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Berliner Zeitung 19.11.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · D ienstag, 19. November 2019 – S eite 19<br />

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Feuilleton<br />

Ulrich Seidler über<br />

Ersan Mondtags<br />

„Hass-Triptychon“<br />

Seite 21<br />

„Wie arbeitet man ohne die gewohnte Reibung?“<br />

Dies fragte Christa Wolf Sarah Kirsch nach deren Ausreise– nachzulesen im soeben erschienenen Briefwechsel Seite 20<br />

Protest<br />

Schwache<br />

Löwen in Dover<br />

Susanne Lenz<br />

über ein neues<br />

Anti-Brexit-Kunstwerk<br />

Großbritannien ist tief gespalten<br />

in der Brexit-Frage, und ebenso<br />

gibt es unter den Künstlern Leavers<br />

und Remainers. Und viele drücken<br />

ihre Haltung mit ihrer Kunst aus.<br />

Anish Kapoor etwa hat eine Luftaufnahme<br />

der Insel geschaffen, die von<br />

einer klaffenden Wunde zerrissen<br />

wird, einem Graben, der sich von<br />

Glasgow bis zur Südküste erstreckt.<br />

Susan Stockwell spielt ebenfalls mit<br />

den Umrissen des Landes.Sie hat die<br />

Insel aus grünem Stoff mit Stecknadeln<br />

an eine Wand gepinnt, aber nur<br />

den oberen Teil, also Schottland.<br />

England und Wales –die Brexit-Befürworter<br />

–kollabieren als formlose<br />

Masse.<br />

Vorkurzem ist ein weiteres Werk<br />

dazugekommen. An einem Strand<br />

unter den berühmten Weißen Klippen<br />

vonDover liegen drei Löwen aus<br />

Bronze. Nur, dass sie so gar nicht<br />

aussehen, wie es dem König der<br />

Tiere zukommt, sondern abgemagert,<br />

krank und erschöpft.<br />

DieSkulptur ist einWerk des britischen<br />

Künstlers Jason deCaires Taylor,<br />

erhat ihm den ironischen Titel<br />

„The Pride of Brexit“ gegeben, „Der<br />

Stolz des Brexit“. Die Löwen sind<br />

eine Anspielung auf das englische<br />

Wappen, das drei goldene Löwen auf<br />

rotem Grund zeigt –Ausdruck der<br />

Stärke, des Stolzes, der Macht. Auch<br />

der Ort ist mit Bedacht gewählt: Dover,<br />

Hafenstadt, Tor zum europäischen<br />

Kontinent. Und esgibt noch<br />

mehr Löwen des Künstlers im Land.<br />

Sie liegen –ebenfalls in den letzten<br />

Zuckungen –vor dem Parlament in<br />

London, versehen mit Brexit-Slogans,<br />

die da lauten „Take Back Control“<br />

oder „Get It Done“.<br />

Anish Kapoor hat seine Wunde<br />

mit einer schrecklichen Verletzung<br />

verglichen, die Großbritannien sich<br />

selbst zugefügt hat, wie ein Teenager,<br />

dem es an Selbstwertgefühl mangelt.<br />

Jason deCaires Taylor spricht im<br />

Guardian vom Brexit als einem der<br />

unpatriotischsten Akte,die das Land<br />

je erlebt hat. Doch seine Löwen sind<br />

schon zu schwach, um dagegen aufzubegehren.<br />

Die Rauminstallation „seeing is believing“ von Caline Aoun im Palais Populaire.<br />

Donna Quichotte wider lärmende Daten<br />

Caline Aoun transformiert im Palais Populaire die mediale Überflutung unserer Zeit ins Analoge<br />

