Wozzeck - Institut für Szenische Interpretation von Musik + Theater
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kleine Veränderungen und Textzusammenfassungen „erzwingt“ Berg einen dramatischen Ablauf<br />
nach dem Schema „Exposition, Peripetie und Katastrophe“ (BERG 1929, S. 160). Sodann<br />
versucht er, durch die Anwendung eindeutiger Formschemata <strong>für</strong> jede einzelne Szene, daß die<br />
Szenen untereinander kontrastieren, aber jede in sich doch geschlossen wirkt. Mit diesen beiden<br />
Maßnahmen schafft sich Berg den notwendigen Rückhalt, um dann mit „vielerlei Gestalten“<br />
arbeiten zu können (BERG 1929, S. 164).<br />
Bei all diesen Maßnahmen wird die Idee Büchners, in einem offen gehaltenen Realismus den<br />
psychosozialen Kreislauf darzustellen, aufgehoben (was Adorno positiv gesehen hat). Allerdings<br />
ist Büchners Idee nur aufgehoben und nicht verloren. Die Grundthese der szenischen<br />
<strong>Interpretation</strong> des „<strong>Wozzeck</strong>“ ist nämlich, daß Büchners Idee und damit der psychosoziale<br />
Kreislauf durchaus in den „vielerlei Gestalten“ Bergs konkret erfaßt und erfahren werden<br />
können, sobald es gelingt, in einem erfahrungsbezogenen Prozeß den spezifischen Kunstwerkcharakter<br />
der Oper Bergs aufzulösen. Auch wenn es Versuche gegeben hat, diese These<br />
textphilologisch und mittels einer dialektischen Hermeneutik zu beweisen (ULLMANN<br />
1977), so ist sie doch in der vorliegenden ideologiekritischen Deutlichkeit erst durch das szenische<br />
Spiel als Prozeß wissenschaftlicher Forschung möglich und beweisbar geworden.<br />
Unter „vielerlei Gestalten“ ist im wesentlichen alles das zu verstehen, was im vorigen Kapitel<br />
in Form des gestischen Singens, der melodramatischen Sprache und der „rückübersetzten“<br />
Lieder, Märsche, Tänze, Tonmalereien, Illustrationen, Bewegungsabläufe usw. angesprochen<br />
worden ist. Parallel zum Versuch, alle Feinheiten des Textes genau zu durchdenken und auszukomponieren,<br />
verwendet Berg Verfremdungseffekte, das gestische Prinzip psychologisierender<br />
Gestaltgebung und einen melodramatischen Sprachgesang. Dadurch entsteht eine neue<br />
Art <strong>von</strong> Unschärfe und Verallgemeinerung, die der Tendenz zur „Geschlossenheit“ und<br />
„zwingenden Einheitlichkeit“ entgegenwirkt. Es ist nicht zu verkennen, daß selbst 75 Jahre<br />
nach der Entstehungszeit des „<strong>Wozzeck</strong>“ die frei atonale Tonsprache Bergs noch immer starke<br />
zentrifugale Kräfte besitzt. Die meisten SchülerInnen k”nnen heute die „<strong>Wozzeck</strong>“-<strong>Musik</strong><br />
zwar als interessante Filmmusik h”ren und akzeptieren. In der szenischen <strong>Interpretation</strong> geht<br />
es aber nicht darum, der <strong>Musik</strong> Bergs zur Akzeptanz zu verhelfen oder eine tragische Geschichte<br />
mit Hintergrundsmusik durchzuarbeiten. Zudem stimmen die heute geltenden und<br />
millionenfach reproduzierten Filmmusik-Klischees bei präzisem Umgang mit dem Text in<br />
„<strong>Wozzeck</strong>“ nicht mit Bergs „vielerlei Gestalten“ überein. Auch der filmmusikalisch gängige<br />
Kon- und Dissonanzgebrauch trifft auf Berg nicht zu. Die zentrifugale Kraft der <strong>Musik</strong> des<br />
„<strong>Wozzeck</strong>“ speist sich heute gerade aus einer Inkongruenz zur Filmmusikästhetik, an die sie -<br />
nicht zuletzt aufgrund der Collage- und Schnitttechnik in „<strong>Wozzeck</strong>“ - dennoch immerzu<br />
erinnert.<br />
Die szenische <strong>Interpretation</strong> läßt bewußt alle Bemühungen Bergs um „Geschlossenheit“ und<br />
„zwingende Einheitlichkeit“ unberücksichtigt. Sie setzt durch pietätlose und an Büchners<br />
Fragmentarismus angelehnte Szenenauswahl die sorgfältige Konstruktion <strong>von</strong> Exposition,<br />
Peripetie und Katastrophe außer Kraft. Sie löst mit ihren punktuellen szenischen Einfühlungsverfahren<br />
sowie der Detailarbeit an Szenenausschnitten die Logik der diversen Formkonstruktionen<br />
Bergs auf. Sie hält den musikalisch vorkonstruierten Zeitablauf an, fährt zurück, wiederholt<br />
und überspringt. Mit gestischem Singen, einem freien melodramatischen Sprechen,<br />
der nicht-notengetreuen Reproduktion „rückübersetzter“ Lieder, Märsche, Tänze und mit improvisatorischen<br />
Elementen wird zudem die letzte Aura des festgefügten kompositorischen<br />
Willens <strong>von</strong> Alban Berg beschädigt.<br />
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