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Zwei übersetzte Kinderromane

Dieses Buch enthält die Übersetzung der beiden Kinderromane "Hugo und Billy" und "Mario, das Kind aus dem Süden", die von der französischsprachigen Autorin Madeleine Secrétan-Rollier (1908 - 1996) in den Jahren 1957 und 1961 veröffentlicht wurden. Bis heute sind sie auch zu meinem eigenen Erstaunen noch nie ins Deutsche übersetzt worden, ich habe hier also eine Pionierarbeit vollbracht.

Dieses Buch enthält die Übersetzung der beiden Kinderromane "Hugo und Billy" und "Mario, das Kind aus dem Süden", die von der französischsprachigen Autorin Madeleine Secrétan-Rollier (1908 - 1996) in den Jahren 1957 und 1961 veröffentlicht wurden. Bis heute sind sie auch zu meinem eigenen Erstaunen noch nie ins Deutsche übersetzt worden, ich habe hier also eine Pionierarbeit vollbracht.

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<strong>Zwei</strong> <strong>übersetzte</strong> <strong>Kinderromane</strong><br />

Hugo und Billy<br />

Dies ist die Übersetzung einer Geschichte, die als Fortsetzung<br />

des schon im Jahr 1954 erschienenen Buches von „Billy bleibt<br />

immer Billy“ drei Jahre später - also 1957 -, veröffentlicht, aber<br />

bis heute noch nie ins Deutsche übersetzt worden ist. Das ist<br />

umso erstaunlicher, als das erste Billy-Buch von Madeleine<br />

Secrétan-Rollier (1908 - 1996), die als Autorin vieler Kinder- und<br />

Jugendbücher zumindest im französischen Sprachraum noch<br />

heute bekannt ist, einen beachtlichen Erfolg erzielte.<br />

Da Madeleine Secrétan-Rollier eine Waadtländer Autorin war<br />

und der Roman „Billy bleibt immer Billy“ sich in der<br />

französischsprachigen Schweiz abspielt, hielten es Anny<br />

Wienbruch und Emil Ernst Ronner, die dieses Buch zusammen<br />

<strong>übersetzte</strong>n und im Jahr 1955 veröffentlichten, zwar für gut, die<br />

