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sortimenterbrief april 2022

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe April 2022.

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uchrezensionen<br />

www.barbara-brunner.at<br />

Die aktuellen Lesetipps von Dr. Barbara Brunner<br />

Liebe Leute,<br />

nach dem Welttag der Frauen kommt der<br />

Welttag des Buches, daher empfehle ich<br />

Ihnen heute vier Bücher von und über bemerkenswerte<br />

Frauen:<br />

Als ich vor ein paar Wochen das Buch<br />

von Bojana Meandžija gelesen habe,<br />

konnte ich nicht ahnen, wie aktuell diese<br />

Geschichte bald wieder werden würde:<br />

Bojana ist 13 und verbringt wie immer<br />

einen idyllischen Sommerurlaub bei ihrer<br />

Großmutter auf dem Land. Bis sie ihre<br />

Eltern eines Tages überstürzt in die Stadt<br />

zurückholen, in die Wohnung in einem<br />

Hochhaus in Karlovac. Und dann beginnt<br />

das Unvorstellbare: In der Nacht wird geschossen,<br />

völlig kopflos rennen die Eltern<br />

mit Bojana und ihrer Schwester in den<br />

Keller des Hauses, bis vorerst wieder Ruhe<br />

herrscht. Trügerische Ruhe, wie sich herausstellt,<br />

denn Bojana und ihre Freundin<br />

werden am nächsten Tag auf dem Schulweg<br />

beschossen, und von da an verbringt<br />

sie mit ihrer Familie und vielen anderen<br />

Menschen viele Tage und Nächte im Luftschutzkeller<br />

und vor allem – sie versteht<br />

nicht, was und warum das alles passiert<br />

und was das mit ihr zu tun hat, einem jungen<br />

Mädchen, das niemandem etwas zuleide<br />

getan hat und das eigentlich nur mit<br />

ihren Freundinnen lachen möchte.<br />

Lauf! Warte nicht auf<br />

mich ... ist der Titel der<br />

Geschichte, die Bojana<br />

Meandžija im Alter<br />

von 16 Jahren noch<br />

im Luftschutzkeller<br />

aufgeschrieben hat, so<br />

geschehen und erlebt<br />

im Jugoslawienkrieg<br />

in den 90er-Jahren<br />

des letzten Jahrhunderts. Klang bis vor<br />

Kurzem noch so weit weg und ist doch<br />

wieder erschreckend aktuell. Bojana hat<br />

seither mehr als 400 Lesungen in Kroatien,<br />

Slowenien, Bosnien und Herzegowina<br />

vor etwa 80.000 Kindern gehalten und<br />

ihnen von ihren Erlebnissen im Krieg erzählt,<br />

das Buch ist bereits in 16 Auflagen<br />

erschienen.<br />

Ein ganz anderes<br />

Schicksal erzählt uns<br />

Goliarda Sapienza in<br />

ihrem monumentalen<br />

Werk Die Kunst der<br />

Freude: Modesta, der<br />

Name, die Bescheidene,<br />

ist nur scheinbar<br />

Programm, stammt<br />

aus ärmlichen Verhältnissen<br />

in Catania und wird noch als Kind<br />

in ein Kloster gebracht, in dem sich die<br />

Mutter Oberin besonders um das junge<br />

Mädchen kümmert. Mit der Zielstrebigkeit<br />

einer streunenden Katze weiß Modesta<br />

bald, wie sie sich bei den Schwestern<br />

oder beim Gärtner verhalten muss, um<br />

möglichst viele Vorteile zu bekommen –<br />

und in der Tat ist ihr das Glück scheinbar<br />

hold: Mutter Oberin verfügt bei ihrem Ableben,<br />

dass Modesta einige Zeit bei ihrer<br />

Familie, vermögenden Adeligen auf Sizilien,<br />

verbringen soll, bis sie entscheidet, ob<br />

sie als Novizin ins Kloster eintreten will.<br />

Was für eine Lebensgeschichte – Modesta<br />

findet auch bei der alten Principessa und<br />

deren Enkelin nicht nur die Familiengeheimnisse<br />

heraus, sondern auch dort<br />

Mittel und Wege, um bald als vollwertiges<br />

Mitglied in die Familie aufgenommen zu<br />

werden und fortan als Fürstin Brandiforti<br />

in der Gesellschaft Siziliens eine Rolle zu<br />

spielen. Adieu Kloster, willkommen in<br />

der Welt der Adeligen zu Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts. Es ist die abenteuerliche<br />

