Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag
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Gernot Erler<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 101<br />
gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung<br />
und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den<br />
Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble,<br />
eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, sondern<br />
bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die<br />
große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten<br />
Staaten daran teilnimmt.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />
Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koalition<br />
zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusammenarbeit<br />
der Polizei und der Dienste und auch militärische<br />
Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition,<br />
egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen<br />
den internationalen Terrorismus.<br />
Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte,<br />
kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“<br />
beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall.<br />
Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen<br />
Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida aufgestanden<br />
sind.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)<br />
Das deutsche Engagement in Form von humanitärer<br />
Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der Petersberg-<br />
Konferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim<br />
Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen<br />
für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie<br />
und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Polizisten,<br />
das finanzielle und militärische Engagement bei<br />
ISAF – all das machen wir nicht planlos, sondern dahinter<br />
steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall gewinnen<br />
müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das richtig<br />
ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der<br />
Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige<br />
Friedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat.<br />
Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer<br />
Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu<br />
führen.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />
Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht,<br />
welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt.<br />
Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten gesprochen.<br />
Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung<br />
der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legitimation<br />
für sein Handeln anführen wollte. Der Kaschmir-<br />
Konflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass<br />
uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung gebracht<br />
und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren<br />
von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen.<br />
Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristische<br />
Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen<br />
auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor.<br />
Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen<br />
Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und<br />
zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet werden,<br />
sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terrorismus<br />
angefangen werden.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />
Die vierte Komponente des europäischen Modells<br />
stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der<br />
regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind Forscher<br />
zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“,<br />
„failed states“ und No-go-Areas – das heißt, das Verschwinden<br />
von staatlicher Autorität auf großen Teilen unseres<br />
Globusses – die Privatisierung von Gewaltanwendung<br />
und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde<br />
genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von<br />
Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Verschwinden<br />
von staatlicher Kontrolle schon aus sicherheitspolitischen<br />
Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort<br />
muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von<br />
Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfahrungen<br />
damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Stabilitätspakt<br />
schon angesprochen. Das Gleiche ist notwendig<br />
in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus,<br />
in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben<br />
doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist.<br />
„Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötzlich,<br />
nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika,<br />
sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das<br />
genau eine solche Region eines „failing state“ und wir<br />
wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwicklungen<br />
ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber diskutiert,<br />
dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche<br />
Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen<br />
den Terrorismus haben.<br />
Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine<br />
gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von<br />
Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung,<br />
Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Biotope<br />
für Extremismus und Terrorismus. In der langen Linie<br />
bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit<br />
dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie<br />
werden zu einem zentralen Instrument der internationalen<br />
Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festlegung<br />
in unserem Regierungsprogramm auf die Fortsetzung<br />
der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der<br />
Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von<br />
Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von<br />
0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler<br />
heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion<br />
wegen des genannten Zusammenhangs<br />
sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten.<br />
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN)<br />
Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik<br />
und ein wesentliches Element dieses europäischen Modells.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Komponenten<br />
weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus,<br />
einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der<br />
Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen<br />
Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Gesamtstrategie<br />
in der Nach-September-Welt. Das ist ein<br />
großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen:<br />
Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vierjährigen<br />
Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal<br />
über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über<br />
dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen<br />
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