich als genaue Beobachterin<br />

ihrer Erfahrungen, ruft die<br />

Bedingungen des weiblichen Erwachsenwerdens<br />

in den 1950er<br />

Jahren ins Gedächtnis und erkundet<br />

in „Der Platz“ den auf<br />

ihrem Vater lastenden Überlebensdruck<br />

und den gesellschaftlichen<br />

Aufstieg ihrer Eltern, der<br />

ihr jedoch die Chance eröffnet,<br />

weiterzukommen. Dabei entfernt<br />

sie sich von ihrem Milieu,<br />

so wie ihre Literatur weit über<br />

persönliche Fakten hinausgeht.<br />

Mit den spezifischen Prägungen<br />

einer ganzen Generation<br />

in Deutschland befasst sich die<br />

Studie von Sabine Bode „Nachkriegskinder.<br />

Die 1950er Jahrgänge<br />

und ihre Soldatenväter.“<br />

Sie führt zahllose Biographien<br />

an, die krasse Herkunftsgeschichten<br />

verarbeiten, geprägt<br />

von Schwarzer Pädagogik.<br />

Durchweg hatte eine durch Nazizeit<br />

und Krieg markierte Elterngeneration<br />

äußerste Mühe,<br />

eine Sprache für das zu finden,<br />

was sie plagte, unfrei und gewalttätig<br />

machte. Das Ansprechen<br />

von Vergangenheit führte<br />

- in den im Buch beleuchteten<br />

Familien - stetig zu Ärger und<br />

Streit, Nachdenken galt als unerwünscht<br />

und war suspekt;<br />

Trunksucht, Kindesmissbrauch<br />

und Prügel für „schwererziehbare<br />

Kinder“ waren alltäglich.<br />

Sabine Bodes Sachbuch weist<br />

auf transgenerationelle Traumata,<br />

die kontinuierlich auch in<br />

der deutschen Gegenwartsliteratur<br />

auftauchen.<br />

So setzt sich etwa Andreas<br />

Maier in „Die Familie“ mit den<br />

Abgründen einer deutschen<br />

Kleinfamilie auseinander, geprägt<br />

von Unrecht und Verleugnung<br />

der NS-Zeit. In Maiers<br />

siebtem Teil seiner sogenannten<br />

„Ortsumgehung“, die stetig nach<br />

Friedberg in der Wetterau führt,<br />

zerrt der Erzähler auf geradezu<br />

atemlose Weise Verdrängtes<br />

zu Tage und entlarvt, mittels<br />

knapper, präzise geschriebener<br />

Szenen und Dialoge, Zug um<br />

Zug einen Familienmythos,<br />

dem er selbst aufgesessen war.<br />

Nicht etwa steht sein Elternhaus<br />

auf einem von jeher ererbten<br />

Grundstück, vielmehr wurde<br />

dieses einer jüdischen Familie<br />

günstig „abgenommen“. Auf<br />

die Profitorientierung ihrer Eltern,<br />

auf Zwist und Ungesagtes,<br />

die unter der Familienoberfläche<br />

brodeln, reagieren die Kinder<br />

dieser „Schweigekinder“ mit<br />

wilden Ausbruchs- und Fluchtversuchen,<br />

die für den Zerfall<br />

der Idylle sorgen. Wie lakonisch<br />

dies festgestellt wird, das macht<br />

den Autor Andreas Maier herausragend.<br />

Die ostdeutsche Variante<br />

des Dramas findet sich in Ines<br />

Geipels „Mein Bruder, der<br />

Osten und der Hass“; mit diesem<br />

faktengesättigten Bericht<br />

bricht Geipel das „toxische<br />

Schweigen“ auf, mit dem die<br />

Stasi-Tätigkeit ihres Vaters sowie<br />

die SS-Vergangenheit ihrer<br />

beiden Großväter verhüllt und<br />

vernebelt wurde. Geipel verbindet<br />

ihre biographische Reflexion<br />

mit Studien zu den von<br />

der SED-Diktatur auferlegten<br />

Zwängen, zu deren antifaschistischen<br />

Konstruktionen sowie<br />

ihrer Verharmlosung rechtslastiger<br />

Milieus. Geibels sprachgewaltige<br />

Aufdeckungsschrift<br />

leistet einen genauen Blick auf<br />

die politischen und psychologischen<br />

Wirkungsmechanismen<br />

der DDR-Gesellschaft, er unbequem<br />

ist, aber sehr hilfreich<br />

beim Verstehen heutiger Probleme<br />

sein kann.<br />

● Franz Hessel. Der Kramladen<br />

des Glücks. Nachwort von<br />

Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag<br />

<strong>2019</strong><br />

● Tomi Ungerer. Die Gedanken<br />

sind frei. Meine Kindheit im<br />

Elsass. Diogenes 2018<br />

● Annie Ernaux. Die Jahre.<br />

Erinnerungen eines Mädchens.<br />

Der Platz. Suhrkamp Verlag<br />

2018-19<br />

● Sabine Bode. Nachkriegskinder.<br />

Die 1950er Jahrgänge<br />

und ihre Soldatenväter. Klett-<br />

Cotta <strong>2019</strong><br />

● Andreas Maier. Die Familie.<br />

Suhrkamp <strong>2019</strong><br />

● Ines Geipel. Mein Bruder,<br />

der Osten und der Hass. Klett-<br />

Cotta <strong>2019</strong><br />

Cornelia Frenkel

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