Gesundsitzen Ausgabe 2012/2013
Das Schweizer Magazin für Ergonomie, Gesundheit und Wohlbefinden. Ausgabe 2012/2013
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09/<strong>2012</strong>/<strong>2013</strong> · gesundsitzen<br />
Sitzen, sass, gesessen . . .<br />
Haben Sie den Herrn X eigentlich mal gesehen in letzter Zeit? – Nein, natürlich<br />
nicht, wussten Sie es denn nicht, der sitzt! Drei Monate hat er bekommen. Er hatte<br />
einen sitzen und ist trotzdem gefahren. Jetzt sitzt die Frau da mit dem Buben. Der<br />
ist übrigens sitzen geblieben. In der Schule. Ich habe ihr gesagt, das kommt davon.<br />
Das hat dann gesessen!<br />
Text Kurt Mürset, Basel / Bild zvg<br />
Bitte nehmen Sie diese schreckliche Geschichte<br />
nicht allzu ernst. Aber nehmen Sie<br />
sie wörtlich. Sie sehen, das Wort «sitzen»<br />
hat höchst unterschiedliche Bedeutungen.<br />
Sie werden bestimmt noch einige mehr<br />
finden.<br />
Mit dem Sitzen ist es überhaupt so eine<br />
Sache. Wir setzen uns ja auf Stühle oder<br />
Bänke – manchmal sogar dazwischen. Wir<br />
setzen uns an einen Ess- oder Arbeitstisch.<br />
Manchmal ist der Stuhl etwas tiefer, weicher<br />
und grösser, dann sagen wir Fauteuil<br />
dazu. Manchmal ist er härter, die Lehne<br />
bohrt sich in den Rücken, nach einer Weile<br />
tut uns Letzterer weh, dann sagen wir, es<br />
ist ein Erbstück, Louis Philippe oder so.<br />
Kirchenbänke sind hart, Chefsessel bequem,<br />
Kindersitze sicher und Alterssitze<br />
etwas ganz anderes.<br />
Man könnte durchaus auch sagen: Andere<br />
Länder, anderes Sitzen, äh, andere<br />
Sitten. Ein guter Freund war mal an ein<br />
Hochzeitsfest eingeladen, als er in Ägypten<br />
weilte. Es war auf dem Land, bei einfachen<br />
Leuten, man sass auf dem Boden,<br />
rund um die grossen Platten mit Reis und<br />
Fleisch und Gemüse. Man sitzt da im<br />
Schneidersitz. Das heisst die Füsse, respektive<br />
die Fusssohlen, werden schön unter<br />
den Körper gepackt. So gehört sich das<br />
dort, alles andere ist eher unanständig.<br />
Nun war das für meinen Freund ein<br />
kleines Problem. Er ist erstens Europäer<br />
und sitzt als solcher meist auf Stühlen. Er<br />
ist zweitens nicht mehr der Jüngste und<br />
somit auch nicht der Beweglichste. Er<br />
würde das drittens alles nicht gelten<br />
lassen, sondern sich auf eine Knieverletzung<br />
berufen, die er vor hundert Jahren<br />
beim Eishockey spielen erlitten hatte. Und<br />
siehe, genau das tat er. Er erzählte allen<br />
rundum, ob sie es hören wollten oder nicht,<br />
dass er das Knie nicht mehr beugen könne<br />
und darum gezwungen sei, eines seiner<br />
Beine den Menschen vis-à-vis entgegenzustrecken.<br />
Er wurde daraufhin rund um<br />
bedauert, man erkundigte sich, ob er denn<br />
Schmerzen habe, ob es keine guten Ärzte<br />
gebe in der Schweiz und ob er eventuell<br />
noch ein Kissen benötige.<br />
Da fiel es dann im Verlaufe des Festes<br />
auch nicht mehr gross auf, dass es sich bei<br />
der alten Verletzung mal ums linke, mal<br />
ums rechte Bein handelte . . .<br />
Szenenwechsel. Sehen Sie sich mal Bilder<br />
aus Asien oder auch aus Afrika genauer<br />
an. Bilder mit Menschen drauf, meine ich.<br />
Sie werden feststellen, Menschen sitzen.<br />
Wenn sich das Stehen irgendwie vermeiden<br />
lässt, sitzen sie. Und sie sitzen meist<br />
auf den eigenen Fersen. Das ist anscheinend<br />
eine äusserst bequeme Form des<br />
Sitzens. Mindestens sieht es so aus, so<br />
wie die Menschen auf den Bildern meistens<br />
lächeln. Es könnte aber auch sein,<br />
dass sie uns Betrachter auslachen. Zumindest<br />
in meinem Falle wäre das durchaus<br />
denkbar. Denn wenn ich versuche, auf den<br />
Fersen zu sitzen, machen sich die langen<br />
Jahre auf Stühlen aller Art bemerkbar. Das<br />
Sitzen sieht da etwas gequält aus und noch<br />
schlimmer wird es beim Aufstehen.<br />
Ich war mal in Vietnam. Dort hat man<br />
so was wie einen Kompromiss gefunden.<br />
Überall auf den Strassen finden sich diese<br />
kleinen Garküchen. Der Standard ist sehr<br />
unterschiedlich. Da gibt’s die Mini-Küche,<br />
die ein einziges einfaches Gericht anbietet.<br />
Da setzt man sich dann einfach daneben<br />
auf die Fersen – siehe oben! Dann gibt es<br />
aber auch die etwas grösseren Unternehmen<br />
bis hin zum regelrechten Strassen-<br />
Restaurant mit Beleuchtung und Musik aus<br />
dem Radio. Ihnen allen gemeinsam ist die<br />
Möblierung. Diese besteht nämlich aus<br />
bunten Plastikstühlen und -tischen. Gerne<br />
in Rot oder Rosa, aber auch alle andern<br />
Farben können vorkommen. Einheitlich ist<br />
die Grösse. Bei uns würden die Möbel<br />
allesamt dem Kinderzimmer zugeordnet.<br />
Da sitzt man dann also nicht schwer<br />
gepeinigt auf den eigenen Fersen, sondern<br />
nur leicht gequält in einer Art aufrechter<br />
Embryostellung mit den Knien vor der<br />
Nase auf einem Stühlchen fürs Vorschulalter.<br />
Und die Asiaten haben einen weiteren<br />
Grund zum Lächeln . . .<br />
Halten wir fest: Wir Europäer stehen<br />
meist herum und uns dabei die Beine in<br />
den Bauch. Die Asiaten hingegen setzen<br />
sich hin, wo und wann immer sie können.<br />
– Ich persönlich nehme mir da lieber die<br />
alten Römer zum Vorbild. Die haben sich ja<br />
bekanntlich nicht erst zum Schlafen, sondern<br />
bereits zum Essen hingelegt. Also<br />
lautet mein Motto: mehr liegen!<br />
Glosse<br />
7