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Wozzeck - Institut für Szenische Interpretation von Musik + Theater

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„Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Repräsentanten jener armen und ungebildeten Klassen,<br />

die mit Beginn der Industrialisierung, der Aufhebung der Leibeigenschaft und des Zerfalls<br />

der Zünfte ohne (feste) Arbeit und Zukunftsperspektive am Existenzminimum ihr Dasein<br />

fristeten. Das Stück demonstriert und kritisiert eine soziale Situation, die Büchner in Hessen<br />

vorfand. Es zeigt sie aus der Perspektive <strong>von</strong> ‚Menschen mit Fleisch und Blut’ (Büchner),<br />

zeigt Unterdrückung, Liebe, Haß, Neid, Tanz, Alkohol, Prügelei, Mord, die Faszination der<br />

Märchen, des Spiels, des Flitters und des K”rpers - die kleinen Fluchten und Hoffnungen in<br />

einem Alltag, in dem man gesellschaftlich keine Rolle spielt und deshalb auch (gemessen an<br />

bürgerlichen Normen) asozial ist und handelt“ (SCHELLER 1987, S. 3).<br />

In dieser Situation geschieht ein Mord. Büchners Augenmerk richtet sich auf die Verantwortung,<br />

die Menschen <strong>für</strong> das, was sie tun, haben. Die gerichtsmedizinische Frage, ob (der historische<br />

Johann Christian) Woyzeck bei der Mordtat verrückt und unzurechnungsfähig gewesen<br />

ist, wird sozial gestellt: Sind die vielen Woyzecks, die sog. kleinen Leute, <strong>für</strong> das verantwortlich,<br />

was sie tun? In seinem Dramenfragment gibt Büchner keine eindeutige Antwort. Büchners<br />

Darstellung vermeidet explizite Schuldzuweisungen und ist nicht im herkömmlichen<br />

Sinne anklagend-sozialkritisch: „Die bösen Herrschenden und Großen drangsalieren die guten<br />

Beherrschten und Kleinen wo und wie sie nur können. Die Kleinen werden mit Gewalt daran<br />

gehindert, aufzubegehren. Sie tun es nur nicht, weil sie es nicht können...“<br />

Büchner stellt die Wirklichkeit so dar, wie sie ist. Dadurch entwirft er das Portrait eines psychosozialen<br />

Kreislaufs, demzufolge die Menschen allesamt - vor allem auch die kleinen Leute<br />

- die Verhältnisse, unter denen sie leiden und an denen sie zugrunde gehen, zwar nicht selbst<br />

produzieren, aber doch reproduzieren. Die kleinen Leute haben Mechanismen des gegenseitigen<br />

Umgangs entwickelt, die die herrschenden Verhältnisse stabilisieren helfen. Die Herrschenden<br />

können sich bei ihrem Tun scheinbar zu Recht auf das Handeln und Denken der<br />

Beherrschten berufen. Daß die Masse der kleinen Leute nicht aufbegehrt, liegt also nicht nur<br />

daran, daß sie nicht können, sondern auch gar nicht wirklich wollen.<br />

Natürlich will Büchner letztlich erreichen, daß die kleinen Leute lernen aufzubegehren. Er<br />

stellt dazu aber keinen idealistischen oder moralischen Appell in die <strong>Theater</strong>landschaft. Er<br />

portraitiert auch nicht irgendwelche vorbildlichen, revolutionären Subjekte. Er versucht vielmehr<br />

eine möglichst getreue Darstellung der vielen alltäglichen Mechanismen, die den sich<br />

selbst regulierenden psychosozialen Kreislauf zwischen Beherrschten und Herrschenden ausmachen:<br />

Konkurrenz, ästhetischer Schein, Alkohol, schlechtes Gewissen, Zeitdruck, Neid,<br />

unerfüllte Wünsche, Eifersucht, Provokation und gegenseitige körperliche Gewalt, Mißtrauen,<br />

Klugschwätzerei, sch”ne Kleidung, flotte <strong>Musik</strong>, Sticheleien, Aberglaube und Glaube, Flitter<br />

und Tand usw. Da Büchner selbst aber nicht zur Klasse der kleinen Leute gehört, muß er, um<br />

sein Portrait entwerfen zu können, sich einfühlen. Er tut dies vor allem durch Genauigkeit der<br />

Beobachtung und Empathie: „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen<br />

jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann<br />

man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tieferen Eindruck als die bloße<br />

Empfindung des Schönen“ (aus „Lenz“, BÜCHNER 1965, S. 72).<br />

Unklar ist freilich, wie Büchner sich die „Agitation“ des <strong>Theater</strong>publikums durch solcherart<br />

Realismus vorstellt. Als seine Fragmente 1914 erstmals in Wien aufgeführt worden sind, hat<br />

das (bürgerliche) Publikum, unter dem sich auch Alban Berg befand, Büchners Realismus als<br />

aufregendes expressionistisches Stilmittel verstanden, mit dem ein zutiefst tragisches Handlungsschema<br />

dargestellt war. Mitleid mit dem armen <strong>Wozzeck</strong> paarte sich mit Wut auf die<br />

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