Geschichte im gleichen Land anzusiedeln, aber sie gaben den<br />

meisten Eigennamen einen deutschen. Deshalb halte auch ich<br />

mich an diese, obwohl die französischen Originalnamen nach<br />

meiner Meinung ebenfalls geeignet wären.<br />

Wer zwar die deutsche Übersetzung gelesen hat, aber das<br />

Originalbuch nicht kennt, wird sicher gern wissen wollen, wie die<br />

Namen dort lauten. Abgesehen von Billy Duval und ein paar<br />

Nebenfiguren tragen alle vorkommenden und namentlich<br />

erwähnten Hauptpersonen diese Namen:<br />

Familie von Löwen<br />

Konrad, der Vater<br />

Eveline, die Mutter<br />

Dorothea, die Tochter<br />

Famille de Leuville<br />

Conrad de Leuville<br />

Eveline de Leuville<br />

Dominique de Leuville


Hugo, der Sohn<br />

Gerhard (Billy Duval),<br />

der zweite Sohn<br />

Irene Reichardt,<br />

Konrads Schwester<br />

Franziska, die Köchin<br />

Stefan Dohme<br />

Vater Clemens<br />

Mutter Gail<br />

Frau Karrer<br />

Doris, ihre Tochter<br />

Moritz Dubeler,<br />

Frau Duvals Bruder<br />

Türmchenvilla,<br />

wo Moritz Dubeler wohnt<br />

Herr Kordes<br />

Franz Gerber<br />

Hugo de Leuville<br />

Gérald de Leuville<br />

(also nicht Gérard)<br />

Irène Richemont<br />

Françoise (im Originalbuch<br />

eine Domestique, also eine<br />

Hausangestellte)<br />

Stéphan Delorme<br />

Père Clément<br />

Mère Gaille<br />

Madame Carrel<br />

Dorice Carrel<br />

Maurice Combes-Dubreuil<br />

(auch nur Maurice Combes)<br />

Villa des Tourelles<br />

Monsieur Corvant<br />

François Chardonnier<br />

Das Gleiche gilt auch für die drei fiktiven Orte, die erwähnt<br />

werden:<br />

Wiesberg, wo die Familie Duval wohnt<br />

Monterau, wo die Familie Dohme wohnt<br />

Hossfeld, wo die Familie von Löwen wohnt<br />

Antannes<br />

Monterand<br />

Bouvet


Neben Herrn und Frau Duval sind auch die Namen von Herrn<br />

und Frau Richard identisch, bei diesen vier Personen wird kein<br />

Vorname erwähnt.<br />

Zusammenfassung der ersten Geschichte „Billy bleibt<br />

immer Billy“ (Originaltitel: Billy, la merveilleuse aventure<br />

d’un enfant perdu)<br />

Billy, ein Junge von dreizehn Jahren, lebt glücklich im<br />

Rosenhaus, verwöhnt von zwei älteren Leuten, von Herrn und<br />

Frau Duval, von denen er glaubt, sie seien seine Großeltern.<br />

Aber eines Tages dringt durch eine halb geöffnete Tür ein<br />

Gespräch, das ihn sehr verwirrt, an seine Ohren: Franziska, die<br />

Hausangestellte, die sich über ihn wegen einer zerrissenen Hose<br />

ärgert, sagt Worte, die ihm enthüllen, dass er ein Findelkind ist.<br />

Herr und Frau Duval sind also nicht seine Großeltern!<br />

Das Kind ist ohne Hoffnung. Billy entschließt sich, aus dem Haus<br />

zu fliehen, um seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, was<br />

ihn in ständige Bewegung versetzt: Zuerst ein kurzer Aufenthalt<br />

in der Bäckerei Richard, die er überstürzt verlässt, nachdem er<br />

entdeckt hat, dass sein Onkel Moritz - der eigentlich ein<br />

Großonkel ist, weil er Frau Duvals Bruder ist - nicht weit von<br />

dort wohnt und ihn wieder nach Hause bringen könnte. Er setzt<br />

seinen Weg fort und macht im Dorfladen von Herrn Kordes die<br />

Bekanntschaft mit Frau Gerber. Diese Frau, die Billy für sich Frau<br />

Pick-Pick nennt, lernt ihn in ihrem Haus an, damit er ihre<br />

Hausangestellte ersetzt, die sie verlassen hat. Dabei macht er<br />

unangenehme Erfahrungen: Herr und Frau Gerber sind alte<br />

Geizhälse. Billy schafft es, von diesem zwielichtigen Haus zu<br />

fliehen, aber seine Bibel und ein Hemd sind aus seinem<br />

Rucksack verschwunden.<br />

Auf seinem weiteren Weg rettet er ein kleines Mädchen, das<br />

gerade dabei ist, in einem See zu ertrinken; der Vater des


Mädchens nimmt ihn darauf aus Dankbarkeit zu sich nach<br />

Hause. Zusammen mit Stefan, dem Sohn des Hauses, wird er<br />

eingeladen, einen Tag im Schloss der Familie von Löwen zu<br />

verbringen, die in Hossfeld wohnt. Damit will der Familienvater<br />

ihnen dafür danken, dass sie zwei Nächte zuvor seine Tochter<br />

Dorothea gerettet haben, nachdem sie mit ihrem Fahrrad<br />

verunglückt war. Er lernt diese Familie näher kennen und<br />

entdeckt mit der Zeit nach einer ganzen Reihe von besonderen<br />

Vorkommnissen, dass Herr und Frau von Löwen seine Eltern,<br />

Dorothea seine Schwester und Hugo sein Bruder sind. Billys<br />

wahre Identität wird dank eines gestrickten Jäckleins und dank<br />

seiner Kinderschuhe entdeckt, unter dessen Sohle seine Mutter<br />

eine Bibelseite versteckt hat, als sie während des Kriegs vor dem<br />

Feuer der Armeen geflohen sind. Jetzt besteht kein <strong>Zwei</strong>fel mehr:<br />