VonIngeborg Ruthe<br />

Die sanfte Calin Aoun aus<br />

Beirut leidet an dieser<br />

Welt. An den realen Zerstörungen<br />

wie den digitalen<br />

Verstörungen. Aber sie jammert<br />

nicht. Ihr trotziges Statement<br />

lautet: „Sehen heißt glauben“. Und<br />

ihr Instrument ist die Poesie.<br />

In der Ausstellungshalle im Palais<br />

Populaire Unter den Linden lässt sie<br />

uns geradezu körperlich spüren, wie<br />

das globale Weltgeschehen selbst<br />

den letztenWinkel des Alltags medial<br />

überflutet; wie es ins Atelier der 1983<br />

geborenen Libanesin eindringt. Wegen<br />

des Bürgerkriegs in ihrer Heimat<br />

hat sie in London studiert. Heute lebt<br />

und arbeitet sie in der Nähe vonBeirut.<br />

Und die Kriege in Nahen Osten,<br />

der Terror, die Kämpfe, das Elend in<br />

den Flüchtlingslagern dringen<br />

stündlich in ihren Alltag ein.<br />

An einer Wand wickelt sie als riesiges<br />

abstraktes Schwarz-Weiß-Tableau<br />

eine Landschaft ab: Vermeintlich<br />

schroffe Felsformationen, Berge,<br />

Täler verschwinden, bis die Blätter<br />

völlig leer sind, weil die Druckerpatronen,<br />

mit denen Aoun die bizarren<br />

Motive ausdruckte, keine Farbe<br />

mehr hergaben. Das technologische<br />

Digitalsystem hat in diesem Falle<br />

also versagt. „Lands of Matter“ heißt<br />

dieses 19-teilige Gleichnis für die Gegenwart,<br />

und die Künstlerin klärt<br />

auf, dass es da um gar keine reale<br />

„stumme Landschaft“ geht, sondern<br />

um ein Diagramm der libanesischen<br />

Wirtschaftspolitik.<br />

Um Daten, die<br />

„permanent Lärm machen“,<br />

der den Alltag dominiert,<br />

krank macht.<br />

„Und der Lärm muss aufhören“,<br />

sagt sie.„Wirbrauchen<br />

Raum fürs Innehalten,<br />

um neue Systeme und<br />

uns selbst zu finden.“<br />

DieWand gegenüber ist<br />

bedeckt mit einem Mosaik aus zuerst<br />

stark farbig bedruckten und<br />

schließlich leeren DIN-A3-Bögen.<br />

„Erschöpfung“ heißt die riesige Arbeit.<br />

DieInkjet-Drucker waren überfordert,<br />

als Aoun sie so heftig „fütterte“.<br />

Zuerst spuckten die Apparate<br />

noch tiefschwarze, dann schwarzrote,<br />

lila Blätter, schließlich solche<br />

mit Farbresten von Rosa, Türkis,<br />

Hellblau und Gelb aus. Zuletzt nur<br />

Caline Aoun<br />

aus Beirut<br />

noch leere. DieIllusion der digitalen<br />

Perfektion vergeht wie eine Fata<br />

Morgana. Der digitale Datenfluss,<br />

der ganze Volksvermögen bewegt,<br />

behandelt Menschen, Waren, Werte<br />

emotionslos als pures Material.<br />

Um das bildhaft zu machen,<br />

setzte Aoun auf ein großes flaches<br />

PALAIS POLULAIRE/DB<br />

Podest<br />

vier<br />

springbrunnenähnliche<br />

Gebilde: blau, rot, gelb. Eigentlich<br />

sind das die Farben<br />

der westlichen Avantgarde<br />

um Mondrian.<br />

Hinzu kommt ein Brunnen<br />

in Schwarz. Alle vier Fontänen<br />

sind aufgebaut wie<br />

zierliche orientalische Etageren<br />

für Früchte und Gebäck.<br />

Darin fließt CMYK-<br />

Farbe –solche, die für den Vierfarbdruck<br />

eingesetzt wird. Die sprudelt<br />

aus den Düsen, plätschertindie unteren<br />

Auffangbecken, die durch<br />

Schläuche miteinander verbunden<br />

sind. Alle vier Farben vermischen<br />

sich mit dem Wasser zu einer trüben<br />

Brühe.Der„Datenfluss“ wirdundefinierbar.<br />

Das Gemisch symbolisiert<br />

die fatale Mixtur aus Überfluss und<br />

Mangel, Zirkulation, Distribution.<br />

CALINE AOUN/PALAIS POPULAIRE/M. SCHORMANN<br />

