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Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002<br />

Rudolf Bindig<br />

Diese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser angespannten<br />

Lage darf es keine ausländerrechtliche Rückführung<br />

von Tschetschenen nach Russland geben. Auch<br />

eine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeit<br />

nicht gegeben.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)<br />

Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erinnern,<br />

dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismus<br />

nicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere humanitären<br />

Aufgaben in Deutschland vergessen.<br />

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/<br />

DIE GRÜNEN)<br />

Vizepräsidentin Susanne Kastner:<br />

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,<br />

FDP-Fraktion.<br />

Dr. Werner Hoyer (FDP):<br />

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />

Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen gesagt,<br />

dass die internationale Politik nichts Fernes mehr<br />

sei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außenpolitik<br />

in unserem heutigen politischen Leben gar nicht<br />

mehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesen<br />

sei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause<br />

– das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland –<br />

eines vermieden, nämlich die internationale Politik, insbesondere<br />

die Außenpolitik, nur noch zum Markt der<br />

Innenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischen<br />

Taktierens zu machen. Das hat sich durch die <strong>Bundestag</strong>swahl<br />

2002 geändert. Das bedauere ich sehr.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitik<br />

der letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sind<br />

und die bisher noch keine Bundesregierung infrage gestellt<br />

hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig.<br />

Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kernelemente<br />

des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahlkampfaltar<br />

geopfert. Dazu gehört unter anderem ein starkes<br />

Engagement für den Multilateralismus, und zwar<br />

sowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheit<br />

wie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Systeme<br />

kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erst<br />

recht für die europäische Integration, die in den letzten<br />

Jahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat.<br />

Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren die<br />

konsequente Entnationalisierung der Sicherheits- und<br />

Verteidigungspolitik durch tiefe Integration, das besondere<br />

Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner in<br />

den Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis<br />

zu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichen<br />

Fortschritt in der Europäischen Union und – last, but not<br />

least – eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegründete<br />

Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.<br />

Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leicht<br />

auszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wor-<br />

tes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahren<br />

und vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramatischer<br />

Weise gefehlt.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseres<br />

UN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel,<br />

wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögliche<br />

Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Entscheidungen<br />

auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonst<br />

würden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hinter<br />

dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Renationalisierung<br />

der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

verbirgt. Sonst würden wir nicht mit<br />

Verblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dass<br />

das deutsch-französische wie das deutsch-amerikanische<br />

Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tiefpunkt<br />

erleben.<br />

Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativ<br />

deutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierung<br />

nie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischen<br />

Europa und den USA, zwischen transatlantischer Bindung<br />

und europäischer Integration, zwischen Washington<br />

und Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Unterhaus<br />

und in der französischen Nationalversammlung<br />

werden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, ob<br />

die transatlantische Bindung oder europäische Integration<br />

wichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,<br />

aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deutschen<br />

dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eine<br />

Situation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen.<br />

Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. das<br />

Problem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende das<br />

Verhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlecht<br />

ist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswegen<br />

ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpolitik<br />

fatal:<br />

(Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])<br />

Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbesondere<br />

in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nicht<br />

nur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen,<br />

werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern noch<br />

gewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass das<br />

deutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganz<br />

starke emotionale Komponente gehabt hat, und das hat<br />

insbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun.<br />

Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht.<br />

Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesen<br />

verbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischen<br />

Partner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesen<br />

Begriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, das<br />

übersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse Debatte,<br />

die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zur<br />

Irak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal,<br />

auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir eine<br />

solche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie das<br />

in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Verwundung<br />

hinterlassen und das persönliche Verhältnis<br />

weitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes-<br />

(C)<br />

(D)

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