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Berliner Zeitung 01.10.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 228 · D ienstag, 1. Oktober 2019 11<br />

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Berlin<br />

Anwalt schlägt Massen-Kündigungen vor<br />

Eigentümer sollen mit Inkrafttreten des Mietendeckels Verträge auflösen dürfen. Mietervertreter zeigen sich entsetzt. Ein Bündnis ruft zu Demo am 3. Oktober auf<br />

VonUlrich Paul<br />

Kurz vor dem für Mitte Oktober<br />

erwarteten Senatsbeschluss<br />

über das Mietendeckelgesetz<br />

fährt die<br />

Vermieterseite schärferes Geschütz<br />

gegen die geplante Regelung auf. Der<br />

Rechtsanwalt Tobias Scheidacker,<br />

Vorsitzender des Haus- und Grundbesitzervereins<br />

Kreuzberg, kommt<br />

in einem Aufsatz für die Fachzeitschrift<br />

Das Grundeigentum zu dem<br />

Schluss, alle vor dem 18. Juni geschlossenen<br />

Mietverträge dürften<br />

mit Inkrafttreten des Mietendeckels<br />

fristlos kündbar sein –wegen Wegfalls<br />

der Geschäftsgrundlage.<br />

Zur Erinnerung: Am 18. Juni hat<br />

der Senat die Eckpunkte für den geplanten<br />

Mietendeckel beschlossen.<br />

Im Kern sollen danach die Mieten für<br />

fünf Jahreeingefroren werden. Nach<br />

dem zwischenzeitlich vorgelegten<br />

Referentenentwurf für den Deckel<br />

sollen aber Mieterhöhungen von 1,3<br />

Prozent jährlich erlaubt sein, sofern<br />

Mietoberwerte von bis zu 9,80 Euro<br />

je Quadratmeter nicht überschritten<br />

werden. Außerdem ist ein Absenken<br />

überhöhter Mieten im Gespräch.<br />

„Mit dem Inkrafttreten des Mietendeckelgesetzes<br />

gelten komplett<br />

andere Rahmenbedingungen als<br />

vorher“, schreibt Anwalt Scheidacker.<br />

Deshalb könnten Verträge, die<br />

nach bisherigem Recht geschlossen<br />

wurden, nicht ohne erneute Prüfung,<br />

ob man sie eingehen möchte,<br />

bestehen bleiben. „Es muss möglich<br />

sein, sich vonVerträgen nach der alten<br />

Rechtslage zu lösen, wenn man<br />

sie nach der neuen Rechtslage nicht<br />

eingehen wollen würde“, argumentiert<br />

der Anwalt. Er belässt es nicht<br />

bei einer rechtlichen Einschätzung,<br />

sondern spricht sogleich eine Empfehlung<br />

aus: „Die richtige Strategie<br />

aus Eigentümersicht ist deshalb, zu<br />

überlegen, welche Mieter am Tagdes<br />

Inkrafttretens des Mietendeckelgesetzes<br />

gekündigt werden sollen, weil<br />

man unter den neuen gesetzlichen<br />

Vorgaben an sie nicht vermietet<br />

hätte, und diese Kündigungen dann<br />

auszusprechen“, so Scheidacker.<br />

Der Mietendeckel soll für 1,5 Millionen Wohnungen gelten.<br />

IMAGO<br />

Der Checkpoint des Tagesspiegels<br />

hatte zuerst darüber berichtet.<br />

Der <strong>Berliner</strong> Mieterverein (BMV)<br />

zeigt sich empört. „Dass der Mietendeckel<br />

einen Wegfall der Geschäftsgrundlage<br />

darstelle und damit die<br />

Mietverhältnisse bei Einführung<br />

einfach gekündigt werden können,<br />

ist mietrechtlich barer Unsinn und<br />

soll offenkundig nur dazu führen,<br />

Mieter zu verängstigen und die Politik<br />

zu verunsichern“, sagt BMV-Geschäftsführer<br />

Reiner Wild. Die massenhafte<br />

Kündigung von Mietverhältnissen<br />

könne nur als „wohnungspolitische<br />

Geisterfahrt“<br />

bezeichnet werden, die letztendlich<br />

den Eigentümern und Vermietern<br />

selbst schade, soWild. „Denn eine<br />

Kündigung bewirkt ja zunächst nur<br />

Leerstand, weil die Vermieter auch<br />

bei Wiedervermietung dem Mietendeckel<br />

unterliegen.“ Ein mehr als<br />

dreimonatiger Leerstand der Wohnung<br />

sei nach dem Verbot der<br />

Zweckentfremdung nicht erlaubt –<br />

genauso wenig wie eine Umnutzung<br />

der Wohnung zu Gewerbezwecken.<br />

„Wäre diese rechtliche Annahme eines<br />

Verbandsvertreters von Haus &<br />

Grund umsetzbar, wäre als Vermieterprotest<br />

gegen den Mietendeckel<br />

eine Massenwohnungslosigkeit in<br />

Berlin die Folge“, so Wild. Der Mieterverein<br />

sei „entsetzt über die Gewissenlosigkeit<br />

diverser Vermieter<br />

und Vermieterverbandsvertreter“.<br />

Die Mietverhältnisse haben laut<br />

Mieterverein auch bei Einführung<br />

des Mietendeckels Bestand.<br />

Unter dem Motto „Richtig deckeln,<br />

dann enteignen“, ruft ein<br />

Bündnis von Mieterinitiativen zu einer<br />

Demonstration am Donnerstag,<br />

den 3. Oktober, auf. „Wir brauchen<br />

jetzt einen Mietendeckel, der hält<br />

und uns langfristig vor Mieterhöhungen<br />

schützt“, heißt es im Aufruf<br />

zu dem Protest. DieVeranstalter fordernzugleich<br />

einen Mietenstopp für<br />

Sozialwohnungen und den Schutz<br />

vor Zwangsräumungen. Die Demo<br />

startet um 13 UhramAlexanderplatz<br />

vor dem Haus des Lehrers und führt<br />

zum Kottbusser Tor. DieVeranstalter<br />

erwarten bis zu 10 000 Teilnehmer.<br />

Hinter verriegelten Türen<br />

VorGericht bestreitet ein leitender Bahnmitarbeiter sexuelle Übergriffe auf Mitarbeiterinnen<br />

