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Themenvielfalt unter dem Thema "Lebensraum MENSCH" Das Impulsmagazin für Erwachsene
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information & vielfalt<br />
Ort der Erinnerung:<br />
Stiefern am Kamp<br />
WAS MAN ALS KIND GELIEBT HAT, BLEIBT BIS INS HOHE ALTER IM BESITZ DES<br />
HERZENS<br />
Kurt Dreyer<br />
Jahrgang 1932<br />
Mitglied des Lyrikkreises<br />
der AWO<br />
Baden im Kamp<br />
Man schrieb das Jahr 1941.<br />
Deutschland wurde von<br />
englischen, später auch von<br />
amerikanischen Bombern<br />
angegriffen. Um seine Jugend davor zu<br />
schützen, schickte sie der „Führer“ in<br />
weniger gefährdete Gebiete.<br />
Das nannte sich Kinderlandverschickung!<br />
KLV. Ich gehörte auch dazu. Im Frühjahr<br />
war es dann soweit. Der Abschied vom<br />
Elternhaus fiel wohl allen sehr schwer.<br />
So brachten mich meine Eltern zum hannoverschen<br />
Bahnhof, wo schon ein Sonderzug<br />
der Reichsbahn auf uns wartete.<br />
Wir Kinder waren schon sehr aufgeregt<br />
und jedes Kind trug ein Schildchen um<br />
den Hals, mit Namen und Adresse der<br />
künftigen Pflegeeltern.<br />
Die Reise ging nach Österreich. Wir<br />
waren lange unterwegs, weil der Zug an<br />
fast jedem Ort hielt. Aber langsam leerte<br />
sich der Zug, da immer mehr Kinder<br />
ihren Zielort erreicht hatten.<br />
Ich selbst fand mein neues Zuhause in<br />
der Wachau, in dem kleinen entlegenen<br />
Ort „Stiefern.“ Da musste ich aussteigen,<br />
denn so stand es auf meinem<br />
Schild. Meine Pflegeeltern erwarteten<br />
mich schon neugierig am Bahnsteig. Da<br />
standen sie nun. Eine junge Frau, eine<br />
alte Dame, und was soll ich sagen, zwei<br />
Hunde waren auch dabei. Der Bruder der<br />
jungen Frau saß auf einem Motorrad mit<br />
Beiwagen. Er begrüßte mich auf seine<br />
Art, denn er war querschnittsgelähmt.<br />
Die Familie bewohnte ein hübsches Haus<br />
mit einem großen Garten und einem<br />
überdachten Innenhof. Direkt am Haus<br />
stand ein großer Marillenbaum, dessen<br />
Früchte ich erst im Sommer genießen<br />
konnte. In diesem Innenhof hatte man<br />
extra für mich eine „Hutsche“ (Schaukel)<br />
angebracht. Ich bekam ein schönes<br />
Zimmer, das bisherige Musikzimmer, das<br />
mit verschiedenen Musikinstrumenten<br />
ausgestattet war. Ein eigenes Zimmer.<br />
Welch ein Traum!<br />
In der ersten Nacht schlief ich fest wie<br />
ein Murmeltier und bemerkte nicht, dass<br />
die Hunde, „Tip und Lili“ es sich auf<br />
meinem Bett gemütlich gemacht hatten.<br />
Das wurde dann zur Gewohnheit und<br />
meist gesellte sich noch eine Katze dazu,<br />
was ich natürlich toll fand. Diese Ruhe,<br />
ohne Fliegeralarm und Bomben, schien<br />
wie aus einer anderen Welt. Zu essen<br />
gab es reichlich, im Stall tummelten sich<br />
Ziegen und Hühner.<br />
Nach ein paar Tagen der Eingewöhnung<br />
wurde ich in der Schule angemeldet.<br />
Es gab nur eine Klasse, gemischt mit<br />
Jungen und Mädchen. Das war für mich<br />
neu, aber ich fand es nicht schlecht.<br />
Nach einigen Tagen tauchte ein weiterer<br />
deutscher Schüler auf. Er kam auch aus<br />
Hannover, sogar aus meinem Wohnbezirk<br />
und hieß Karl-Heinz<br />
Schlüter. Bald waren wir unzertrennlich<br />
und verbrachten viel Zeit miteinander.<br />
Wir tollten in den Wäldern umher,<br />
Fotos: © Kurt Dreyer und Elisabeth Perteneder (Stiefern)<br />
24 | DEZEMBER <strong>2020</strong>