30.09.2019 Aufrufe

-flip_joker_2019-10

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

THEATER KULTUR JOKER 5<br />

Verzauberte Endlosschleifen<br />

Fulminanter Einstand des neuen Intendanten Aviel Cahn mit Philipp Glass‘ „Einstein on the Beach“ in Genf<br />

Einstein on the Beach<br />

Foto: Carole Parodi<br />

Klaviere, Digitalpianos, Flügel, Stimmungen, Reparaturen, Konzertdienst<br />

Untere Schwarzwaldstr. 9 a, 79117 Freiburg, Tel. 07 61 - 790 700, www.lepthien.de, info@lepthien.de<br />

anz_lepthien_studium-generale_<strong>10</strong>-2015.indd 1 14.<strong>10</strong>.15 15:35<br />

Menschen fliegen durch die<br />

Luft, ein Pferd zieht langsam<br />

seine Kreise. Die endlosen Dauerschleifen<br />

der Musik heben<br />

das Zeitgefühl auf, die formidablen<br />

Tänzer und Schauspieler<br />

der Compagnia Finzi Pasca<br />

die Schwerkraft. Nach knapp<br />

vier Stunden Sitzen kann man<br />

im Genfer Opernhaus zwar seine<br />

Beine kaum mehr bewegen,<br />

aber man möchte nicht eine<br />

Minute dieses Theaterzaubers<br />

missen. Mit großen Worten hat<br />

der neue Intendant Aviel Cahn<br />

seinen Dienstantritt am Grand<br />

Théâtre de Genève angekündigt.<br />

Der Züricher, der in den letzten<br />

zehn Jahren die Flämische<br />

Oper in Antwerpen/Gent geleitet<br />

hatte, will das Haus zum<br />

ersten Opernhaus der Schweiz<br />

machen, möchte Antworten auf<br />

Fragen von heute finden, neue<br />

Publikumsschichten gewinnen<br />

und ungewöhnliche Zugänge zu<br />

den Opernstoffen schaffen. Die<br />

Eröffnung der Saison mit Philip<br />

Glass‘ 1976 entstandener, vieraktiger<br />

Oper (als Schweizer Erstaufführung),<br />

die der Komponist<br />

in enger Zusammenarbeit mit<br />

dem Regisseur Robert Wilson<br />

konzipierte, ist ein echtes Statement:<br />

Eine Oper ohne Handlung,<br />

ohne Pause und (bis auf eine<br />

einzige Arie) ohne Solisten. Die<br />

gesamte Musik findet im Orchestergraben<br />

statt. Die neun Szenen<br />

und fünf sogenannten Knee<br />

Plays, instrumentale Zwischenstücke,<br />

sind nur durch kurze<br />

Atempausen getrennt. Dann zieht<br />

die Musik wieder neue Kreise in<br />

meist zwei- oder viertaktigen<br />

Loops und einfachen Tonwechseln.<br />

Es ist gestattet, jederzeit<br />

das Opernhaus während der Vorstellung<br />

zu verlassen und wieder<br />

zurückzukommen, lautet die Information<br />

für die Premierengäste<br />

bei Betreten des Zuschauersaals.<br />

Dass am Ende dann doch viele<br />

frei gewordene Plätze im Parkett<br />

leer bleiben, sind als Reibungsverluste<br />

zu verbuchen, die solch<br />

ein ungewöhnliches Werk mit<br />

sich bringt.<br />

Man muss sich einlassen auf<br />

die unzähligen Wiederholungen,<br />

auf die monotonen Dauerschleifen,<br />

auf den begrenzten Tonvorrat<br />

und die Einheitsdynamik.<br />

Jede Modulation gleicht einer<br />

Sensation. Und wenn nach vielen<br />

Minuten Repetition ein Akkord<br />

einmal neu zerlegt wird oder<br />

sich die rhythmischen Schwerpunkte<br />

verschieben, dann ist das<br />

ein echter Wachmacher. Dirigent<br />

Titus Engel setzt mit Studenten<br />

der Genfer Musikhochschule die<br />

Partitur nicht nur enorm präzise<br />

um, sondern gestaltet immer<br />

auch Phrasierungen. Da wird<br />

nichts maschinell. Selbst in den<br />

Tonleiterketten sind Zieltöne<br />

eingebaut, die auch helfen, die<br />

Chor- und Instrumentalstimmen<br />

perfekt übereinanderlappen zu<br />

lassen. Alles, was aus dem Orchestergraben<br />

tönt, hat Leichtigkeit<br />

