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vsao Journal Nr. 4 - August 2021

Spannung- Von Masten bis Muskeln Nephrologie - Zystennieren – ein schwieriges Erbe Analgetika - Neuropathische Schmerzen Politik - Medizin und Klimaschutz

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Perspektiven<br />

Vereinigen Königreich dazu geführt, dass<br />

diese den Benzodiazepinen gleichgesetzt<br />

wurden: «… Pregabalin und Gabapentin<br />

werden unter dem ‹Misuse of Drugs Act<br />

1971› als kontrollierte Substanz der Klasse<br />

‹C› geführt und wurden gemäss Aufstellung<br />

3 des ‹Misuse of Drugs Regulations<br />

2001› gelistet» [23].<br />

Indikation für Opioide streng stellen<br />

In der NICE-Guideline wird den Opioiden<br />

bei der Behandlung von NP nur in Form<br />

von Tramadol im Notfall ein Stellenwert<br />

eingeräumt: «Erwägen Sie Tramadol nur,<br />

wenn eine akute Rescue-Therapie notwendig<br />

ist». Für WHO-Stufe-III-Präparate<br />

gibt es dort keine Empfehlung für eine<br />

Langzeitbehandlung. Dies liegt in der fehlenden<br />

Über legenheit bzgl. NNT und NNH<br />

im Vergleich zu Tramadol in der Literatur<br />

begründet. Auch im Systematischen Review<br />

und Metaanalyse des Lancet Neurology<br />

von 2015 werden starke Opioide als<br />

Drittlinien-Medikament eingeordnet.<br />

Dies entspricht weitgehend der allgemeinen<br />

Empfehlung für die verantwortungsvolle<br />

Verschreibung von Opioiden bei<br />

chronischen Schmerzen im «IASP Statement<br />

on Opioids» vom Februar 2018, welches<br />

durch ein elfköpfiges, internationales<br />

Expertengremium unter Leitung von<br />

Prof. J. Ballantyne (UW, Seattle) getroffen<br />

wurde: «Die IASP empfiehlt Zurückhaltung,<br />

wenn Opioide für chronische<br />

Schmerzen verschrieben werden» [25, 26].<br />

Diese Bewertungen sind Bestätigungen<br />

der alten deutschsprach igen S3-Leitlinie<br />

«Langzeitanwendung von Opioiden bei<br />

nicht tumorbedingten Schmerzen<br />

(LONTS)», die nun auch in ihrer aktualisierten<br />

Form vorliegt [27]. Auch dort werden<br />

Opioide im Prinzip nur noch zeitlich<br />

begrenzt und mit fest definierten Therapiezielen<br />

eingesetzt. Bezeichnenderweise<br />

gilt ein gutes Ansprechen auf Antineuropathika<br />

kombiniert mit einem schlechten<br />

Ansprechen auf Opioide als charakteristisch<br />

für neuropathische Schmerzen [28].<br />

Insgesamt ist also vom Einsatz dieser Substanzen<br />

eher abzuraten.<br />

Weitere Medikamente beim<br />

Spezialisten<br />

Für alle weiteren oralen Behandlungsoptionen<br />

wie Na+-Blocker, SNRI, medizinische<br />

Cannabinoide oder NDMA-Rezeptor-Agonisten<br />

sollten Patienten an spezialisierte<br />

Schmerzmediziner verwiesen werden.<br />

Diese sollten idealerweise Zugang zu<br />

einem erweiterten therapeutischen Netzwerk<br />

haben. Langfristig sind weitere<br />

Therapiekomponenten im Rahmen des<br />

«biopsychosozialen Models» notwendig,<br />

um die Lebensqualität und Funktionalität<br />

des Patienten aufrecht zu erhalten: Körpertherapie,<br />

kognitive Verhaltenstherapie,<br />

Schmerzedukation und Schmerzmanagement,<br />

Sozialberatung u.v.m.<br />

Intravenöse Behandlungsoptionen<br />

Auch die Anwendung von Ketamin bei Patienten<br />

mit chronischen Schmerzen gehört<br />

dementsprechend in die Hand von<br />

Spezialisten. Diese Applikation führt zu<br />

einer kurzzeitigen Verbesserung der Beschwerden,<br />

ohne starke Evidenz für eine<br />

Langzeitwirkung [29]. So sind wir in der<br />

Schmerzambulanz des Inselspitals bemüht,<br />

eine Ketamin-Serie am Vormittag<br />

mit subsequenten Terminen bei unseren<br />

körpertherapeutischen Partnern abzusprechen<br />

– wie Ergo- oder Physiotherapie.<br />

