Heft 2, Jahrgang 140 - Canisianum
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PHILOSOPHIE<br />
telbar vorkäme. Aber es kommt vor in seiner<br />
verschlüsselten Spur, im Widerspruch gegen<br />
die pure Autonomie des sich selbst besitzenden,<br />
sich selbst verstehenden Subjekts.<br />
Philosophisches Denken ist zurück in einer<br />
Fassungslosigkeit, von der sich die Autonomie-Formel<br />
der Aufklärung nichts hat träumen<br />
lassen. Die folgenden Analysen sind Sprachrohr<br />
gesamtkultureller „Erdbeben“.<br />
2 Anthropologische Schnittstellen zwischen<br />
Philosophie und Theologie<br />
2.1 Freilegung der Unverfügbarkeit des<br />
Ereignisses: Jean-François Lyotard<br />
Lyotard (1924–1998), der „Erfinder“ der Postmoderne<br />
mit seinem Essay von 1979 6 , kennzeichnete<br />
die Postmoderne durch Einbrüche,<br />
die gedanklich nicht „gebändigt“, aber auch<br />
nicht weggedeutet werden können: durch das<br />
Ereignis und das Erhabene. Beide zerstören<br />
die Selbstsicherheit der Vernunft, erlauben<br />
aber auch keine beliebige Auslegung. Im<br />
Ereignis liest sich, auch theologisch, unschwer<br />
noch das Geschichtsdenken des<br />
Judentums, daß menschliche Geschichte<br />
nicht ein naturhaft-gleichmütig ablaufendes<br />
Geschehen sei. Geschichtlich strukturiertes<br />
Geschehen bestehe vielmehr aus Ereignissen,<br />
aus dem Unvorhergesehenen, dem<br />
Nicht-Kausalen. Das Ereignis setzt Lyotard<br />
zwar nicht religiös an; aber es enthält doch<br />
eine bemerkenswerte Analogie zur Grundfigur<br />
der negativen Theologie: Das Ereignis als<br />
Ereignis sei philosophisch nicht systematisierbar,<br />
es bleibe unbestimmt im Sinne des<br />
Undarstellbaren. Das zeigt eine Weigerung<br />
an, überall „vernünftige“ Zusammenhänge zu<br />
setzen und Lyotard ist ein entschiedener<br />
Gegner von Habermas’ „vernünftigem Diskurs“.<br />
Das Ereignis finde vielmehr gerade<br />
außerhalb der Logik statt. Es brauche weder<br />
vernünftig zu sein, noch brauche es einhellige,<br />
eindeutige Sprache aufzuweisen, noch weniger<br />
müsse man sich darauf konsentisch zu<br />
einigen - gerade der „Widerstreit“ ist mit dem<br />
Einbruchscharakter des Ereignisses vorgegeben.<br />
7 Auf das Ereignis einigt sich niemand; es<br />
findet statt. Es gibt also in der kulturell aufge-<br />
bauten Daseinssicherung Sprengungen, und<br />
zwar Sprengungen durch Wirklichkeit, für die<br />
das autonome, aber auch das pluralisierte<br />
Subjekt keine Regeln kennt. (Der Mauerfall<br />
von 1989 und der ominöse 11. September<br />
2001 scheinen im Vorhinein illustriert.)<br />
Dazu tritt le sublime – ein Begriff, welcher auf<br />
Kants Schrift Über das Gefühl des Schönen<br />
und des Erhabenen zurückgeht. Im Ereignis<br />
zeigt sich ein Erhabenes, freilich nicht, indem<br />
es als Gott identifiziert wird. Aber dennoch so,<br />
daß das Erhabene nicht eingeht in die vorhandenen<br />
Kategorien (was wörtlich – es sei<br />
daran erinnert – „Anklagen“ heißt). „Es gibt<br />
zwei Kennzeichen des Sublimen. Das<br />
Sublime ist jenes einbrechende Neue,<br />
Unvorhergesehene, jene Wirklichkeit, die sich<br />
plötzlich unseres Denkens und unserer<br />
Kategorien bemächtigt.“ Es ist ein unerklärt,<br />
unangekündigt Machtvolles, das kommt. Das<br />
Erhabene ist nicht reine Lust; „es ist eine<br />
Mischung aus Lust und Schmerz“. 8<br />
Lyotard führt philosophiekritisch aus, daß der<br />
Schmerz zum Dasein hinzugehört, und daß<br />
Philosophie, solange sie nur die Empfindung<br />
von Schmerz thematisiert also die subjektive<br />
Reaktion –, in der regulierten Wahrnehmung,<br />
in der Selbstbeobachtung des eigenen<br />
Gefühls, im Distanziert-Ästhetischen bleibt.<br />
So sei das Gefühl des Erhabenen bei<br />
Schleiermacher zunächst ein angenehmes<br />
Gefühl: Es bewirke im Ich Ehrfurcht, Frieden<br />
und so fort. Aber die Wirklichkeit, wenn sie<br />
wirklich werde, beinhalte eine Schmerzerfahrung,<br />
die über die pure ichgebundene<br />
„Empfindung“, etwa des Angenehmen, weit<br />
hinausgehe. Denn im Erhabenen ist laut<br />
Lyotard eine „Monstrosität“, eine Un-Form<br />
oder Form-Losigkeit, die sich dem Denken formal<br />
entzieht. Das Denken kann nachträglich<br />
daran arbeiten; aber es kann nicht daran<br />
arbeiten, solange es währt. Wenn die Vernunft<br />
Form schafft – Überblick, argumentative, kausale<br />
Bezüge –, dann wird sich das Erhabene<br />
so monströs gegen eine Verarbeitung sperren<br />
(monströs im Sinne von „monstrare“ = sich<br />
selber zeigend), daß es vom Verstand nur fassungslos<br />
wahrgenommen werden kann.<br />
Lyotard denkt in eine ursprüngliche Fassungslosigkeit<br />
gegenüber der Wirklichkeit<br />
zurück; auch die menschliche Sprache ver-<br />
5