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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 289 · D onnerstag, 12. Dezember 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Dezemberkonzerte von<br />
Hans-Eckardt Wenzel<br />
und Jürgen Walter<br />
Seiten 25 und 25<br />
„Jazz sah vor 20 Jahren schrecklich uncool aus.“<br />
Der britische Saxofonist und Klarinettist Shabaka Hutchings Seite 23<br />
Leipziger Buchmesse<br />
Blick nach<br />
Osten<br />
Cornelia Geißler<br />
hätte sich über ein Gastland<br />
für den Frühling gefreut<br />
Auch im nächsten Jahr erscheinen<br />
wieder Bücher, viel zu viele eigentlich.<br />
Wir werden wieder versuchen,<br />
ein bisschen Überblick durch<br />
Katalog-Studium und Vielleserei zu<br />
bekommen und diesen weiterzureichen<br />
über die <strong>Zeitung</strong> an alle,die selber<br />
lesen wollen und Orientierung<br />
suchen. Ein schöner Anlass dafür<br />
sind auch die Buchmessen, eine im<br />
Frühjahr in Leipzig, eine im Herbst<br />
in Frankfurt amMain. Die Verlage<br />
richten ihre Erscheinungstermine<br />
danach aus,esgibt Preise für Neuerscheinungen,<br />
die in diesem Zusammenhang<br />
vergeben werden. Undtraditionell<br />
steht die Literatur eines<br />
Landes im Mittelpunkt – dadurch<br />
kann man einiges entdecken, worauf<br />
man sonst nicht gekommen wäre.<br />
In Frankfurt am Main bündelte<br />
sich im vergangenen Herbst die Aufmerksamkeit<br />
für Autoren aus Norwegen.Weil<br />
2020 dortKanada seinen<br />
Gastlandauftritt hat, wird noch ordentlich<br />
an Übersetzungen aus dem<br />
Englischen und dem Französischen<br />
gearbeitet. Verabredet sind die natürlich<br />
schon länger. In Leipzig<br />
wurde im Frühling dieses Jahres die<br />
Literatur aus Tschechien gefeiert,<br />
mit Ausstrahlung mindestens bis<br />
nach Berlin in Lesereisen und Ausstellungen.<br />
Undwer ist im kommenden<br />
Frühling dran?<br />
Die Leipziger Buchmesse verzichtet<br />
2020 auf einen konkreten<br />
Schwerpunkt, nicht zum ersten Mal.<br />
Vom12. bis 15. März gilt der Fokus<br />
allgemeiner Südosteuropa. Das<br />
Netzwerk Traduki ist eingebunden,<br />
die Literatur von Estland, Litauen,<br />
Rumänien und Bulgarien in den<br />
Blick zu rücken, berichtet das Branchenmagazin<br />
Börsenblatt. Das verwundert<br />
etwas, weil Rumänien und<br />
Litauen bereits die Vorgänger Tschechiens<br />
als Schwerpunktländer waren.<br />
Das mag man auch positiv sehen,<br />
weil die Kontakte und das Interesse<br />
auf diese Weise weiter wachsen<br />
können. Allerdings hat die Konzentration<br />
auf den einen Gast tatsächlich<br />
auch einen festlichen Charakter,<br />
der geht in der Breite verloren.<br />
Ein Aktionskünstler,der die Trümmer genießt, die er hinter sich anhäuft: Jan Böhmermann.<br />
Böhmermann bald überall<br />
Raus aus der Nische: Am Donnerstag läuft die letzte Ausgabe des „Neo Magazin Royale“<br />
VonHarry Nutt<br />
Die Hervorbringung von<br />
etwas Neuem genügte<br />
ihm als medialer Daseinszweck<br />
nicht allzu<br />
lange. Nachdem das „Neo Magazin“<br />
im Oktober 2013 im juvenilen Nischensender<br />
ZDF-Neo an den Start<br />
gegangen war, ermächtigte sich der<br />
Moderator Jan Böhmermann kaum<br />
16 Monate später zu einer Artköniglicher<br />
Rangerhöhung. Seither gilt<br />
„Neo Magazin Royale“ als schonungsloses<br />
Interventionsmedium,<br />
das dieWirklichkeit nicht nur als Material<br />
benutzt, sondernauch danach<br />
