Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag
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(A)<br />
(B)<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 61<br />
Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat<br />
der Politik nicht rütteln.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN)<br />
Bei aller Bereitschaft zum Dialog – dies wird ja gelegentlich<br />
als Vorwurf konstruiert – und aller Bereitschaft<br />
zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die<br />
Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die<br />
notwendigen Entscheidungen treffen – und sie wird es<br />
tun.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: In<br />
vielen Kommissionen!)<br />
Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mächtigen<br />
Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend<br />
für unsere Zukunft.<br />
(Michael Glos [CDU/CSU]: Zitter, zitter! –<br />
Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was hat der<br />
DGB gesagt?)<br />
Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung<br />
aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chancen<br />
sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung<br />
von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar<br />
zusammenbrechen.<br />
Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft<br />
in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherheiten<br />
und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu<br />
sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser<br />
Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres<br />
Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an<br />
Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an<br />
Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen<br />
sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus<br />
auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle.<br />
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und gemeinsam<br />
werden wir damit für uns und unsere Kinder<br />
eine lebenswerte Zukunft schaffen.<br />
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem<br />
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)<br />
Präsident Wolfgang Thierse:<br />
Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/<br />
CSU-Fraktion.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):<br />
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />
Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere bei<br />
der letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sie<br />
so salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik – ein Leben<br />
reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten,<br />
reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen –,<br />
die wir – so haben Sie gesagt – gemeinsam erreichen wer-<br />
den, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johannesevangelium<br />
in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von dieser<br />
Welt.“<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, Herr<br />
Bundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auch<br />
nicht von dieser Welt.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht,<br />
den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Genosse!<br />
– Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten<br />
der FDP)<br />
Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrieben.<br />
Aber man konnte bei mancher Problembeschreibung<br />
Ihnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlich<br />
ansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen.<br />
Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie diesmal<br />
zum Schuldigen stempeln?<br />
Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehr<br />
der imaginären Erblast von 16 Jahren Helmut Kohl in die<br />
Schuhe schieben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –<br />
Ludwig Stiegler [SPD]: Wir haben immer noch<br />
40 Milliarden Euro für Zinsen!)<br />
Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt.<br />
Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wissen,<br />
es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aber<br />
es ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, die<br />
Deutschland bremst und Wachstum unmöglich macht.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –<br />
Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben die Deutschen<br />
aber anders gesehen!)<br />
Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, die<br />
Löcher werden täglich größer. Die Rentenversicherung<br />
verlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, das<br />
Gesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüchtiger<br />
die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungen<br />
eines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern,<br />
das wird so bleiben.<br />
Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeitslosigkeit<br />
sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabei<br />
geht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder<br />
4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es um<br />
Menschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieser<br />
Menschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Enttäuschungen,<br />
um richtige menschliche Schicksale. Es ist<br />
keine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines dieser<br />
konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten in<br />
diesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnen<br />
vor.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –<br />
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger<br />
Unsinn! Sie haben keine richtige Wahrnehmung!<br />
Das stand schon gestern in Ihrem Konzept!)<br />
(C)<br />
(D)