VonKatrin Bischoff<br />

Bernhard B. trägt einen Drei-<br />

Tage-Bart. Die dunklen Haare<br />

sind ordentlich gestutzt. Er schaut<br />

nicht ins Publikum, in dem auch<br />

einstige Kollegen vonihm sitzen. Sie<br />

sind ihm, das sieht man ihren Gesichternan,<br />

nicht freundlich gesinnt.<br />

Der 55-jährige ehemalige Vertriebsleiter<br />

der Deutsche-Bahn-Tochter<br />

DB Netz AG steht an diesem Montag<br />

wegen eines schweren Vorwurfs vor<br />

dem Landgericht. Der Mann, der 32<br />

Jahre lang bei der Bahn gearbeitet<br />

hat, soll zwischen 2002 und November<br />

2016 vier Mitarbeiterinnen vergewaltigt<br />

oder sexuell genötigt haben.<br />

BernhardB.bestreitet die Straftaten.<br />

Dievier Frauen sind Nebenklägerinnen<br />

vor Gericht. Sie werden von<br />

einer Anwältin vertreten, auf deren<br />

Antrag die Namen der Betroffenen in<br />

der Anklage nicht öffentlich verlesen<br />

werden –umdie Frauen zu schützen.<br />

DieTaten soll der Angeklagte an<br />

seinen Arbeitsplätzen in Hannover,<br />

Frankfurt amMain und Berlin begangen<br />

haben. Beisogenannten Personalgesprächen,<br />

bei denen er die<br />

Tür voninnen verriegelt haben soll.<br />

Aufgeflogen war der mutmaßliche<br />

Täter vorfast drei Jahren, als sich<br />

eine Frau ihrem unmittelbaren Vorgesetzten<br />

offenbart und erzählt<br />

hatte, ihr Chef habe sie in seinem<br />

Büro küssen und begrapschen wollen.<br />

Zur Rede gestellt, soll Bernhard<br />

B. diese eine Tatsofort zugegeben<br />

haben.<br />

Nur im Strafverfahren legt der<br />

Mann kein Geständnis ab. Im Gegenteil.<br />

Zu den drei ersten Fällen aus<br />

den Jahren 2002, 2004 und 2006, bei<br />

denen es auch um Vergewaltigung<br />

geht, soll der Mann im Ermittlungsverfahren<br />

erklärt haben, die sexuellen<br />

Handlungen hätten einvernehmlich<br />

stattgefunden. So verlautet<br />

es am Rande des Prozesses.<br />

An diesem ersten Verhandlungstag<br />

geht es zunächst nur um die<br />

vierte mutmaßliche Tataus dem November<br />

2016. Und umdie Frau, die<br />

das Verfahren ins Rollen brachte,<br />

nennen wir sie Renate C., auch wenn<br />

sie nicht so heißt. Bernhard B.be-<br />

Die Bahn sieht sich mit einem Missbrauchsfall in den eigenen Reihen konfrontiert. IMAGO<br />

schuldigt sie in seiner Einlassung, sie<br />

sei es gewesen, die damals etwas von<br />

ihm gewollt habe.Aber er habe seine<br />

Ehe und seine Kinder nicht aufs Spiel<br />

setzen, keine Beziehung beginnen<br />

wollen. Er spricht davon, Kontakt zu<br />

