Berliner Zeitung 19.11.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 269 · D ienstag, 19. November 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Wenn es kalt wird<br />
Flüchtlinge im Lager Vucjak nahe der bosnisch-kroatischen Grenze<br />
ANDREA JESKA<br />
Stimmt das, fragt Hussein B., ein 23-<br />
jähriger Flüchtling aus dem Irak.<br />
„Die geben uns kein Essen mehr?<br />
Wassollen wir denn dann tun?“ Da<br />
ist Panik in seinem Gesicht, und seine Augen<br />
betteln um eine beruhigende Antwort. Im<br />
Flüchtlingslager Vucjak in der Nähe der bosnischen<br />
Stadt Bihac ging das Gerücht um,<br />
das Rote Kreuz von Bihac und dem Kanton<br />
Una-Sana werdedie gut 700 Flüchtlinge dort<br />
nicht mehr versorgen.<br />
Ein Gerücht, das sich bewahrheitet hat.<br />
Seit vergangener Woche hat das lokale Rote<br />
Kreuz, zuständig für Bihac und den Una-<br />
Sana-Kanton, die Arbeit in Vucjak eingestellt.<br />
Husein Klicic, der Präsident, hat erklärt, mit<br />
Einbruch desWinters sehe seine Organisation<br />
sich nicht mehr in der Lage, das Überleben<br />
der Flüchtlinge zu garantieren. „Wir wollen<br />
die Verantwortung für eine humanitäreKatastrophe<br />
nicht übernehmen. Wenn die Menschen<br />
in Vucjak bleiben, werden sie erfrieren.<br />
DieRegierung muss nun eine Lösung finden.“<br />
Die Lösung kommt ein paar Tage später.<br />
Vucjak, so heißt es, solle ganz geschlossen<br />
werden. Doch wohin mit den Menschen?<br />
Darüber gibt es keine Information. Denn trotz<br />
der 14 Millionen Euro, die die Europäische<br />
Union an in Bosnien tätige Akteure inder<br />
Flüchtlingshilfe zahlte,werden diesen Winter<br />
Tausende nicht wissen, wie überleben.<br />
Gegründet auf einer Mülldeponie<br />
Der bosnische Kanton Una-Sana ist zu einem<br />
Knotenpunkt auf der Balkanroute geworden,<br />
auf der die Flüchtlinge von Griechenland<br />
durch Albanien und Montenegro<br />
in die Länder der EU unterwegs sind. Längst<br />
ist das kleine Bosnien mit der Situation überfordert,<br />
stauen sich die Menschen in den<br />
Städten Bihac und Velika Kladusa.<br />
Die beiden Kleinstädte tragen die<br />
Hauptlast der Probleme, die mit der Verlagerung<br />
der Balkanroute durch Bosnien-<br />
Herzegowina entstanden sind. Die Regierung<br />
lasse seine Stadt im Stich, klagte Anfang<br />
des Jahres Bihacs Bürgermeister SuhretFazlic,<br />
der Vucjak errichten ließ.<br />
Tatsächlich ist die Präsenz der Flüchtlinge<br />
in der Stadt hoch, ebenso die der Polizei. Das<br />
Camp Bira liegt zentral in der Stadt Bihac,<br />
und seit Wochen gibt es Demonstrationen<br />
von Bewohnern, die seine Schließung verlangen.<br />
Die Kapazität des Camps ist erschöpft,<br />
täglich bildet sich vor dem Lager<br />
eine Schlange vonFlüchtlingen, die auf Aufnahme<br />
hoffen und abgewiesen werden. Die,<br />
die nicht aufgenommen werden, wohnen in<br />
klammen Ruinen, in denen man ebenfalls<br />
nicht überwinternkann.<br />
Mitte November sollten die CampsVucjak<br />
und Bira geschlossen werden. Doch trotz<br />
monatelanger Verhandlungen hat die bosnische<br />