Er ist kein Findelkind mehr.<br />

-------------------------------------------------------------------------<br />

Zur Fortsetzungsgeschichte weiter unten gibt es noch Folgendes<br />

zu bemerken: Während die erste Geschichte noch halbwegs der<br />

Wirklichkeit entspricht, obwohl die kurze Zeitspanne von nur<br />

einer Woche zwischen Billys Flucht und dem Finden seiner<br />

Eltern und Geschwister auffallend knapp ist, wäre das, was in der<br />

zweiten geschieht, heute so nicht mehr möglich. Es ist zwar<br />

deutlich zu spüren, dass es die „goldenen“ Fünfzigerjahre sind,<br />

als auch in der Schweiz, die vom <strong>Zwei</strong>ten Weltkrieg verschont<br />

geblieben war, ein neuer Aufschwung einsetzte und fast alle<br />

zueinander noch „lieb“ waren, aber es ist ebenso deutlich zu<br />

sehen, wie rechtlos die Kinder aus armen Familien und erst recht<br />

die Heimkinder im Vergleich zu heute waren. Was in dieser<br />

Geschichte erzählt wird, wäre heute also nicht mehr auf die<br />

gleiche Art möglich.<br />

Es ist auch noch zu ergänzen, dass heute ganz anders<br />

geschrieben wird als vor siebzig Jahren. Das betrifft vor allem die


direkte Rede, die nicht mehr so wie früher auf einer neuen Linie<br />

beginnt, sondern direkt nach dem Doppelpunkt folgen muss. Das<br />

hat wenigstens den Vorteil, dass viele Seiten eingespart werden<br />

können.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Seite<br />

Ein geheimnisvoller Brief 1<br />

Auf dem Weg 9<br />

Wir sind keine Affen! 19<br />

Ein roter Gürtel 26<br />

Paulette 32<br />

Sie singt! 40<br />

Sie ist blond! 51<br />

Diebe! 61<br />

Ein wertvolles Gepäck 71<br />

Eine kleine Blume schläft! 81<br />

Ein schönes weißes Kleid 91<br />

Vor der Abreise 100<br />

Autostopp! 106<br />

Das „Alte Dreieck“ 111<br />

Im Hospiz 119<br />

Mutter und Tochter finden sich wieder 127<br />

Maria-Rosa 132<br />

Ein schönes Geschenk 140<br />

Das Rosenhaus öffnet wieder seine Türen 148


Ein geheimnisvoller Brief<br />

„Billy! Ein Brief für dich!“<br />

Plötzlich öffnet sich die Tür und Hugo betritt das Zimmer seines<br />

Bruders mit einem Umschlag in der Hand.<br />

„Ein Brief für mich! Welch ein Ereignis! Wer schreibt mir denn?“,<br />

fragt Billy, während er von seinen Mathematik-Aufgaben<br />

aufschaut.<br />

„Er ist an Billy Duval, Rosenhaus, wohnhaft in Wiesberg,<br />

adressiert.“<br />

„Was sagst du da? Sie sind ein bisschen verspätet, diese Leute,<br />

weil es in zwei Wochen genau ein Jahr ist, dass Billy Duval nicht<br />

mehr existiert.“<br />

„Was? Ist es schon ein Jahr her, dass wir dich wieder gefunden<br />

haben? Ist das denn möglich? Es scheint mir, es sind kaum drei<br />

Monate. Unglaublich! Aber ... um auf deinen Brief<br />

zurückzukommen … öffne ihn doch! Du bist wenig neugierig. Ich<br />

platze vor Ungeduld, ihn zu lesen.“<br />

„Ich würde gern erraten, wer ihn schickt ... hilf mir - willst du?“<br />

„Oh Billy! Wie könnte ich es wissen? Auf jeden Fall ist es weder<br />

ein Freund noch ein naher Verwandter, weil man deine<br />

Namensänderung nicht kennt. Was für eine kindliche Schrift!<br />

Schau!“<br />

„Und warum diese Briefmarke und dieser Zusatzbetrag?“<br />