trachtet, dieser so heftig wie möglich<br />
zuzusetzen.<br />
Während Jan Böhmermann zunächst<br />
an die Vorbilder der amerikanischen<br />
Late-Night-Show angeknüpft<br />
hatte, deren hiesige Entsprechung<br />
lange von Harald Schmidt<br />
verkörpertwurde,übernahm der 38-<br />
jährige Moderator dessen Prinzip,in<br />
seriöser Erscheinung den forcierten<br />
Konventionsbruch zu wagen. Das<br />
vornehme Äußere ist dabei ein wesentlicher<br />
Bestandteil seiner enormen<br />
Spannkraft aus Geistesgegenwart<br />
und glamouröser Täuschung.<br />
Während Charlie Chaplin seine Figur<br />
des Tramps aus dem Kleiderschrank<br />
des Komischen derart drapierte,dass<br />
nichts zueinander passt,<br />
tritt die Kunstfigur Böhmermann als<br />
aalglatter Entertainer auf, von dem<br />
man anzunehmen geneigt ist, dass<br />
er seine Laufbahn als Buchhalter eines<br />
Start-up-Unternehmens begonnen<br />
hat. Schlank, adrett und unauffällig.<br />
Wie einst Harald Schmidt verhält<br />
er sich seinen Studiogästen gegenüber<br />
wohlwollend affirmativ. Er<br />
gibt sich als nüchterner Stichwortgeber,<br />
dem es in der stets zu kurz erscheinenden<br />
Gesprächszeit darauf<br />
ankommt, die Einzigartigkeit des<br />
Gegenübers herauszustellen.<br />
Die Kunst, sich zum Verschwinden<br />
zu bringen, vermag dann aber<br />
schnell umzuschlagen in die gnadenlose<br />
Bereitschaft, sich selbst zum<br />
Mittelpunkt des gedehnten Augenblicks<br />
zu machen. In seiner Nähe soll<br />
man sich wohlfühlen, in der Außenwelt<br />
aber kann alles zu seiner Beute<br />
werden. Es ist die Methode vonLauern<br />
und Zuschlagen. Jan Böhmermann<br />
ist ein Meister des Tempowechsels.<br />
Die berühmte, zur Staatsaffäre<br />
angewachsene Sendung, in<br />
der er ein sogenanntes Schmähgedicht<br />
auf den türkischen Staatspräsidenten<br />
Recep Tayyip Erdogan in der<br />
ausdrücklichen Absicht vortrug die<br />
Grenzen des Erlaubten und Sagbarenauszutesten,<br />
lebte vonder schier<br />
endlos wirkenden Ausbreitung geschmackloser<br />
Gedichtfetzen –ein in<br />
die Länge gezogener Pennälerwitz.<br />
Allerdings einer, der es in sich<br />
hatte. Böhmermann brachte Erdogan<br />
in Rage und Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel, die das Gedicht als<br />
„bewusst verletzend“ bezeichnet<br />
hatte, inarge Verlegenheit. An den<br />
Show-Klamauk schlossen sich juristische<br />
Spitzfindigkeiten und eine<br />
kontroverse Debatte an, in deren<br />
Verlauf die Rechtsgüter Kunstfreiheit,<br />
Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit<br />
gegeneinander abgewogen<br />
wurden. Böhmermann<br />
schrieb schließlich Rechtsgeschichte,indem<br />
sein Schmähgedicht<br />
mittelbar dazu führte,dass der Paragraf<br />
103 des Strafgesetzbuches, der<br />
die Beleidigung von Organen und<br />
Vertreternausländischer Staaten unter<br />
Strafe stellt, nach Beschluss des<br />
Deutschen Bundestages vom 1.Juni<br />
2017 abgeschafft wurde.Einstimmig.<br />
DenAktivitäten des Zentrums für<br />
Politische Schönheit nicht unverwandt,<br />
ist JanBöhmermann ein Aktionskünstler,<br />
der die Trümmer genießt,<br />
die er hinter sich anhäuft und<br />
sich dabei die Arbeitsmethoden von<br />
investigativen Journalisten zu eigen<br />
zu machen weiß, –etwa wenn er bis<br />
BEN KNABE<br />
dato unter Verschluss gehaltene<br />
Rechtsgutachten über die politische<br />
Rolle der Hohenzollern veröffentlicht<br />
und damit der Auseinandersetzung<br />