Regierung es bislang nicht geschafft, einen<br />
alternativen Standort zu bestimmen.<br />
Die Balkanroute führt durch den bosnischen Kanton Una-Sana.<br />
Rund 7000 Flüchtlinge halten sich dort auf.<br />
Trotz Millionen an EU-Unterstützung gelingt es der Regierung und den<br />
Hilfsorganisationen dort nicht, menschenwürdige Unterkünfte<br />
zu schaffen. Und der Winter kommt bald<br />
Nunist die Lizenz dieser Camps erstmal verlängertworden.<br />
DendortLebenden aber soll<br />
das Verlassen der Lager verwehrt werden, es<br />
sei denn, hat die lokale Regierung verfügt, sie<br />
wollten die GrenzezuKroatien überqueren.<br />
Wasals Aufforderung zu illegaler Grenzüberquerung<br />
gedeutet werden kann, zeigt<br />
die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Behörden.<br />
Schon bei der Gründung vonVucjak war<br />
das deutlich geworden: DasCamp wurde im<br />
vergangenen Jahr gegen internationale Proteste<br />
auf einer Mülldeponie am Rande des<br />
gleichnamigen Dorfes, 15Kilometer von Bihac<br />
entfernt, errichtet. DieStadt begründete<br />
die Entscheidung seinerzeit damit, dass die<br />
40 000 Bewohner von Bihac sich nicht mehr<br />
sicher fühlten angesichts der vielen zumeist<br />
jungen Männer,die auf der Straße und in den<br />
Parksschliefen, sich wuschen, Müll und Notdurft<br />
hinterließen. Die ehemalige Deponie,<br />
hieß es,sei der einzig mögliche Ort, die Männer<br />
unterzubringen.<br />
Seither werden männliche Migranten, die<br />
auf den Straßen von Bihac angetroffen werden,<br />
von der Polizei eingesammelt, nach<br />
Vucjak gebracht und dort ausgesetzt zwischen<br />
flatternden Zelten und einem Waldgürtel,<br />
in dem noch die Landminen des Krieges<br />
liegen.Wegen dieser Landminen, des mit<br />
Methan verseuchten Bodens der Deponie,<br />
aber auch wegen der inhumanen Bedingungen<br />
für die Flüchtlinge weigerten sich internationale<br />
Hilfsorganisationen, in Vucjak tätig<br />
zu werden.<br />
Das Ergebnis dieser Weigerung führt zu<br />
Umständen, die man als Albtraum bezeichnen<br />
muss. Die überbelegten Zelte im wohl<br />
schlimmsten Flüchtlingscamp in Europa<br />
sind feucht vom Regen und riechen nach<br />
Schimmel, die meisten der Flüchtlinge<br />
schlafen auf dem Boden, überall liegt Unrat<br />
herum, die Wege sind schlammig. Die Wassertanks<br />
werden von der Stadtregierung befüllt,<br />
die auch den Müll abholt, es gibt einen<br />
Generator zum Aufladen der Mobiltelefone<br />
und vier Dusch- und Toilettencontainer, die<br />
so verdreckt sind, dass die Bewohner es bevorzugen,<br />
in den Wald zu gehen. Fast jeder<br />
dort–die meisten sind Pakistani und Afghani<br />
VonAndrea Jeska, Bihac<br />
–hat Krätze, Flöhe, Läuse oder eitrige Wunden.<br />
„Welcome to the jungle“, so werden Besucher<br />
in Vucjak begrüßt –Galgenhumor in<br />
tiefster Verzweiflung.<br />
Lediglich das Rote Kreuz von Una-Sana<br />
war in den vergangenen Monaten mit sechs<br />
ehrenamtlichen Helfern präsent. „Aus<br />
Menschlichkeit“, wie der Regionalkoordinator<br />
Selam Midzic sagt. Die Entscheidung,<br />