Analogien zu anderen gesellschaftlichen<br />

Systemen sind vonder Künstlerinbeabsichtigt.<br />

Undauch die beiden<br />

an eine Sonnen-Korona erinnernden<br />

Bilder an den Hallen-Säulen –diese<br />

schwarzen Spritzer rund um weiße<br />

Löcher –transportieren den Gedanken<br />

der schier unbeherrschbar werdenden<br />

Daten-Schwemme.<br />

Caline Aoun, „Künstlerin des Jahres“<br />

der Deutschen Bank, hat für Berlin<br />

ein Gesamtkunstwerk geschaffen,<br />

das eine Versuchsanordnung<br />

darstellt, wie der globale digitale Datenfluss<br />

ganze Gesellschaftssysteme<br />

prägt – als Segen und als Fluch.<br />

„Denn die Zirkulation und Verarbeitung<br />

der Daten“, sagt die Künstlerin,<br />

„scheint nicht verknüpfbar mit der<br />

Lebenswirklichkeit von Milliarden<br />

Menschen.“ Für ihre bildgewordenen<br />

Bedenken lenkt sie die kritische<br />

digitale Masse in analoge poetische<br />

Installationen. Eine Donna Quichotte<br />

wider die Datenwindmühlen.<br />

PalaisPopulaire Unter den Linden 5. Bis<br />

2. März 2020, MI–Mo Di 11–18/Dobis 21 Uhr.<br />

Parallelist „Das totale Tanztheater“zum Ausklang<br />

des 100. Bauhausjubiläumszuerleben.<br />

Rahmenprogramm: www.db-palaispopulaire.de<br />

NACHRICHTEN<br />

Angela Shanelec gewinnt<br />

Regie-Preis in Mar del Plata<br />

Diedeutsche Filmemacherin Angela<br />

Shanelec ist beim 34. Internationalen<br />

Filmfestival vonMar del Plata in Argentinien<br />

mit dem Astor-Preis für die<br />

beste Regie ausgezeichnet worden.<br />

DieRegisseurin von„Ichwar zuhause<br />

aber“ teilte sich den PreisamSonntagabend<br />

mit dem Portugiesen Pedro<br />

Costa, der für„VitalinaVarela“ den<br />

Astor empfing. DerSpielfilm„Lo que<br />

arde“ (Was brennt) des spanischen<br />

Regisseurs Oliver Laxe gewann den<br />

Goldenen Astor für den besten Film.<br />

Mardel Plataist das einzige A-Festival<br />

mit internationalemWettbewerb in<br />

Lateinamerika. Zu den Gästen zählte<br />

auch der <strong>Berliner</strong> Dokumentarfilmer<br />

Thomas Heise (64), der seinen Film<br />

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ vorstellte.(dpa)<br />

Spendenaktion für Kirche<br />

in der Lausitz<br />

Diediesjährige Spendenaktion für<br />

vergessene Kunstwerke in Brandenburgsoll<br />

Grabdenkmälerninder<br />

Dorfkirche GroßJehser (Oberspreewald-Lausitz)<br />

zugutekommen. Die<br />

Aktion trage auch dazu bei, „dass sakrale<br />

Kunstwerke sichtbar gemacht<br />

werden und dass sie auch bewahrt<br />

werden für künftige Generationen“,<br />

sagte Brandenburgs KulturministerinMartina<br />

Münch (SPD) am Montag<br />

zum Startder Aktion in Potsdam.<br />

Denkmäler hätten einen großen<br />

Stellenwertfür das kulturelle Erbe.<br />

Viele Kirchen seien nach wie vorsanierungsbedürftig,<br />

hieß es. (dpa)<br />

Dresden zeigt Švankmajers<br />

Wunderkammer<br />

Eine Ausstellung der Staatlichen<br />

Kunstsammlungen Dresden gibt ab<br />

Dienstag Einblick in das Werk der<br />

tschechischen Surrealisten Janund<br />

EvaŠvankmajer.Die rund 300 Werke<br />

umfassende Retrospektivesei einem<br />

Künstlerpaar gewidmet, das zu den<br />

inspirativsten Vertreternder zeitgenössischen<br />

Generation zähle,sagte<br />

Generaldirektorin Marion Ackermann<br />

am Montag. DasSpektrum der<br />

Exponate reicht vonFilmen sowie<br />

Malerei, Grafik, Objektcollagen über<br />

Bühnen bis zu bearbeiteten Präparaten<br />

und obskuren Reliquien.(dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Genau genommen<br />

