Stenografischer Bericht 4. Sitzung - Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 15. Wahlperiode – <strong>4.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002<br />
Bundesminister Joseph Fischer<br />
Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Föderation<br />
hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabilität<br />
hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt<br />
aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die<br />
Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen<br />
und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Menschenrechte<br />
müssen in einer Demokratie beachtet werden.<br />
Das ist für mich der entscheidende Punkt.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der<br />
CDU/CSU und der FDP)<br />
Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen<br />
– mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil davon<br />
ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt –,<br />
die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen begehen.<br />
Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat<br />
ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechtsstaatlichkeit<br />
auch und gerade gegenüber unbescholtenen<br />
Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen<br />
Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien<br />
zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der<br />
schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu<br />
haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, andererseits<br />
aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demokratien<br />
auch unter schwierigsten Bedingungen an die eigenen<br />
Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden<br />
sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw.<br />
mit der russischen Politik in Tschetschenien aus.<br />
Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Verantwortlichen<br />
in Russland appellieren, endlich eine politische<br />
Lösung herbeizuführen.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela<br />
Merkel [CDU/CSU])<br />
Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens<br />
kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lösung<br />
herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer<br />
weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine politische<br />
Lösung notwendig.<br />
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines<br />
ansprechen. Die Türkei ist direkter Nachbar dieser Krisenregion.<br />
Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die<br />
ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen –<br />
wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist –, wir<br />
würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit – deswegen<br />
spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie<br />
jedes Wort so, wie es es sage – zum jetzigen Zeitpunkt die<br />
Tür öffnen. Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse<br />
nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn<br />
ich in den USA bin – ich würde mich freuen, wenn andere<br />
dies genauso tun würden –, führe ich das immer an, um es<br />
den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen.<br />
Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade<br />
der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss<br />
im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das alles<br />
nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich<br />
den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr<br />
wichtig.<br />
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Haben<br />
Sie das auch schon gemerkt?)<br />
– Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französische<br />
Motor solle laufen – ich frage Sie, was es zum Beispiel<br />
Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am<br />
Laufen zu halten –, und auf der anderen Seite fragen Sie<br />
jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ – So ist das<br />
mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos<br />
[CDU/CSU]: Hören Sie jetzt auf damit! Sie<br />
führen sich auf da oben!)<br />
Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der<br />
Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht<br />
aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung<br />
zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit<br />
zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation<br />
Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind<br />
uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutionen<br />
des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak.<br />
Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militäraktion.<br />
In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung<br />
und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen.<br />
Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig<br />
andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen<br />
so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Türkei<br />
die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die<br />
zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit<br />
Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in<br />
der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen,<br />
dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie<br />
heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich<br />
bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie eines<br />
Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den<br />
Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitgliedschaft<br />
in der Europäischen Union bedeutet und der notwendig<br />
ist, um in der Europäischen Union voll integriert<br />
zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das,<br />
was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die<br />
Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände<br />
reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin<br />
bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere<br />
Position und die des Bundeskanzlers aus.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]:<br />
Das ist nicht wahr!)<br />
Ich bestreite überhaupt nicht – niemand tut das –, dass<br />
es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner handelt.<br />
Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man<br />
nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten beseitigen<br />
können. Denn wenn meine Analyse der strategischen<br />
Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes<br />
durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann<br />
stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltliche,<br />
Modernisierung der Türkei, eines der größten islamischen<br />
Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher<br />
Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussionen,<br />
die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militärischen<br />
Optionen bezüglich eines anderen Landes führen;<br />
denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann<br />
hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategischen<br />
Sicherheit der gesamten Region zu geben.<br />
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN<br />
und bei der SPD)<br />
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