Vucjak nicht mehr zu versorgen, sei auch<br />
deshalb gefallen, weil seine Mitarbeiter am<br />
Rande ihrer Kräfte seien. „Sie haben dort<br />
Hunderte vonjungen Männern, die zum Teil<br />
100 km<br />
Velika Kladusa<br />
Lager Vucjak<br />
KROATIEN<br />
Bihac<br />
UNGARN<br />
SERBIEN<br />
Adria<br />
BOSNIEN-<br />
HERZEGOWINA<br />
Srebrenica<br />
Sarajevo<br />
MONTE-<br />
NEGRO<br />
BLZ/GALANTY<br />
schwer traumatisiert sind. Täglich gibt es<br />
Kämpfe und Streit –und keine Polizeipräsenz,<br />
um unsereLeute zu beschützen. Wenn<br />
der Frost kommt, wirddie Lage eskalieren.“<br />
Als Bosnien, nach Schließung der serbisch-ungarischen<br />
Grenze vor gut 18 Monaten,<br />
neue Durchgangsstation auf dem Weg<br />
nach Europa wurde,war die Solidarität unter<br />
den Bewohnern zunächst groß. Zum einen<br />
gab es damals noch keine Camps und keine<br />
Versorgung. Die Flüchtlinge bekamen viel<br />
private Hilfe,vor allem vonjenen Bosniaken,<br />
die selber Krieg und Vertreibung erlebt hatten.<br />
Zum anderen dachte man, es wäre eine<br />
temporäre Situation. Doch der Strom jener,<br />
die im Nordwesten von Bosnien über die<br />
kroatische Grenze Richtung EU wollen, riss<br />
nicht ab. Mehr als 30 000 Menschen schätzungsweise<br />
haben seither das kleine Balkanland<br />
durchquert. Als es im Una-Sana-Kanton<br />
zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen<br />
Polizei und Flüchtlingen, zu Einbrüchen in<br />
leerstehende Häuser und zu Viehdiebstählen<br />
kam, ließ die Hilfsbereitschaft starknach.<br />
Dass die bosnische Regierung trotz internationalen<br />
Drucks bislang keinen alternativen<br />
Standort bestimmt hat, liegt zum einen<br />
an der Angst, unpopuläre Entscheidungen<br />
zu treffen, die Wählerstimmen kosten, zum<br />
anderen an der föderalistischen Struktur.<br />
„Keiner übernimmt Verantwortung für Entscheidungen.<br />
Jeder fühlt sich zunächst der<br />
Partei verpflichtet oder seinem Clan. Probleme<br />
werden nicht gelöst, sondern von einem<br />
zum anderen weitergegeben“, sagt PeterVander<br />
Auweraert, Koordinator der Internationalen<br />
Organisation für Migration in<br />
Bosnien. „Wir verhandeln seit Januar, weil<br />
die Probleme, die wir jetzt haben, absehbar<br />
waren.“ Es sei jedoch nicht gelungen, alle involvierten<br />
Parteien zu einer gemeinsamen<br />
Strategie zu bewegen. „Wir haben gehört, es<br />
soll neue Standorte in den Kantonen Sarajevound<br />
Tuszla geben, doch wir haben diese<br />
noch nicht gesehen.“ Die Entscheidung des<br />
Roten Kreuzes, die Versorgung in Vucjak zu<br />
beenden, kritisiert erheftig. „Wäre das Rote<br />
Kreuz dort gar nicht erst tätig geworden,<br />
wäre dieses Camp ohne Zelte, ohne Wasser<br />
undEssen in 14 Tagen kollabiertund die Probleme<br />
wären nicht entstanden. Wenn man<br />
sich auf so etwas einlässt, dann muss man<br />
wissen, man hält das durch.“<br />
Laut Schätzungen des Roten Kreuzes von<br />
Bosnien sind inden vergangenen Monaten<br />
rund 2500 junge Männer nach Vucjak gebracht<br />
worden. Die meisten versuchen, von<br />
