Heft 2, Jahrgang 140 - Canisianum
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4. Krisis der Ideologien<br />
(christologischer Zugang):<br />
Zwischen der Christologie als Teil der systematischen<br />
Theologie und der Herz-Jesu-<br />
Frömmigkeit als zeit- und kulturbedingter<br />
Form der Spiritualität scheinen Welten zu liegen.<br />
Das eine ist ein kritischer Diskurs in<br />
Auseinandersetzung mit einer vielfältigen<br />
Tradition und den Fragen der Zeit, das andere<br />
eine „selbstverständliche“, mit Emotionen und<br />
Symbolen verbundene Praxis des Glaubens;<br />
wie kann also ein christologischer Zugang<br />
zum Geheimnis des Herzens Jesu möglich<br />
sein?<br />
Wer sich dieser Spannung stellt, erkennt über<br />
kurz oder lang, dass die Trennung in<br />
„Theologie“ und „Spiritualität“ Lebens- und<br />
Denkformen zerreißt, die untrennbar zusammengehören.<br />
Weder ist die christologische<br />
Reflexion „blanke Theorie“ noch die Herz-<br />
Jesu-Frömmigkeit „bloße Emotion“. Walter<br />
Kasper stellt einmal klar: „Das Bekenntnis<br />
‚Jesus ist der Christus’ ist die Kurzformel des<br />
christlichen Glaubens, und Christologie ist<br />
nichts anderes als die gewissenhafte<br />
Auslegung dieses Bekenntnisses.“ 31 Wenn<br />
aber das Bekenntnis zu Jesus dem Christus<br />
das Fundament bildet, kann zwischen diskursiver<br />
Verantwortung („Christologie“) und spiritueller<br />
Praxis („Herz-Jesu-Verehrung“) nicht<br />
ein Gegensatz bestehen – als ob es um zwei<br />
verschiedene Glaubensinhalte ginge –, sondern<br />
nur eine methodische und topologische<br />
Differenz. Kommt nicht in dem, was an Hoffnung,<br />
Sehnsucht und (vermittelter) Erfahrung<br />
im Symbol des „Herzens Jesu“ präsent ist, ein<br />
Lebensverhältnis zu Jesus Christus zur<br />
Geltung, das ja ein inneres Moment christologischer<br />
Verantwortung darstellt?<br />
Mehr noch: Die Verehrung des Herzens Jesu<br />
kann ein „Ort“ des gelebten sensus fidei (LG<br />
12) sein, der das Volk Gottes auszeichnet; sie<br />
kann gegenüber der Christologie auch orientierende<br />
und korrigierende Funktion ausüben<br />
(und umgekehrt). Karl Lehmann hat als junger<br />
Theologe in einem beeindruckenden Vortrag<br />
im <strong>Canisianum</strong> das theologische und humane<br />
Kapital der Herz-Jesu-Verehrung hervorgehoben:<br />
„Wir suchen tastend und auf vielen<br />
Irrwegen nach dem ‚neuen Menschen’ und<br />
26<br />
THEOLOGIE UND KIRCHE<br />
nach unverratener Humanität. Als Christen<br />
sind wir oft hin- und hergerissen zwischen<br />
einem dünnen Humanismus […] und einem<br />
supranaturalistischen Christusglauben, der<br />
die konkrete Menschlichkeit Gottes nicht mehr<br />
überzeugend zu vermitteln versteht. Ich<br />
meine, die Herz-Jesu-Verehrung würde noch<br />
ungehobene Schätze in Richtung einer ‚neuen<br />
Menschlichkeit’ des Menschen in sich bergen.“<br />
32 Lehmann begreift hier die Herz-Jesu-<br />
Spiritualität als christologisches Korrektiv, als<br />
kritischen Impetus auf der Suche nach „unverratener<br />
Humanität“ – und genau das ist christologisch<br />
von höchster Relevanz: Das<br />
Bekenntnis zu Christus ist ja keine Alternative<br />
oder ein (religiöser) Zusatz zu menschlicher<br />
Identität und Solidarität, sondern deren<br />
Grundlage und Horizont. Nicht trotz, sondern<br />
aufgrund des Anspruchs der Christologie hat<br />
Anthropologie Sinn und Geltung – genau<br />
diese Einsicht erwächst aus der Verehrung<br />
des Herzens Jesu, wenn diese nicht als extravagante<br />
Privatfrömmigkeit betrieben wird,<br />
sondern als Ausdruck des Bekenntnisses,<br />
dass all das, was das menschliche „Herz“ ausmacht,<br />
in der Beziehung zu Christus, dem<br />
„Mann mit dem zerschlagenen Herzen“, seinen<br />
„Ort“ findet.<br />
Von daher lässt sich die Herz-Jesu-<br />
Frömmigkeit als „Topos“ der Christologie verstehen,<br />
der die rechte Beziehung von<br />
Anthropologie und Theologie markiert, wie sie<br />
in der „klassischen“ Formel von Chalcedon<br />
(„unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und<br />
unteilbar“) zum Ausdruck kam (DH 302).<br />
Weder stehen die menschliche Erfahrung und<br />
die Zuwendung Gottes in Christus völlig<br />
beziehungslos nebeneinander, noch beeinträchtigt<br />
der Anspruch Gottes die Freiheit des<br />
Menschen. Vielmehr erfährt der suchende,<br />
fragende und auch verletzte Mensch in der<br />
Betrachtung des Schicksals Jesu Krisis und<br />
Befreiung: Krisis, weil ihm das Scheitern eigener<br />
Heils- und Erlösungskonzepte deutlich<br />
wird, und Befreiung, weil ihm der Horizont<br />
eines neuen Menschseins aufgeht, das durch<br />
das „Herz Jesu“ angezeigt wird. Aus diesem<br />
Grund hat Walter Kern SJ den Gekreuzigten<br />
als „Krisis der Ideologien“ 33 bezeichnet und<br />
deutlich gemacht: das Bekenntnis zu Jesus<br />
Christus sperrt sich gegen jeglichen Versuch,