24.10.2019 Aufrufe

LEO November / Dezember 2019

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

KUNST<br />

Also keine Freiheiten?<br />

Nein, ich will nicht alles verteufeln, ich hatte zum Beispiel einen<br />

tollen Kunstlehrer: ein Exzentriker mit einem Plastikseepferdchen<br />

am Gürtel. Der Typ hat sich mehr getraut als die anderen Lehrer.<br />

Ich fand Malerei toll, ich malte selbst, mein bester Freund hat<br />

viel gemalt und gezeichnet. Aber selbst Künstler zu werden, das<br />

konnte ich mir damals nicht vorstellen.<br />

Das kam dann mit der Wende.<br />

Ja, das Entscheidende war allerdings nicht das Leben in der DDR<br />

für mich, sondern zu erleben, wie plötzlich ein ganzes System<br />

endet. Wenn eine ganze Welt zusammenkracht. Wenn von<br />

einem Tag auf den anderen alles anders ist. Ich<br />

denke, das prägt alle Leute, die diese Erfahrung<br />

gemacht haben. Diese Veränderungserfahrung<br />

hat bei mir dafür gesorgt zu denken:<br />

Okay, Jackpot, ich verändere mich jetzt<br />

auch, ich werde Künstler.<br />

Daher die Bilder mit den Zentrifugalkräften,<br />

wo alles im<br />

Wirbel ist und zerfetzt wird.<br />

Recht bedrohlich mitunter ...<br />

Oft ja, aber durchaus nicht auf<br />

allen meinen Bildern. Ich glaube, es<br />

ist der Kippmoment, diese Explosion<br />

an Möglichkeiten. Freiheit kann<br />

auch bedrohlich sein. Es kann sich<br />

alles ändern, zum Guten oder auch zum<br />

Schlechten. Wenn ich heute einen Menschen<br />

kennenlerne, dann kann das ganz toll<br />

werden oder auch komplett schiefgehen. Ich denke<br />

da an ein Kierkegaard-Zitat von Julian Schnabel: „Anxiety is<br />

the dizziness of freedom“ (Angst ist der Schwindel der Freiheit)<br />

... Das klingt cheesy, ist aber gut formuliert. Ich versuche,<br />

in den Bildern die Mehrschichtigkeit von Momenten und den<br />

Taumel sichtbar zu machen.<br />

Wie viel Persönliches fließt in deine Bilder mit ein?<br />

Sehr viel Persönliches! Es kommt nicht alles Private rein, aber<br />

ich will zeigen, was mich beschäftigt. Ich lebe ein paar Jahre,<br />

dann bin ich tot, wovor sollte ich denn Angst haben? Was<br />

habe ich denn zu verbergen? Meine Ängste, Träume, Erlebnisse,<br />

die soll man sehen. Wenn ich zurückschaue auf Bilder, die<br />

ich vor ein paar Jahren gemalt habe, dann kann ich mich gut<br />

an den jeweiligen Moment erinnern und daran, was ich dabei<br />

fühlte.<br />

Bei Malerei will ich Handschrift und Haltung erkennen können.<br />

Ich glaube nicht, dass man sich immer alles offenhalten kann,<br />

ich habe keine Angst davor, festgelegt zu werden. Wieder<br />

durcheinanderbringen kann ich das dann immer noch.<br />

FOTO: M. RÄDEL<br />

und jetzt merken wir: Im Gegenteil, das kocht und brodelt, mit<br />

schmutziger brauner Soße und unglaublich viel Hass.<br />

Haben dich die Wahlergebnisse von deiner Heimat<br />

Leipzig entfremdet?<br />

Ich wuchs dort zehn Jahre auf, meine Heimat ist eher Berlin.<br />

Ich liebe Friedrichshain, einen Kiez mit Klubs wie dem Berghain<br />

und vielen offenen Menschen und Projekten, die so gar nicht in<br />

ein totalitäres Schema passen. Hier bin ich genau richtig. Wobei<br />

ich Heimat eher mit Ideen und Freunden und nicht mit Ländern<br />

verbinde. Nach Tel Aviv kommen viele Leute, weil sie dort etwas<br />

bewegen wollen, dort sammeln sich Ideen.<br />

Ich male zurzeit viel in Andalusien unter freiem Himmel,<br />

das ist wieder anders, 800 Jahre lang lebten<br />

dort Araber, haben die Kultur geprägt, direkt<br />

gegenüber liegt Afrika. Da bekommst du<br />

einen anderen Blick auf Deutschland.<br />

Leipzig ist eine bunte, wunderschöne<br />

Stadt. Eine langjährige Freundin lebt<br />

da, sie hat gerade die Geschlechtsanpassung<br />

zum Mann begonnen, auch<br />

das ist dort möglich.<br />

Du fühlst dich also als Europäer?<br />

Europa ist ein schönes Wort. Vielleicht.<br />

*Interview: Michael Rädel<br />

www.norbertbisky.com<br />

www.facebook.com/norbertbiskyofficial<br />

www.koeniggalerie.com<br />

anonym,<br />

persönlich,<br />

per Mail<br />

oder Chat<br />

Deine Ausstellungen jetzt beschäftigen sich mit dem<br />

Mauerfall ...<br />

Flashbacks aus der Zeit im Osten lassen mich leider nicht los.<br />

Also setze ich mich jetzt noch einmal mit meinen Erinnerungen<br />

auseinander und male Bilder dazu, solange ich noch klar<br />

im Kopf bin. (lacht) Schon im Frühling geht es thematisch<br />

vollkommen anders weiter. Aber jetzt kommt noch mal meine<br />

Wut auf die Leinwand. Hier zum Beispiel ist eine zerrissene<br />

alte Schulkarte aus der DDR gemalt, so etwas baue ich zum<br />

ersten Mal in meine Bilder ein. Ich hoffe, dass ich dann mit<br />

dem Thema abschließen kann.<br />

Eines der Themen der Ausstellung sind auch die<br />

Grabenkämpfe zwischen Ost und West.<br />

Eine Zeit lang schien es, als sei alles relativ okay und friedlich,<br />

aidshilfe-beratung.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!