dort aus so schnell wie möglich die Grenzezu<br />
überqueren.Gleich hinterVucjak beginnt die<br />
dicht bewaldete Pljesevica-Gebirgskette, die<br />
Bosnien von Kroatien trennt. Weil in diesen<br />
Wälderndie Polizeipräsenz groß ist, nehmen<br />
viele Flüchtlinge die Route, die auf einer<br />
KarteimCamp als landminenverseucht eingezeichnet<br />
ist. „Wenn du verzweifelt bist,<br />
gehst du jedes Risiko ein“, sagt HusseinB.Er<br />
ist seit drei Monaten in Vucjak und hat seither<br />
ein Dutzend Mal versucht hat, von dort<br />
zu entkommen. „Viermal haben sie mich<br />
hinter der Grenze erwischt. Die kroatische<br />
Polizei nimmt uns unsere Kleidung weg,<br />
Schuhe und Schlafsäcke, und verbrennt sie<br />
vor unseren Augen. Sie schicken uns barfuß<br />
zurück. Unddie anderen Male hatdie Polizei<br />
mich in Bihacvon derStraße geholt undwiederhierhergebracht.“<br />
Noch sind die Temperaturen herbstlich<br />
milde,dochein Sturmund heftige Regenfälle<br />
in den vergangenen Tagen haben in Vucjak<br />
einen Vorgeschmack darauf vermittelt, was<br />
geschehen wird,wenndasWetter umschlägt.<br />
Die Zelte haben dem Wind und dem Regen<br />
kaum standgehalten,Wasser ist hineingelaufen,<br />
an vielen Stellen sind sie aus ihren Verankerungen<br />
gerissen.<br />
In feuchteDecken gehüllt<br />
Im stetenRegen istesnicht möglich, Decken<br />
und Schlafsäcke zu trocknen. Die Flüchtlinge<br />
hüllen sich in diefeuchten Decken,um<br />
sich vor dem kalten Wind zu schützen, die<br />
Stimmung ist angespannt. „Ich will hier nur<br />
noch raus“, sagt Hussein B.„Die EUwird<br />
doch nicht zulassen, dass wir im Winter<br />
keine Bleibe haben“, fragt er hoffnungsvoll.<br />
Doch selbst wenn es der bosnischen Regierung<br />
gelingt, vorEinbruch desWinters und<br />
vor den Nachrichten über erste Kältetote einen<br />
alternativen Standort zu finden: Das<br />
Problemfür Una-Sana wirddadurch nicht gelöst.<br />
Im Frühjahr werden die Flüchtlinge wieder<br />
Richtung kroatische Grenze wandern.<br />
„Seit Anfang des vergangenen Jahres ist es<br />
schätzungsweise 43 000 Menschen gelungen,<br />
diese Grenzezuüberqueren. Ausder Perspektive<br />
der Flüchtlinge ist sie keinesfalls geschlossen.<br />
Sie werden also weiterhin durch<br />
Bosnien kommen“, sagt vander Auweraert.<br />
Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen<br />
Stabilitätsinitiative (ESI) mit Sitz in<br />
Berlin, seit vielen Jahren wissenschaftlich auf<br />
dem Balkan tätig, sieht die Verantwortung<br />
für das humanitäre Drama in Bosnien auch<br />
innerhalb der EU. „Die Vorstellung mancher<br />
in der EU, man könne Flüchtlinge, die Griechenland<br />
verlassen, im Balkan fest- und davon<br />
abhalten, die EU zu erreichen, ist zum<br />
Scheiternverurteilt. Überdies ist dies mit erheblichem<br />
menschlichen Leid verbunden.“<br />
Es brauche nicht nur mehr Hilfe in Bosnien,<br />
sondern vor allem eine Strategie der EU, die<br />
Zahl der in Griechenland Ankommenden zu<br />
verringern.<br />
Andrea Jeska war schon in vielen<br />
Flüchtlingslagernweltweit. Die Zustände<br />
in Bihac haben sie dennoch erschüttert.