Geschichte einer ebenso intelligenten<br />

wie zielstrebigen Frau im 20. Jahrhundert<br />

auf Sizilien, die auch nicht davor zurückschreckt,<br />

anderen beim Sterben ein wenig<br />

nachzuhelfen, um schneller ans Ziel<br />

zu kommen, die aber auch leidenschaftlich<br />

für ihre Unabhängigkeit kämpft.<br />

Obwohl das nicht die Biografie von<br />

Goliarda Sapienza ist, dürfte sich doch<br />

vieles von ihr in Modesta wiederfinden,<br />

denn, um ihren Jahrhundertroman<br />

Die<br />

Kunst der Freude<br />

schreiben zu können,<br />

gibt Goliarda Sapienza<br />

alles auf: ihre Karriere<br />

als Schauspielerin<br />

in Film und Theater<br />

und alle anderen<br />

Schreibaufträge. Bis<br />

sie so verarmt,<br />

dass sie, um<br />

überleben zu können,<br />

einen Diebstahl<br />

begeht und im römischen Frauengefängnis<br />

Rebibbia landet. Auch diese Zeit<br />

beschreibt Goliarda Sapienza in ihrem<br />

Tagebuch Tage in Rebibbia in der ihr eigenen<br />

unsentimentalen Art, sie erzählt von<br />

Freundschaften unter den Frauen, von<br />

Rivalitäten und Eigenbröteleien, vom Gefühl<br />

der Geborgenheit in einer Gemeinschaft<br />

und von vielen Frauen, die das<br />

Schicksal nicht brechen konnte.<br />

Vor einiger Zeit habe<br />

ich Ihnen von Michael<br />

Jeans Kukum berichtet,<br />

der Geschichte seiner<br />

Urgroßmutter, die als<br />

irisches Waisenkind<br />

nach Kanada kommt,<br />

von einer kinderlosen<br />

Familie aufgenommen<br />

wird und mit 15 Jahren<br />

Thomas, einen Innu, heiratet und mit<br />

ihm fortan als Nomadin in den Wäldern<br />

lebt. Ihre älteste Tochter Jeannette führt<br />

mit Eltern und Geschwistern ein zwar<br />

schweres, aber sehr behütetes und glückliches<br />

Leben in der Wildnis, aber den Zeichen<br />

der Zeit folgend schickt sie ihr Vater<br />

mit 15 Jahren ins Reservat, damit sie ein<br />

Jahr lang die Schule besuchen kann. Es<br />

kommt, wie es kommen muss – sie verliebt<br />

sich in einen Weißen, und nach dem<br />

Stammesbrauch ist sie fortan keine Innu<br />

mehr, ja vielmehr, auch der Vater wendet<br />

sich von ihr ab. Michael Jean erzählt in<br />

seinem neuen Buch Atuk die Geschichte<br />

seiner Großmutter und spiegelt sie mit<br />

seiner eigenen, da er – als erfolgreicher<br />

kanadischer Journalist und Schriftsteller<br />

– immer noch auf der Suche nach seinen<br />

Wurzeln ist und diese in der ergreifenden<br />

Geschichte seiner Großmutter zu finden<br />

hofft. Diese zarte und respektvolle Spurensuche<br />

gerät zu einer tiefen Verneigung<br />

vor den bewunderten starken Frauen der<br />

Familie, Urgroßmutter Almanda und<br />

Großmutter Jeannette.<br />

Vier Bücher, vier Schicksale, vier lesenswerte<br />

Geschichten!<br />

Barbara Brunner<br />

82 <strong>sortimenterbrief</strong> 4/22

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