„Er war nicht frankiert! Ist dir das klar? Der Briefträger hat den<br />

doppelten Betrag verlangt, als er den Brief ausgehändigt hat.<br />

Welches Zebra kann denn so handeln? Also, öffne! Schnell …<br />

und ich werde dir sagen, wer ihn sendet.“<br />

1


Endlich! Billy entscheidet sich. Der Umschlag lässt ein Stück<br />

Papier herausgleiten … eine kurze Botschaft mit ungeschickter<br />

Hand geschrieben.<br />

Hugo ereifert sich: „Was will das heißen?“<br />

Und mit weit geöffneten Augen vor Erstaunen liest er:<br />

Kommen zu meiner Hilfe bei Herr Gerbe, Floria.<br />

„Oh la la! Welche Orthografie!“, setzt er fort und bricht in lautes<br />

Lachen aus. „Billy! Schau nur!“<br />

„Natürlich! Man hat mir einen Streich spielen wollen.“<br />

„Aber nein! Warum denn? Nach allem ... es ist phonetisch.<br />

Welche Vereinfachung, wenn man immer so schreiben würde!<br />

Fertig mit der Grammatik, fertig mit der Orthografie! In einem<br />

Wort: Das Paradies in der Schule!“<br />

Billy nimmt den Brief und murmelt verwirrt:<br />

„Bei Herr Gerbe ... bei Herr Gerbe ... ich kenne keinen Herrn<br />

Gerbe.“<br />

„Die Adresse ist nicht angegeben. Chinesisch wäre leichter zu<br />

verstehen!“<br />

„Floria! Wer ist Floria? Ich habe diesen Namen nie gehört“, fügt<br />

Billy mit leicht verärgerter Stimme hinzu, „ein Streich … ich sage<br />

dir, das ist ein Streich … wenn wir jetzt den ersten April hätten,<br />

würde ich das besser verstehen …“<br />

Dann setzt er entschieden fort: „Ich spotte darüber - und schau,<br />

was ich mit diesem schlechten Stück Papier mache! Während<br />

dieser Zeit hat sich mein Problem nicht von selbst gelöst und ich<br />

habe noch viele andere Aufgaben zu erledigen. Hugo, ich bitte<br />

dich, lass mich in Ruhe!“<br />

Und nervös und enttäuscht zerknittert Billy den Brief und wirft ihn<br />

durch den Raum.<br />

2


„Meine Glückwünsche, du hast gut gezielt!“, ruft Hugo spottend.<br />

Tatsächlich ist das Papier beim Flug auf einer Uhr gelandet, die<br />

jetzt eine weiße Mütze trägt.<br />

Hugo macht sich daran, es zu ergreifen, aber Billy sagt<br />

entschieden: „Ich verbiete dir, es anzufassen! Lass es und reden<br />

wir nicht mehr von dieser Geschichte! Übrigens … ich wette,<br />

dass der Urheber einer solchen Dummheit nicht weit von hier ist!<br />

Ganz einfach - du bist es! Das Baby hatte halt nichts zu tun! Es<br />

musste sich einfach vergnügen … jetzt kann ich dir gratulieren!<br />

Deine Fantasie hat gut gearbeitet! Wo hast du diesen poetischen<br />

Namen Floria ausgegraben?“<br />

Hugo erwidert plötzlich ernst geworden: „Ach nein, sicher nicht,<br />

Billy! Ich vergnüge mich zwar gern … aber trotzdem … ich bin es<br />

nicht, der diesen Brief geschrieben hat! Ich gebe dir mein<br />

Ehrenwort.“<br />

Dann setzt er vor seinem ungläubig und enttäuscht schauenden<br />

Bruder fort: „Ich versichere es dir … ich versichere es dir.“<br />

Das sagt er sehr entschieden, dann setzt er unruhig nach: „Billy!<br />

Willst du mir denn nicht glauben? Lüge ich etwa aus<br />

Gewohnheit? Ich weiß nicht, wer dir diesen Streich gespielt hat,<br />

und würde dir gern helfen, diesen Vogel zu entdecken, der sich<br />