Eine allgemeine Verbesserung des Wohlbefindens<br />

kann durch die nachgewiesene<br />

akute, antidepressive Wirkung von Ketamin<br />

verursacht werden [42].<br />

Intrathekale Medikamentengabe<br />

Bei der intrathekalen Medikamentengabe<br />

(ITDD) werden Medikamente direkt über<br />

ein Kathetersystem in den Durasack im<br />

Canalis spinalis eingebracht und vermischen<br />

sich dort mit dem Liquor. Das Medikamentenreservoir<br />

ist dabei meist an der<br />

ventralen Bauchwand fixiert und wird in<br />

Monatsabständen unter sterilen Kautelen<br />

über ein Portsystem befüllt.<br />

Nach über 20 Jahren klinischer Erfahrung<br />

mit dieser Applikationsform wird<br />

Opioiden nur noch in der Palliativmedizin<br />

einen sinnvollen Stellenwert zugeordnet,<br />

da die Wirksamkeit sich auch hier langfristig<br />

erschöpft. Dann steht man vor<br />

Herausforderungen im Schmerzmanagement,<br />

die man als extrem bezeichnen<br />

muss [30]. Ins besondere Abhängigkeit,<br />

Toleranz und Opioid-induzierte Hyperalgesie<br />

sind reelle Risiken, denen die Patienten<br />

unter Langzeit-Opioidtherapie ausgesetzt<br />

sind. Lediglich die Applikation des<br />

GABA-Agonisten Baclofen bei zentralen<br />

neuropathischen Schmerzen und<br />

schmerzhafter Spastik im Kontext von<br />

Querschnittslähmungen oder der MS<br />

scheint eine sinnvolle Therapieoption zu<br />

sein [31, 32]. Auch für die Dystonie bei<br />

komplexen, regionalen Schmerzsyndrom<br />

(CRPS) kann Baclofen als Therapieoption<br />

gemäss Leitlinien erwogen werde. Man<br />

muss aber auf erhebliche Nebenwirkung<br />

vorbereitet sein [33, 34].<br />

Zusammenfassung<br />

Screening<br />

Planen Sie die Implementierung von Fragebögen<br />

(z. B. DN-4) zur Diagnosesicherung<br />

und Ergänzung ihrer Schmerzanamnese<br />

und körperlichem Untersuchungsbefund<br />

– auch im postoperativen Setting.<br />

Multifokale Ursachen erkennen<br />

Ein komplexes Zusammenspiel ist stets<br />

möglich. Ziehen Sie im Zweifelfall frühzeitig<br />

Spezialisten zur Mitbeurteilung hinzu.<br />

Prävention bei Operationen<br />

Denken Sie als operativ tätiger Kollege an<br />

die Implementierung von kontinuierlichen<br />

Regionalanästhesieverfahren bei Eingriffen<br />

mit hohem Risiko für neuropathischen<br />

Schmerzen ein, wie z. B. in der Thoraxund<br />

Mamma-Chirurgie.<br />

Patientenedukation<br />

WHO-Stufe-I-Präparate sind ohne relevante<br />

Wirkung. Bremsen Sie die Erwartungshaltung<br />

für die Co-Anal getika: «Start<br />

low – go slow». Es sind Spiegelmedikamente.<br />

Machen sie offensiv Werbung für<br />

Antidepressiva (TCA / SNRI). Sie haben<br />

das beste Nutzen-Risiko-Verhältnis.<br />

Therapeutenedukation<br />

Gabapentinoide sollten heutzutage mit<br />

Bedacht verschrieben werden, da sich immer<br />

mehr ein ernst zu nehmendes Abhängigkeitspotential<br />

dieser Substanzgruppe<br />

abbildet. Vorsicht und Augenmass gilt<br />

aber besonders bei Opioiden: zeitlich begrenzen,<br />

Therapieziele definieren z. B. die<br />

Durchführung von intensiver Ergo- und<br />

Physiotherapie. Verzicht auf WHO-Stufe-III-Präparate.<br />

Opioide gefährden im<br />

langfristigen Einsatz Ihre Patienten gesundheitlich<br />

und mental.<br />

Therapieerfolg<br />

Lebensqualität und Funktion im Alltag<br />

sind für beide Seiten sinnvollere Parameter<br />

für den Erfolg der Therapiebemühungen<br />

als die reinen Schmerzskalen.<br />

Dr. med. Florian Reisig<br />

Universitätsklinik für Anästhesiologie<br />

und Schmerztherapie<br />

Inselspital<br />

Universität Bern<br />

Freiburgstrasse 18<br />

3010 Bern<br />

florian.reisig@insel.ch<br />

<strong>vsao</strong> /asmac <strong>Journal</strong> 4/21 51

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