Grundbestandteil dieses Regelwerkes ist die repräsentative Demokratie. Bürgerinnen und Bürger wählen Vertreter in Parlamente, die dort entscheiden, mit Mehrheiten oder einstimmig. Die Ergebnisse gilt es grundsätzlich zu respektieren. Nur in Ausnahmen greift das Korrektiv des Bürgerentscheids. Abgesehen davon, dass es per se anmaßend ist, wenn einige Lautstarke <strong>für</strong> sich reklamieren, die Interessen aller zu vertreten <strong>–</strong> mit direkter Demokratie hat das nicht zwangsläufig zu tun. Bürgerinnen und Bürger müssen in Planungsprozesse eingebunden werden, die sie betreffen. Sie haben das Recht auf kritische Fragen und darauf, ernst genommen und gehört zu werden, sowie eigene Vorschläge einzubringen. Doch wo ist die rote Linie, ab der basisdemokratische Instrumente missbraucht werden, um Entwicklungen auszuhebeln, die dem Gemeinwesen dienen? Prof. Dieter Rucht: Die Bereitschafft zum Einmischen ist gewachsen. Energiewende? Jawohl! Aber: Not in my backyard. Unter Experten gehen die Meinungen darüber, ob Bürgerbeteiligung zunehmend missbraucht wird, um Einzelinteressen durchzusetzen, auseinander. Professor Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin <strong>für</strong> Sozialforschung seit Jahrzehnten zum Thema gesellschaftlicher Protest forscht, sieht in Deutschland keinen generellen Trend zu mehr Widerstand gegen Projekte. Die Menschen seien nur besser informiert und dank der digitalen Medien besser vernetzt, sagt er. Deshalb sei ihre Bereitschaft gewachsen, sich auch in öffentliche Diskurse einzubringen. Ein Trend sei es dabei, dass Debatten immer grundsätzlicher würden, so Rucht, über die konkrete Problemstellung hinaus. Wie auch in Ellingen, wo aus der an sich banalen Frage „Ansiedelung einer Firma in einem Gewerbegebiet, ja oder nein“ Grundsatzdebatten über die Sinnhaftigkeit von Photovoltaik im Allgemeinen oder die Gefahr von Grundstücksspekulationen im Besonderen mitentfacht wurden. Trotzdem werde Bürgerbeteiligung, so das Fazit des Wissenschaftlers Rucht, immer wichtiger, sie verzögere allerdings auch viele Projekte. Unter Soziologen und Politikwissenschaftlern gibt es jedoch auch andere Stimmen. Jene von Christoph Bernstiel zum Beispiel, der seine wissenschaftliche Expertise mit praktischer Erfahrung als Stadtrat in Halle an der Saale (seit 2014) und als CDU-Abgeordneter im Bundestag von 2017 bis 2021 kombiniert. Er ist keineswegs ein Gegner der direkten Demokratie; 2020 strengte er in Halle ein Bürgerbegehren gegen den Stadtratsbeschluss einer autofreien Innenstadt an; beim anschließenden Bürgerentscheid hatte er 61 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite. Dennoch warnt Bernstiel davor, in direkter Demokratie eine alleingültige Herrschaftsform zu sehen. Sie sei eine hervorragende Ergänzung zu demokratisch gewählten Parlamenten wie etwa einem Stadtrat. Mehr aber auch nicht. Bernstiel argumentiert aus seiner Zeit im Bundestag heraus. Der verabschiede jedes Jahr im Schnitt etwa 150 Gesetze. Nicht auszudenken, würde er über das ohnehin meist umfangreiche Anhörungs- und Debattenverfahren hinaus jedes Mal die Bevölkerung abstimmen lassen; der Staat und das Gemeinwesen wären blockiert. Aus guten Gründen entschlossen sich die Verfassungsväter der Bundesrepublik <strong>für</strong> das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Es sieht nicht nur vor, dass ein Gemeinde- oder Stadtrat, ein Kreis-, Land- oder Bundestag mehrheitlich entscheidet. Ihr wohnt auch das Prinzip inne, das gewählte Volksvertreterinnen und -vertreter eine Gesamtbetrachtung bezogen auf ihr Gemeinwesen anlegen, dass sie Argumente abwägen und Meinungen bündeln und ein Vorhaben eben nicht isoliert <strong>für</strong> sich betrachten. Deshalb ist es weder anmaßend noch undemokratisch, wenn der Ellinger Bürgermeister erklärtermaßen eine Entscheidung in Sachen Hetzner-Ansiedelung als Aufgabe zunächst einmal <strong>für</strong> den Stadtrat reklamiert. Der ist das demokratisch legitimierte Organ, um eine Frage wie jene des Rechenzentrums zu diskutieren und zu entscheiden. Es ist auch sein Recht, die Entscheidung per Ratsentscheid auf die Bevölkerung zu übertragen. Der Stadtrat kann das tun, er muss es aber nicht. Umgekehrt ist es das unbestrittene Recht der Kritiker, einen Bürgerentscheid anzustrengen. Idealerweise mit fundierten Argumenten, nicht mit dem Totschlagargument Ökologie und auch nicht mit wirren, skandalisierenden Vorwürfen an Verantwortliche unter der Gürtellinie. Und über den Flächenfraß könnte man in Ellingen ja mal ganz grundsätzlich nachdenken. 12 <strong>WIKO</strong> Ausgabe <strong>2023</strong>
Industrie <strong>Wirtschaftsmagazin</strong> <strong>WIKO</strong> 13