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Wozzeck - Institut für Szenische Interpretation von Musik + Theater

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Zuschauer der Kriege und Greuel, des Hungers und der Katastrophen in aller Welt vor einem<br />

flimmernden Bildschirm ein und trösten sich mit dem Eindruck, daß es anderswo noch<br />

schlimmer zugeht.<br />

Schon SchülerInnen und StudentInnen bereiten sich innerlich auf die Möglichkeit solch eines<br />

Lebens vor. Ihr Widerstand gegen diese Perspektivelosigkeit äußert sich aber eher darin, nach<br />

guten Zensuren zu streben, als darin, das Selbstverständliche zu hinterfragen und den sich<br />

anbahnenden psychosozialen Kreislauf zu durchbrechen. So bahnt sich bereits in der Schule<br />

eine Doppelstrategie an: Einerseits müssen die SchülerInnen damit rechnen, selbst in wenigen<br />

Jahren <strong>von</strong> der „neuen Armut“ Deutschlands ergriffen zu werden, weil heute in Deutschland<br />

keine wie auch immer geartete Ausbildung eine Zukunftsgarantie darstellt. Diese Perspektive<br />

beängstigt und wird aus dem Bewußtsein verdrängt. Daher wehren GymnasiastInnen ab, was<br />

sie an die „neue Armut“ erinnern könnte. Sie grenzen sich gegenüber Pennern, BettlerInnen,<br />

Außenseitern, Drogensüchtigen und oft generell gegenüber sämtlichen alten und neuen<br />

Schichten des Subproletariats ab mit einem Bewußtsein, das <strong>für</strong> elitäre, darwinistische, asoziale<br />

und rassistische Inhalte anfällig ist.<br />

In dieser Situation kann die Auseinandersetzung der SchülerInnen mit der scheinbar fremden<br />

Lebenswelt eines <strong>Wozzeck</strong> oder dem lustvollen aber todbringenden Ausbruchsversuch Maries<br />

anregen, eigene Gefühle, Phantasien und ßngste zu artikulieren oder neu zu sehen. Im Schutz<br />

der Rollen, d.h. durch die Einfühlung in die handelnden Figuren aus „<strong>Wozzeck</strong>“ und durch<br />

musikalisch-szenisches Handeln k”nnen SchülerInnen ihre Einstellungen gegenüber andersartigen<br />

Menschen, ihre Erfahrungen mit Herrschaft, struktureller Gewalt oder Konkurrenz, ihre<br />

Ängste vor Verarmung, körperlicher Gewalt oder den Folgen individueller Ausbruchsversuche<br />

äußern, verfremden und neu erleben. Sie können sich einerseits dem psychosozialen<br />

Kreislauf der „neuen Armut“ in Deutschland stellen und andererseits auch in Menschen einfühlen,<br />

die im Strudel dieses Kreislaufs bereits nach unten gesogen worden sind.<br />

Die SchülerInnen können sich am Beispiel des <strong>Wozzeck</strong> mit der Rolle eines Mannes auseinandersetzen,<br />

der in einer patriarchalen Gesellschaft zugrunde geht. Einer Gesellschaft, die<br />

erbarmungslos verlangt, daß Männer stark sind, Gefühle oder außergewöhnliche Wahrnehmungen<br />

unterdrücken, eine Familie spielend ernähren können, sich gegenüber Konkurrenten<br />

durchsetzen, zu kumpelhaften Männerfreundschaften in der Lage sind, im Wirtshaus große<br />

Sprüche produzieren und sich gegenüber Vorgesetzten besonnen, taktisch klug und cool verhalten.<br />

Die SchülerInnen können sich am Beispiel der Marie mit der Rolle einer Frau auseinandersetzen,<br />

die in einer patriarchalen Gesellschaft zugrunde geht. Einer Gesellschaft, die starke,<br />

selbstbewußte und aktive Frauen nicht duldet; die <strong>von</strong> Frauen verlangt, daß sie zufrieden sind,<br />

wenn sie ein Heim, ein Kind und einen Freund haben, der das Kindergeld pünktlich vorbeibringt;<br />

die <strong>für</strong> alle Frauen, die sich mit solchen Rollen nicht abfinden und aus ihnen ausbrechen<br />

wollen, nur das Etikett „Hure“ zur Verfügung hat; die Sinnlichkeit oder erotische Ausstrahlung<br />

entweder als „triebhaft“ oder als „tragisch“ abtut; die vollzogene und lustvoll erlebte<br />

Ausbruchsversuche tötlich enden läßt.<br />

Die SchülerInnen können sich am Beispiel <strong>Wozzeck</strong>s und Maries fragen, warum neben den<br />

Männern dieser Gesellschaft (zu denen sowohl Hauptmann, Doktor, Andres, Tambourmajor,<br />

Narr, Wirt usw. aus „<strong>Wozzeck</strong>“ als auch die musikwissenschaftlichen „<strong>Wozzeck</strong>“-Interpreten<br />

Redlich, Forneberg, Adorno, Leibowitz usw. zählen) auch die Frauen an der Reproduktion<br />

derart patriarchaler Strukturen beteiligt sind; warum Frauen, die auszubrechen versucht haben,<br />

zurück in religiösen Wahn verfallen, <strong>von</strong> schlechtem Gewissen geplagt werden, ihre Kinder<br />

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