um die umstrittenen Eigentumsansprüche<br />
des Adelshauses<br />
eine neue Dynamik verleiht.<br />
Aber wirderesmit dieser auf permanente<br />
Reizung ausgerichtete<br />
Alertheit auch ins Hauptprogramm<br />
des ZDF schaffen, wo Böhmermann<br />
vom kommenden Jahr an in der<br />
Nachbarschaft von Schlagerfreundin<br />
Carmen Nebel und dem moderierenden<br />
Ex-Koch Horst Lichter reüssieren<br />
soll? Vielleicht ist es auch<br />
eine gezielte Programmoffensivedes<br />
ZDF, das den anarchischen Charme<br />
Böhmermanns dazu nutzt, sich einer<br />
neuen Mediengewissheit zu stellen.<br />
Im Fernsehen hat die Unterscheidung<br />
von Hauptprogramm<br />
und Nische längst ausgespielt. Wenn<br />
jedes Sendeformat überall und sofort<br />
zuempfangen ist, gibt es keine<br />
Primetime und kein Nachtprogramm<br />
mehr. Böhmermann droht<br />
dann überall.<br />
Harry Nutt<br />
schaut mit widerwilliger<br />
Neugier auf Böhmermann.<br />
NACHRICHTEN<br />
Klage im Streit um die<br />
Leitung der Bauakademie<br />
Nach dem Protest voninzwischen<br />
fast 500 Architekten und Museumsfachleuten<br />
gegen die Ernennung des<br />
SPD-Politikers Florian Pronold zum<br />
Gründungsdirektor der Bauakademie<br />
sind jetzt zwei unterlegene Mitbewerber<br />
vorGericht gezogen. Das<br />
<strong>Berliner</strong> Landesarbeitsgericht will<br />
am 9. Januar über den Eilantrag entscheiden.<br />
Dasfür die Bundesstiftung<br />
Bauakademie zuständige Innenministerium<br />
wollte sich dazu nicht äußern.<br />
In dem offenen Brief gegen<br />
Pronolds Ernennung heißt es,der<br />
Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär<br />
im Bundesumweltministerium<br />
sei für das Amt nicht qualifiziertund<br />
dem Verfahren habe es an<br />
Transparenz gefehlt. (dpa)<br />
Rheingold-Gründer<br />
Bodo Staiger gestorben<br />
DerDüsseldorfer Musiker,Schauspieler<br />
und Musikproduzent Bodo<br />
Staiger (Rheingold) ist im Alter von<br />
70 Jahren am 4. Dezember gestorben.<br />
Sein Tonstudio 3klangrecords<br />
bestätigte am Mittwoch den Tod, auf<br />
der Facebook-Seite vonRheingold<br />
wurde das Datum genannt. Staiger<br />
landete mit der 1980 gegründeten<br />
Popband Rheingold und dem Stück<br />
„Dreiklangsdimensionen“ seinen<br />
größten Hit. Liveaufgetreten war er<br />
mit der Band nie.Das sollte sich im<br />
kommenden Jahr ändern. (BLZ/dpa)<br />
Proteste gegen Bildnis von<br />
Emiliano Zapato in Mexiko<br />
EinGemälde,das den mexikanischen<br />
Nationalhelden Emiliano Zapata<br />
nackt auf einem Pferdzeigt,<br />
sorgt derzeit für Aufruhr.Mehrere<br />
HundertDemonstranten stürmten<br />
am Dienstag das Museum Palacio de<br />
Bellas Artes in Mexiko-Stadt, in dem<br />
das Werk von2014 mit dem Titel „La<br />
Revolución“ vonFabián Cháirez gezeigt<br />
wird. DieDemonstranten störensich<br />
an der NacktheitZapatos,<br />
der zudem einen rosafarbenen Hut<br />
undStilettos trägt. Siebrüllten homophobe<br />
Beleidigungen und kündigten<br />
an, täglich wiederzukommen,<br />
bis das Bild abgehängt werde. Die<br />
Ausstellung findet zum 100. Jahrestag<br />
des Todes vonZapata statt. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Genau genommen<br />
VonDeutschland<br />
und der Welt<br />
VonMartin Z. Schröder<br />
MARTIN Z. SCHRÖDER<br />
Als ich eben Katzenfutter in einem Supermarkt<br />
zu kaufen versuchte, schnauzte<br />
mich dieVerkäuferin schon während derWarenerfassung<br />
an: „Deutschlandkarte bei Ihnen?“<br />
