22.12.2012 Aufrufe

Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag

Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag

Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

(A)<br />

(B)<br />

Rudolf Bindig<br />

<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 109<br />

zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konflikts<br />

sorgfältig analysieren.<br />

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />

DIE GRÜNEN)<br />

Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldigung<br />

entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle russische<br />

Sprachregelung, dass es sich beim Tschetschenien-<br />

Konflikt allein um eine Ausprägung des internationalen<br />

Terrorismus handelt, wie er sich in New York und Bali<br />

ausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite,<br />

dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf eines<br />

unterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auch<br />

nur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteure<br />

auf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die in<br />

den Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Ikscheria<br />

ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierte<br />

Kriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbindungen<br />

zu weltweit operierenden Netzwerken.<br />

Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Terroristen<br />

radikalislamistischer Prägung abstempelt, verbaut<br />

sich politische Strategien zur Eindämmung und Lösung<br />

dieses Konflikts.<br />

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />

DIE GRÜNEN)<br />

Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwischen<br />

einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inakzeptabel<br />

ist, und einem weniger fürchterlichen Terrorismus,<br />

der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden.<br />

Terrorismus ist und bleibt Terrorismus.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenen<br />

Hintergründe und Nährböden kennen, um wirksam<br />

agieren zu können.<br />

Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen Ursachen<br />

Jahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjetunion<br />

und dem Entstehen der Russischen Föderation<br />

durch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeit<br />

in eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linie<br />

ein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon lange<br />

vor dem Entstehen des internationalen Terrorismus islamisch-fundamentalistischer<br />

Ausprägung gab. Wenn einige<br />

tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zu<br />

international operierenden terroristischen Netzwerken haben,<br />

so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Konflikt<br />

nur unter diesem Aspekt zu sehen.<br />

Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das alleinige<br />

Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie streng<br />

gläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, ist<br />

der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrer<br />

eigenständigen Kultur und Tradition.<br />

Fakt in Tschetschenien ist – dies muss die internationale<br />

Gemeinschaft auf den Plan rufen –, dass der Tschetschenien-Konflikt<br />

in Kürze in seinen vierten Winter geht<br />

und weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevölkerung<br />

als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert.<br />

Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass<br />

sich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt.<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />

Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um die<br />

russische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbedingungen<br />

Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen,<br />

die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung herbeizuführen.<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />

Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Personen<br />

einbezogen werden, die von den Tschetschenen als legitime<br />

Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Aus<br />

meiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und aus<br />

vielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass der<br />

gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow,<br />

eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass es<br />

ohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird.<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />

Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, im<br />

großeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie,<br />

der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaffen,<br />

so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass im<br />

Tschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten die<br />

Menschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Geiseldrama<br />

scheint sich die russische Haltung sogar verhärtet<br />

zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außenund<br />

Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZE<br />

und/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regierungen<br />

– und zwar in der Tat die Regierungen und nicht<br />

nur die Parlamente dieser Institutionen – ihre Anstrengungen<br />

intensivieren, Russland davon zu überzeugen,<br />

dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf.<br />

Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage heraus<br />

internationale Mitwirkung bzw. Bemühungen – wie soll<br />

ich es nennen? – akzeptieren. Je mehr die russische Staatsführung<br />

darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. ausschließlich<br />

mit einer Form des internationalen Terrorismus<br />

konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlich<br />

bereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit<br />

dagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russland<br />

darauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innere<br />

Angelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damit<br />

zum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Terrorismus<br />

eben doch geringer ist als behauptet. Faktisch<br />

wird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Geschehen<br />

in Tschetschenien in erheblichem Umfang auch<br />

regionale, nationalistische und historische Ursachen hat.<br />

Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspekt<br />

dieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschetschenen.<br />

Angesichts der <strong>Bericht</strong>erstattung und der Ereignisse<br />

in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle in<br />

die terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />

Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffen<br />

russischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüchtet<br />

sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert worden<br />

sind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen,<br />

weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten.<br />

(C)<br />

(D)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!