erlaubt hat, dir diesen Brief zu schicken.“<br />

Darauf setzt er mit leuchtenden Augen fort: „Ich ruhe nicht, bis<br />

ich die Spur gefunden habe.“<br />

Billy sagt mit einem niedergedrückten und verächtlichen<br />

Seufzen: „Das ist das Werk eines Klassenkameraden … ganz<br />

einfach! Ich hatte das Unglück, mein Abenteuer eines verlorenen<br />

Kindes in der Schule zu erzählen - und das ist jetzt das Ergebnis!“<br />

„Reg dich nicht auf, Billy!“, antwortet sein jüngerer Bruder<br />

geradezu zärtlich, „wenn ich den Urheber entdeckt habe,<br />

kümmere ich mich um die Rache.“<br />

3


„Und was wirst du machen?“<br />

„Ich weiß nicht … wir werden sehen … ich will noch darüber<br />

nachdenken. Für den Moment lasse ich dich bei deiner<br />

Arithmetik … wir sprechen noch darüber.“<br />

Und Hugo geht wieder und schlägt die Tür zu, während sein<br />

Bruder sich wieder seriös seinem Studium zuwendet.<br />

Es geht mit den Aufgaben vorwärts, das Problem ist weg; dann<br />

gibt es nur noch eine Gruppe von französischen Wörtern zu<br />

repetieren. Billy geht nochmals gewissenhaft die Wörterliste<br />

durch, die vor ihm liegt, ohne sich den Kopf zu zerbrechen und<br />

ohne sich vom weißen Papierfetzen, der immer noch auf dem<br />

Kopf der Uhr im Gleichgewicht hängt, ablenken zu lassen.<br />

Endlich! Er seufzt zufrieden, aber auch müde. Er schließt sein<br />

Buch zur gleichen Zeit, als sich seine Augen erheben und<br />

fragend und unruhig nach der zerknitterten Mütze auf der Uhr<br />

schauen.<br />

Es bleibt ein verwirrter und niedergeschlagener Moment.<br />

Aber plötzlich erhebt er sich lebhaft, es kommt ein Leuchten in<br />

seine Augen und er schreit geradezu: „Ich Esel! Warum habe ich<br />

nicht schon eher daran gedacht?“<br />

Während er die Tür seines Zimmers sofort öffnet, trompetet er:<br />

„Hugo! Hugo!“<br />

Hugo taucht auf der Matte wie ein mechanisches Spielzeug auf.<br />

„Hugo, ich habe es erraten!“, schreit Billy aufgeregt.<br />

„Was - was hast du erraten?“, ruft der jüngere zurück, während<br />

er wieder zu seinem Bruder geht.<br />

Billy hat die Uhr von ihrem Hut befreit und während er das Papier<br />

auf dem Tisch ausbreitet, ebnet und glättet er es, so gut es geht.<br />

Hugo ist ebenso aufgeregt wie sein älterer Bruder.<br />

4


„Was hast du erraten?“, wiederholt er, „lass mich nicht lange<br />

schmachten! Weißt du, wer der Schreiber ist?“<br />

„Nein, nein …“<br />

„Wer denn?“<br />

„Herr Gerbe … das ist ganz einfach Herr Gerber.“<br />

„Natürlich! Daran ist nicht zu zweifeln! Welche blöde Erklärung!<br />

Ist es das, um mir eine solche Dummheit zu verkünden und mich<br />

zu stören?“<br />

„Hast du nicht verstanden? Ich wollte vom Mann der Frau Pick-<br />

Pick sprechen, vom alten Geizhals … du weißt doch, ich habe<br />

dir davon erzählt. Er hieß Herr Gerber.“<br />

Hugos Augen werden so viel grösser, wie diese Sache für ihn<br />

interessant wird.<br />

„Ja, ja! Ich erinnere mich! Du hast mir seine Küche, seine<br />

Unordnung und den Unfug seiner Katze beschrieben; ich habe<br />

dabei viele Sympathien für das arme Tier empfunden.“<br />

Dann fügt er sehr erstaunt hinzu: „Aber du hast mir nie gesagt,<br />