Gewiss, berlingrammatisch korrekt<br />
hätte sie „bei ihm“ sagen müssen, mich in<br />
dritter Person anreden, aber mir gebricht’s<br />
an Schlagfertigkeit, punktgenaue Unterweisungen<br />
im unerwarteten Dialog unterzubringen.<br />
Ichweiß immer nicht, was ich sagen<br />
soll, wenn man mich durch Ansprache überrascht.<br />
Mirfiel also keine pfiffige Antwortein,<br />
genau wie damals bei der Nationalen Volksarmee,als<br />
zum ersten Malein Offizier meine<br />
Stube betrat und ich, von meiner Lektüre<br />
freundlich aufmerkend, mich zuvorkommend<br />
nach seinem Begehr erkundigte, woraufhin<br />
er von Zornesröte übertüncht und<br />
laut wurde,weil er nun meinte mir erläutern<br />
zu müssen, wie ich mich angesichts der drolligen<br />
Sternchen auf seinen Schultern zuerheben<br />
hätte und mit durchgedrückten Knien<br />
in einem Satz ohne Verb mitzuteilen, werich<br />
wohl sei.<br />
Schlaffen Knies hingegen stand ich nun<br />
vor der Auskunft verlangenden Dame, von<br />
der ich erwartet hatte, dass sie mir den zu<br />
entrichtenden Katzenspeisepreis nenne,<br />
statt mich nach dem Wegzufragen. Um Zeit<br />
zu gewinnen, bat ich die Kassendame zunächst,<br />
ihr Begehr zu wiederholen, woraufhin<br />
sie starrsinnig erneut eine Deutschlandkarte<br />
zu sehen wünschte, und begann dann<br />
mich herauszureden, ich hätte meinen Atlas<br />
ausgerechnet heute nicht dabei, könne ihr<br />
aber mittels meines smarten Telefons jeden<br />
Wegauf der Welt zeigen, dies aber vielleicht<br />
besser nach ihrer Dienstzeit, weil die Tiefkühlfutterkäufer<br />
hinter mir schon mit den<br />
Füßen zu scharren anhuben.<br />
Aber nein, sie wollte keine Straßenkarte<br />
sehen. Nicht? Verlangte sie etwa einen Abstammungsnachweis?<br />
Man weiß in der Tat<br />
nicht, wervon uns hier das Katzenfutter weghamstern<br />
will. Aber vermochte ich den Ansprüchen<br />
des Geschäftes gerecht zu werden?<br />
Ichsorgte mich nun an der Supermarktkasse<br />
wegen meiner asiatischen Vorfahren.<br />
Einübermütiger Verwandter ließ nämlich<br />
mittels Gentechnik herausfinden, dass diese<br />
selbstsüchtigen Ahnen vor ungefähr 1500<br />
Jahren an einem Eroberungsausflug nach<br />
Europa teilgenommen hatten, wahrscheinlich<br />
auf eine deutsche Respektrente spekulierend,<br />
ohne an mich und die Reinheitsgebote<br />
meiner Zeit zu denken. Auch aus Frankreich<br />
und sogar Österreich soll Fremdblut in<br />
meinen Adern plätschern. Als mongolischbretonischer<br />
Salzburger will ich mir das<br />
Recht, auf <strong>Berliner</strong> Boden Tierfutter zu kaufen,<br />
gern durch integrative Leistung verdienen.<br />
Aber die Kassiererin, deren Verdrießlichkeit<br />
ich bis eben noch gut verstanden<br />
hatte angesichts meiner migrationsfrechen<br />
Anspruchshaltung, ohne Atlas und rechtsrheinisch-germanische<br />
Ahnenkette hier einkaufen<br />
zu wollen, löste mit einem einzigen<br />
Wort das Missverständnis auf: „Kundenkarte!“<br />
War sie verwandt mit dem Offizier<br />
von damals, der auch etwas gegen Sätze mit<br />
Verben hatte?<br />
Daheim habe ich mir vomInternet sagen<br />
lassen, dass die „Deutschlandkarte“ als Kundenausweis<br />
älter als zehn Jahre ist und gemerkt,<br />
wie man als Tante-Emma-Laden-<br />
Kunde gesellschaftliche Progression verpasst.<br />
Sollte ich so ein Supergeschäft gründen,<br />
gebe ich auch Clubkarten aus. Mein<br />
Kunde bekommt die „Weltkarte“. Hungrige<br />
Katzen gibt es überall.