Frauen gesucht zu haben. Aber in<br />

diesem Fall habe er doch eigentlich<br />

alles richtig gemacht.<br />

Dann gibt er zu: Er habe sich in<br />

Renate C. verliebt. Als sie ihn<br />

schließlich beschuldigt habe, alle<br />

Frauen angebaggertund eine Schreckensherrschaft<br />

aufgebaut zu haben,<br />

„hatte ich das Gefühl, mir<br />

würde der Boden unter den Füßen<br />

weggerissen“.<br />

Renate C. ist die erste Zeugin in<br />

dem Verfahren. Sieredet mit ruhiger<br />

Stimme,schaut den Angeklagten immer<br />

wieder an. Sie sagt, sie sei noch<br />

heute schockiert von dem, was damals<br />

geschehen sei. Vorallem auch<br />

mit den anderen Frauen. Sie spricht<br />

vom Weggucken. Vom Weghören<br />

und Ignorieren. Auch sie habe damals<br />

nichts auf das Gerede ihre Kolleginnen<br />

gegeben, die sie vor B.gewarnt<br />

hätten. „Ich habe das als pures<br />

Gerücht abgetan“, sagt sie.<br />

Die48-Jährige hatte damals noch<br />

nicht lange bei der DB Netz AG gearbeitet,<br />

als ihr Bernhard B.als Vorgesetzter<br />

bei fachlichen Fragen half. Es<br />

sei ein gutes und kollegiales Verhältnis<br />

gewesen, schildert die Zeugin.<br />

Bis Bernhard B.mitbekam, dass sie<br />

sich von ihrem Ehemann getrennt<br />

hatte. Dasei der Tonanders geworden.<br />

Am 11. November 2016 habe ihr<br />

Chef sie in sein Bürogebeten, weil er<br />

mit ihr angeblich über ihre Beförderung<br />

sprechen wollte. „Er hat mich<br />

plötzlich gedutzt, er hat mehrmals<br />

versucht mich zu küssen, er hat mich<br />

bedrängt. Ich habe mich gewehrt“,<br />

erzählt sie. Erhabe ihr auch gesagt,<br />

dass er seit zehn Jahren in Therapie<br />

sei. Ihrsei es gelungen, aus dem Büro<br />

zu fliehen.<br />

Als Renate C. das Erlebte publik<br />

machte,begannen im Unternehmen<br />

interne Ermittlungen. Mehrere<br />

Frauen –von zehn ist am Rande des<br />

Prozesses die Rede –sollen sich gemeldet<br />

und den Mann beschuldigt<br />

haben. BernhardB.bekam Hausverbot.Vonder<br />

DB Netz AG erhielt er die<br />

fristlose Kündigung. Gegen ihn<br />

wurde als Beamter der Bahn ein Disziplinarverfahren<br />

eingeleitet, das jedoch<br />

erst nach Abschluss des Strafverfahrens<br />

weitergeführt wird. Seit<br />

einiger Zeit lebt er nur noch von einem<br />

Teil seiner Pension. Mindestens<br />

drei weitere Verhandlungstage sind<br />

geplant.<br />

An jedem Prozesstag soll eine der<br />

betroffenen Frauen als Zeugin aussagen.

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