VomAbschwellen<br />

des Ingrimms<br />

VonMartin Z. Schröder<br />

Mit goldener Tinte steht „Vorläufige<br />

Gießkanne“ draufgemalt, aber der Zustand<br />

hält schon lange an. Vorfünfzehn Jahren<br />

wurde mir die kleine Kanne von einer<br />

Freundin geschenkt mit dem Vermerk, ihr<br />

zehnjähriger Sohn hätte sie vorm Kaufhaus<br />

mitgehen lassen. Ich habe dieses Kind trotz<br />

seiner Delinquenz wegen seines Berufswunsches<br />

geschätzt. Es wollte Autodesigner werden<br />

und zeichnete kellerasselrückenartige<br />

Dächer auf bunte Geräte mit Rädern.<br />

Dieser Berufswunsch ist klug in Hinsicht<br />

auf die Altersvorsorge. Esmuss ein gut bezahlter<br />

Berufsein, sonst würde sich niemand<br />

darin langweilen, denn alle Autos sehen, ungenau<br />

genommen, gleich aus. Nur seitliche<br />

Rillen sind unterschiedlich schräg oder<br />

Hecks verschieden klobig. Für geübte Augen.<br />

Ich kann sie nicht unterscheiden. Früher<br />

sah ich, ob Dacia oder Saporoshez(gesprochen<br />

Sabberfrosch, ukrainischer<br />

Heckmotorwagen) mich anzwinkerten.<br />

Man erkannte sie auch am Geräusch. Der<br />

Dacia schwieg meist, der ukrainische Wagen<br />

röhrte wie ein Panzer. Darinnen saß<br />

man dicht am Boden und konnte durch<br />

die Rostlöcher in den Türen die Asphaltlöcher<br />

im Straßenbelag vorüberfliegen sehen.<br />

Mein ehrenamtlicher LKW-Fahrlehrer,<br />

hauptberuflich Polizist, hatte so ein<br />

Ding, mit dem er wie eine besengte Sau<br />

durch die Stadt böllerte.<br />

MARTIN Z. SCHRÖDER<br />

Als ich einmal von der Schönhauser Allee<br />

mit dem LKW langsam um die Ecke bog,<br />

hupte einer hinter mir. „Stop!“, befahl mein<br />

Fahrlehrer, der seine Polizeiuniform trug. Er<br />

stieg aus und kassierte Bußgeld vom Ungeduldigen.<br />

Seither wünsche ich mir einen Polizisten<br />

auf dem Gepäckträger meines Fahrrades,<br />

einen dünnen, leichten, der Verkehrsrowdys<br />

zur Buße bittet.<br />

Einmal warfmich der Fahrlehrer für zwei<br />

Wochen aus der Klasse,weil ich den LKW am<br />

Pankower Rathaus mit Karacho in eine Einbahnstraße<br />

lenken wollte, ander ich lediglich<br />

übersah, dass sie mir entgegen verlief. Er<br />

brüllte: „Hände weg! Füße weg!“, ich erstarrte<br />

wie ein gefrosteter Hampelmann,<br />

und er lenkte den Wagen in Sicherheit. Der<br />

Lehrlastkraftwagen hatte ein doppeltes<br />

Lenkgetriebe,also zwei Lenkräder,damit der<br />

Fahrlehrer zulangen konnte,falls ein Schüler<br />

falsch in Einbahnstraßen zu bretterndrohte,<br />

was sicherlich kaum einmal vorkam. Dieses<br />

Lenkrad zu drehen war schweißtreibend.<br />

Leider ist das kannenstehlende Kind weder<br />

Autodesigner noch dünner Polizist geworden.<br />

Es hat die Rente nicht nur aus den<br />

Augen verloren, sondern will sich mit einer<br />

Geisteswissenschaft bis zur Altersarmut einen<br />

Schokobauch anfressen. Wenn die jungen<br />

Leute so etwas studieren, machen sie<br />

sich kein Bild davon, wie der Körper in solchen<br />

Berufen geschunden wird. Man sitzt<br />

fünfzig Jahreauf dem Po und müht sich, den<br />

Kopf nicht in die Bücher plumpsen zu lassen;<br />

dieWirbelsäule ist nach zehn Jahren hinüber,<br />

es folgen vierzig JahreRückentraining.<br />

Nunhat die Freundin die vorläufige Gießkanne<br />

seit fünfzehn Jahren nicht ersetzt. Ich<br />

denke bei jedem Gießen daran. Nach dem<br />

ersten Jahr der Empörung wuchsen Verdruss,<br />

Bitterkeit und Missmut, im zweiten<br />

Ärger, imdritten Groll, es folgten Ingrimm,<br />

Zorn und Wut. Ich hatte schöne Abwechslung<br />

des Haders beim Blumengießen, doch<br />

im Abschwellen der Rage wurde ich sanftmütig.<br />

Eine andere Gießkanne will ich nicht<br />

mehr, ich lächle beim Gießen und träume<br />

vonbuntenKellerasselautos.

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