und Raffinesse. Auch die<br />

fantasievolle, bildstarke Inszenierung<br />

von Daniele Finzi Pasca<br />

hat diese spielerische, verspielte<br />

Ebene. Eigentlich betreut der in<br />

Lugano beheimatete Regisseur<br />

mit seiner virtuosen Kompanie<br />

große Shows von olympischen<br />

Spielen oder dem Cirque du Soleil.<br />

Zu dieser Oper passt sein<br />

Theaterzauber perfekt, weil er<br />

mit einfachen Mitteln poetische<br />

Bilder schafft und dabei immer<br />

wieder überrascht mit ungewöhnlichen<br />

Brechungen oder<br />

Fortspinnungen. Vor allem aber<br />

ist seine Inszenierung zutiefst<br />

musikalisch und arbeitet genauso<br />

mit Wiederholung und Variation,<br />

wie es Philip Glass tut. In<br />

Albert Einsteins Arbeitszimmer<br />

treten immer die gleiche Leute<br />

auf (Bühne: Hugo Gargiulo)<br />

– Bücher werden gestapelt und<br />

umgeworfen, Fahrradfelgen drehen<br />

sich. Aber dann wächst das<br />

Bücherregal unmerklich immer<br />

höher in den Theaterhimmel und<br />

ein Papierflieger gewinnt ein Eigenleben<br />

und macht ferngesteuert<br />

ein paar Loopings. Auf ganz<br />

spielerische Weise hebt Daniele<br />

Finzi Pasca die Naturgesetze<br />

auf. Bei der Strandszene (Rolando<br />

Tarquini als Albert Einstein)<br />

fliegt, gehalten von zwei Stahlseilen,<br />

eine Meerjungfrau durch<br />

die Lüfte (Kostüme: Giovanna<br />

Buzzi). Beim poetischen Schattentheater<br />

werden Figuren riesig<br />

groß und dann wieder klein. Und<br />

wenn sich der Vorhang hebt und<br />

man das weiße Pferd in ganzer<br />

Schönheit sieht, wie es in einer<br />

ganz intimen Szene behutsam<br />

gewaschen und gebürstet wird,<br />

dann ereignet sich der nächste<br />

große Theatermoment.<br />

Zu diesen ungewöhnlichen, immer<br />

ästhetischen Bilderwelten ist<br />

die Musik der passende Soundtrack<br />

– und umgekehrt. Bühne<br />

und Orchestergraben werden zur<br />

Einheit. Die Inszenierung steuert<br />

sogar Musikalisches bei: Das<br />

Schnarren der Federbälle auf den<br />

Schlägern und das gleichmäßige<br />

Klacken der Hufe geben dem<br />

musikalischen Flow noch zusätzliche<br />

rhythmische Impulse.<br />

Genial, wenn das um 90 Grad<br />

gekippte Bühnenbild von oben<br />

gefilmt wird und die Figuren auf<br />

dem synchron übertragenen Video<br />

scheinbar schweben. Immer<br />

neue Kunststücke werden von<br />

den Tänzerinnen und Tänzern<br />

realisiert (Choreographie: Maria<br />

Bonzanigo). Albert Einstein steht<br />

staunend davor und macht sich<br />

Notizen – und wahrscheinlich<br />

Alsace – Baden-Württemberg – Basel<br />

auch Gedanken zu seiner Relativitätstheorie.<br />

Die wenigen Texte<br />

spricht vor allem Beatriz Sayad<br />

als Harlekin, wenn sie etwa zur<br />

Gleichberechtigung der Frau<br />

aufruft und dabei von der Geigerin<br />

Madoka Sakitsu mit Tonleiterketten<br />

geschmückt wird.<br />

Nur Ana Gabaldons Sopransolo<br />

geht ein wenig im geschmeidigen<br />

Kampf der Toreros unter.<br />

Am Ende kehrt die Musik zum<br />

Anfang zurück – und auch die<br />

Inszenierung schlägt den Bogen.<br />

Das Bücherregal wächst, die Papierflieger<br />

segeln. Und die Braut<br />

entschwebt in den Himmel, wo<br />

sie ein großes Plädoyer für die<br />

Liebe hält.<br />

Georg Rudiger<br />

transitions übergänge<br />

les journées<br />

de l’architecture<br />

die Architekturtage<br />

27.09 ,31.<strong>10</strong> <strong>2019</strong><br />

www.europa-archi.eu

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!