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THEATER KULTUR JOKER 5<br />
Verzauberte Endlosschleifen<br />
Fulminanter Einstand des neuen Intendanten Aviel Cahn mit Philipp Glass‘ „Einstein on the Beach“ in Genf<br />
Einstein on the Beach<br />
Foto: Carole Parodi<br />
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Menschen fliegen durch die<br />
Luft, ein Pferd zieht langsam<br />
seine Kreise. Die endlosen Dauerschleifen<br />
der Musik heben<br />
das Zeitgefühl auf, die formidablen<br />
Tänzer und Schauspieler<br />
der Compagnia Finzi Pasca<br />
die Schwerkraft. Nach knapp<br />
vier Stunden Sitzen kann man<br />
im Genfer Opernhaus zwar seine<br />
Beine kaum mehr bewegen,<br />
aber man möchte nicht eine<br />
Minute dieses Theaterzaubers<br />
missen. Mit großen Worten hat<br />
der neue Intendant Aviel Cahn<br />
seinen Dienstantritt am Grand<br />
Théâtre de Genève angekündigt.<br />
Der Züricher, der in den letzten<br />
zehn Jahren die Flämische<br />
Oper in Antwerpen/Gent geleitet<br />
hatte, will das Haus zum<br />
ersten Opernhaus der Schweiz<br />
machen, möchte Antworten auf<br />
Fragen von heute finden, neue<br />
Publikumsschichten gewinnen<br />
und ungewöhnliche Zugänge zu<br />
den Opernstoffen schaffen. Die<br />
Eröffnung der Saison mit Philip<br />
Glass‘ 1976 entstandener, vieraktiger<br />
Oper (als Schweizer Erstaufführung),<br />
die der Komponist<br />
in enger Zusammenarbeit mit<br />
dem Regisseur Robert Wilson<br />
konzipierte, ist ein echtes Statement:<br />
Eine Oper ohne Handlung,<br />
ohne Pause und (bis auf eine<br />
einzige Arie) ohne Solisten. Die<br />
gesamte Musik findet im Orchestergraben<br />
statt. Die neun Szenen<br />
und fünf sogenannten Knee<br />
Plays, instrumentale Zwischenstücke,<br />
sind nur durch kurze<br />
Atempausen getrennt. Dann zieht<br />
die Musik wieder neue Kreise in<br />
meist zwei- oder viertaktigen<br />
Loops und einfachen Tonwechseln.<br />
Es ist gestattet, jederzeit<br />
das Opernhaus während der Vorstellung<br />
zu verlassen und wieder<br />
zurückzukommen, lautet die Information<br />
für die Premierengäste<br />
bei Betreten des Zuschauersaals.<br />
Dass am Ende dann doch viele<br />
frei gewordene Plätze im Parkett<br />
leer bleiben, sind als Reibungsverluste<br />
zu verbuchen, die solch<br />
ein ungewöhnliches Werk mit<br />
sich bringt.<br />
Man muss sich einlassen auf<br />
die unzähligen Wiederholungen,<br />
auf die monotonen Dauerschleifen,<br />
auf den begrenzten Tonvorrat<br />
und die Einheitsdynamik.<br />
Jede Modulation gleicht einer<br />
Sensation. Und wenn nach vielen<br />
Minuten Repetition ein Akkord<br />
einmal neu zerlegt wird oder<br />
sich die rhythmischen Schwerpunkte<br />
verschieben, dann ist das<br />
ein echter Wachmacher. Dirigent<br />
Titus Engel setzt mit Studenten<br />
der Genfer Musikhochschule die<br />
Partitur nicht nur enorm präzise<br />
um, sondern gestaltet immer<br />
auch Phrasierungen. Da wird<br />
nichts maschinell. Selbst in den<br />
Tonleiterketten sind Zieltöne<br />
eingebaut, die auch helfen, die<br />
Chor- und Instrumentalstimmen<br />
perfekt übereinanderlappen zu<br />
lassen. Alles, was aus dem Orchestergraben<br />
tönt, hat Leichtigkeit<br />
und Raffinesse. Auch die<br />
fantasievolle, bildstarke Inszenierung<br />
von Daniele Finzi Pasca<br />
