HUK 328 Juni 2020
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Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>328</strong>/JUNI <strong>2020</strong><br />
Leben im Hotel:<br />
Um das Gespräch<br />
mit Rainer als<br />
Podcast zu hören,<br />
scannen Sie den<br />
QR-Code oder folgen<br />
Sie diesem Link:<br />
www.huklink.de/<strong>328</strong>-momentaufnahme<br />
Rainer ganz<br />
entspannt: Er ist<br />
einer der ersten<br />
Bewohner*innen in<br />
unserem Hotel projekt<br />
im Bedpark.<br />
„ Jetzt habe ich wieder<br />
Kraft für die Zukunft“<br />
Rainer, 57, verkauft an der U-Bahn-Station Jungfernstieg,<br />
Ausgang Europapassage.<br />
TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Wie schnell er da sein könne, fragte eine<br />
Arbeitskollegin seiner Frau am Telefon.<br />
Es sei etwas passiert. Dass seine Frau<br />
gestorben war, erfuhr Rainer erst vor<br />
Ort. Für ihn brach eine Welt zusammen.<br />
Wieder mal hatte der Tod ihm genommen,<br />
was ihm das Wertvollste im<br />
Leben war. 51 Jahre war Rainer damals<br />
alt, seine Frau 58. Das war im Jahr<br />
2014, ein paar Monate später bekam er<br />
selbst einen Schlaganfall, „vermutlich<br />
wegen des inneren Stresses und Spätfolgen<br />
meines Alkoholismus‘“, sagt<br />
Rainer. Und wieder ein paar Monate<br />
später landete er auf der Straße. Zum<br />
zweiten Mal in seinem Leben. „Mein<br />
Vermieter hatte Eigenbedarf angemeldet“,<br />
sagt Rainer. Kraft zum Kämpfen<br />
hatte er nicht.<br />
Sechs Jahre ist das jetzt her, und<br />
Rainer ist wieder auf einem guten Weg.<br />
Er hat nämlich einiges geschafft. Er verkauft<br />
Hinz&Kunzt – und er hat sich ans<br />
Alleinsein gewöhnt, sagt er. Vielleicht<br />
sogar etwas zu gut: „Ich habe eine Art<br />
Mauer um mich gebaut. Ich lass ungern<br />
Menschen an mich ran.“<br />
Aufgewachsen ist er auf dem Kiez.<br />
Er hing sehr an der Mutter, der Oma<br />
und vor allem an seinem Vater, der Lkw-<br />
Fahrer war. In den Sommerferien durfte<br />
er oft mit ihm durch die Welt reisen.<br />
Nach der Hauptschule wurde er Lagerarbeiter.<br />
Dann starben schnell hintereinander<br />
seine Mutter und seine Oma.<br />
Rainer war Ende 20, aber die Familie<br />
war sein Ankerpunkt. Freunde hatte er<br />
kaum. Er begann zu trinken. 1995 landete<br />
auf der Straße – und bei<br />
Hinz&Kunzt. „Ich verlor den Halt“,<br />
sagt er. Vier Jahre später lernte er eine<br />
Frau kennen. Suzana war eine Kundin.<br />
Eines Tages gestand sie ihm, dass sie<br />
sich in ihn verliebt habe. Rainer konnte<br />
es nicht fassen. In ihn, der doch obdachlos<br />
war. „Aber sie sagte auch, ich müsste<br />
mir wegen des Alkohols Hilfe holen“,<br />
erzählt er. „Ich dachte nur: ‚Was hat die<br />
denn? Ich hab doch kein Problem.‘“ Er<br />
hat zwar nie eine Therapie gemacht,<br />
aber durch ihre Liebe hat er seinen Alkoholkonsum<br />
„in den Griff gekriegt“.<br />
„Sie hat wieder einen Menschen aus mir<br />
gemacht“, sagt Rainer. Ihr Tod hat ihn<br />
erneut nach unten gerissen, wenn auch<br />
nicht so tief wie zuvor. „Früher trank ich<br />
zwei Flaschen Korn und ein paar Bier“,<br />
sagt er. „Jetzt nur noch zwei, drei Bier.“<br />
Trotzdem hat es lange gedauert, bis<br />
er aus seiner Depression und Trauer<br />
aufgetaucht ist. Eigentlich erst jetzt, ausgerechnet<br />
in Coronazeiten. Rainer gehört<br />
nämlich zu den Obdachlosen, die<br />
im Hotel untergebracht sind. „Ich bin<br />
etwas zur Ruhe gekommen“, sagt er. So<br />
sehr, dass er ein Ziel hat: Er will nicht<br />
mehr auf die Straße zurück, wenn das<br />
Hotelprogramm endet. Und anders als<br />
vor seiner Beziehung zu Suzana ist<br />
er sich etwas wert. Seinen Geburtstag<br />
feiert er zwar ganz allein, „aber ich<br />
schenke mir immer eine Rose, als Symbol<br />
dafür: Du hast wieder ein Jahr auf<br />
der Straße überlebt.“ •<br />
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />
Rainer und die anderen Hinz&Künztler*innen<br />
erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
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