Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002<br />
Bundesministerin Brigitte Zypries<br />
Hier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplan<br />
einer komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um ein<br />
zukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Strukturen<br />
insbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedliches<br />
Zusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedanke<br />
ganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir immer<br />
mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Überzeugungen,<br />
Religionen und Traditionen auf deutschem<br />
Boden haben, die miteinander leben.<br />
Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: die<br />
Bereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für richtig<br />
halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmen<br />
der gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Bereitschaft<br />
muss allerdings nicht nur da sein, wenn einem<br />
der Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung.<br />
Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschiedenheit<br />
nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben und<br />
die Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN)<br />
Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. Die<br />
Rechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen,<br />
sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Das<br />
vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform<br />
bestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenen<br />
Lebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechtsverbindlich<br />
füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärkt<br />
es aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegenüber<br />
anderen Lebensformen.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN)<br />
Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundgesetzes;<br />
denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zu<br />
und schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffassungen<br />
abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten.<br />
Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um seinen<br />
Vorstellungen entsprechend leben zu können. Das<br />
Grundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassung<br />
ist – in der Sprache unserer Zeit – ein echtes Antigewaltprojekt.<br />
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten<br />
nach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft<br />
des Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist die<br />
beste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Aufgaben<br />
wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechte<br />
so wenig wie möglich zu beschneiden.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der<br />
FDP)<br />
Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen,<br />
wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendung<br />
zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Überzeugungen<br />
ist unter keinen Umständen rechtfertigungsfähig.<br />
Gewalt muss vom Staat – notfalls mit all seinen<br />
Machtmitteln – unterbunden werden, zum Beispiel mit<br />
der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetz<br />
stärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihren<br />
Schutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und es<br />
wirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knapp<br />
fünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehemänner<br />
der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehr<br />
verboten.<br />
Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren,<br />
dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft<br />
wächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfassung<br />
angestrebten friedlichen Zusammenlebens. Dieser<br />
Bedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwar<br />
nicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist,<br />
sondern bereits deutlich vorher.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN)<br />
Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wir<br />
brauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Verbänden<br />
eine Erziehung zur Toleranz. Junge Leute müssen<br />
lernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich im<br />
Rahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln miteinander<br />
auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerant<br />
zu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der<br />
FDP)<br />
Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bündnis<br />
für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen und<br />
deshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminalprävention<br />
noch stärker in seiner Arbeit unterstützen.<br />
Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nicht<br />
an anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird die<br />
Bundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, gegen<br />
die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zu<br />
Gewaltanwendungen vorgehen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />
Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein.<br />
Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen der<br />
Gewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Gesellschaft<br />
elementare Wertebindungen ihre Bindungskraft<br />
verlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvorschriften<br />
gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen<br />
und widerstandsunfähigen Personen fortentwickeln.<br />
Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällen<br />
muss deutlich werden, dass solche Taten an den Menschen,<br />
die sich am wenigsten wehren können, zu den abscheulichsten<br />
Verbrechen überhaupt gehören.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der<br />
FDP)<br />
Wir werden deshalb unter anderem schon den Strafrahmen<br />
für die Grundtatbestände des sexuellen Missbrauchs<br />
von Kindern von Vergehen zu Verbrechen heraufstufen.<br />
Auch die psychische sexuelle Gewalt wird<br />
nicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auch<br />
derjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar,<br />
der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Handlungen<br />
vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteure<br />
sollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der<br />
FDP)<br />
Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt,<br />
wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden.<br />
(C)<br />
(D)