hat diese spielerische, verspielte<br />
Ebene. Eigentlich betreut der in<br />
Lugano beheimatete Regisseur<br />
mit seiner virtuosen Kompanie<br />
große Shows von olympischen<br />
Spielen oder dem Cirque du Soleil.<br />
Zu dieser Oper passt sein<br />
Theaterzauber perfekt, weil er<br />
mit einfachen Mitteln poetische<br />
Bilder schafft und dabei immer<br />
wieder überrascht mit ungewöhnlichen<br />
Brechungen oder<br />
Fortspinnungen. Vor allem aber<br />
ist seine Inszenierung zutiefst<br />
musikalisch und arbeitet genauso<br />
mit Wiederholung und Variation,<br />
wie es Philip Glass tut. In<br />
Albert Einsteins Arbeitszimmer<br />
treten immer die gleiche Leute<br />
auf (Bühne: Hugo Gargiulo)<br />
– Bücher werden gestapelt und<br />
umgeworfen, Fahrradfelgen drehen<br />
sich. Aber dann wächst das<br />
Bücherregal unmerklich immer<br />
höher in den Theaterhimmel und<br />
ein Papierflieger gewinnt ein Eigenleben<br />
und macht ferngesteuert<br />
ein paar Loopings. Auf ganz<br />
spielerische Weise hebt Daniele<br />
Finzi Pasca die Naturgesetze<br />
auf. Bei der Strandszene (Rolando<br />
Tarquini als Albert Einstein)<br />
fliegt, gehalten von zwei Stahlseilen,<br />
eine Meerjungfrau durch<br />
die Lüfte (Kostüme: Giovanna<br />
Buzzi). Beim poetischen Schattentheater<br />
werden Figuren riesig<br />
groß und dann wieder klein. Und<br />
wenn sich der Vorhang hebt und<br />
man das weiße Pferd in ganzer<br />
Schönheit sieht, wie es in einer<br />
ganz intimen Szene behutsam<br />
gewaschen und gebürstet wird,<br />
dann ereignet sich der nächste<br />
große Theatermoment.<br />
Zu diesen ungewöhnlichen, immer<br />
ästhetischen Bilderwelten ist<br />
die Musik der passende Soundtrack<br />
– und umgekehrt. Bühne<br />
und Orchestergraben werden zur<br />
Einheit. Die Inszenierung steuert<br />
sogar Musikalisches bei: Das<br />
Schnarren der Federbälle auf den<br />
Schlägern und das gleichmäßige<br />
Klacken der Hufe geben dem<br />
musikalischen Flow noch zusätzliche<br />
rhythmische Impulse.<br />
Genial, wenn das um 90 Grad<br />
gekippte Bühnenbild von oben<br />
gefilmt wird und die Figuren auf<br />
dem synchron übertragenen Video<br />
scheinbar schweben. Immer<br />
neue Kunststücke werden von<br />
den Tänzerinnen und Tänzern<br />
realisiert (Choreographie: Maria<br />
Bonzanigo). Albert Einstein steht<br />
staunend davor und macht sich<br />
Notizen – und wahrscheinlich<br />
Alsace – Baden-Württemberg – Basel<br />
auch Gedanken zu seiner Relativitätstheorie.<br />
Die wenigen Texte<br />
spricht vor allem Beatriz Sayad<br />
als Harlekin, wenn sie etwa zur<br />
Gleichberechtigung der Frau<br />
aufruft und dabei von der Geigerin<br />
Madoka Sakitsu mit Tonleiterketten<br />
geschmückt wird.<br />
Nur Ana Gabaldons Sopransolo<br />
geht ein wenig im geschmeidigen<br />
Kampf der Toreros unter.<br />
Am Ende kehrt die Musik zum<br />
Anfang zurück – und auch die<br />
Inszenierung schlägt den Bogen.<br />
Das Bücherregal wächst, die Papierflieger<br />
segeln. Und die Braut<br />
entschwebt in den Himmel, wo<br />
sie ein großes Plädoyer für die<br />
Liebe hält.<br />
Georg Rudiger<br />
transitions übergänge<br />
les journées<br />
de l’architecture<br />
die Architekturtage<br />
27.09 ,31.<strong>10</strong> <strong>2019</strong><br />
www.europa-archi.eu