dass sie eine Tochter haben.“<br />

„Eine Tochter? Ich weiß nicht, ob sie eine haben. Nein, das<br />

glaube ich nicht. Sie schienen im Haus die beiden Einzigen zu<br />

sein.“<br />

„Also, wer ist denn diese Floria und wer hat das Papier<br />

unterzeichnet?“<br />

Billy ergreift das zerknitterte Stück Papier und liest noch einmal:<br />

Kommen zu meiner Hilfe bei Herr Gerbe, Floria.<br />

Hugo denkt scharf nach und kommt du diesem Schluss: „Ich bin<br />

davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Streich handelt.<br />

Dieser Brief ist ein Hilferuf einer armen Kreatur, die von diesen<br />

schrecklichen Geizhälsen misshandelt wird.“<br />

5


Billy ist bestürzt: „Glaubst du? Also … da gibt es nichts zu zögern.<br />

Bringen wir ihr Hilfe und ohne Verzug! Ich spüre immer noch<br />

Schüttelfrost, wenn ich mich an die bedrückende Atmosphäre in<br />

diesem schrecklichen Haus erinnere. Arme Floria! Ich bedaure<br />

sie von ganzem Herzen. Wir werden ihr helfen, um sie zu retten,<br />

wie ich. Es ist sicher ein Mädchen in ihren Diensten.“<br />

„Ein Mädchen! Du machst einen Scherz! Die Schrift ist die eines<br />

kleinen Kindes und die Orthografie die eines Babys.“<br />

„Du hast Recht, aber … ist das nicht sonderbar? Und was noch<br />

mehr erstaunt und aufwühlt, finde ich in der Tatsache, dass man<br />

meinen Namen und meine Adresse kennt. Schließlich reden wir<br />

wohlverstanden von meiner alten Adresse. Das ist<br />

unverständlich und ein bisschen verdächtig.“<br />

„Sofern es kein Hinterhalt ist.“<br />

„Genau das befürchte ich“, stimmt Billy zu.<br />

Darauf kommt er zu diesem Schluss: „Wir brauchen den Rat<br />

unserer Eltern. Heute Abend werde ich diesen Brief unserem<br />

Vater zeigen. Wir werden dann sehen, was er darüber denkt und<br />

was zu tun ist.“<br />

Dann fügt er langsam und als spräche er mit sich selbst hinzu:<br />

„Ich würde diese Dörfer so gern wiedersehen … die Bäckerei von<br />

Herrn Richard, den Laden von Herrn Kordes, das Haus des alten<br />

Gerber; ich behalte immer noch Erinnerungen … unvergessliche<br />

Erinnerungen! Hugo! Machen wir während unserer Ferien eine<br />

kleine Reise dorthin? Wir könnten unsere Wanderung noch bis<br />

Monterau ausdehnen, Stefan wäre damit sicher zufrieden. Ich<br />

habe immer davon geträumt, zu diesen Orten meines großen<br />

Abenteuers zurückzukehren ...“<br />

„Und ich erst - weißt du, Billy? Ich brenne vor Lust darauf, dass<br />

du mich dorthin bringst! Ich wollte nicht davon sprechen, weil ich<br />

fürchtete, damit wieder zu viele grausame Erinnerungen<br />

6


wachzurufen. Aber wenn du das jetzt auch wünschst … schon<br />

haben wir einen glänzenden Plan für unsere Ferien. Hattest du<br />

nicht einen Onkel, der dort wohnte?“<br />

„Ja, Onkel Moritz …“<br />

„Er müsste die gute Idee haben, uns einzuladen, um ihn zu<br />

besuchen. Findest du nicht auch?“<br />

„Das ist ganz einfach, ich werde mit Großmutter darüber<br />

sprechen. Wenn sie ihm schreiben würde? Ich bin sicher, dass<br />

er entzückt wäre, uns zu empfangen.“<br />

„Und wir würden rund ums Haus von Vater Gerber spionieren.“<br />

„Glaubst du, wir könnten das Geheimnis dieses berühmten<br />

Briefes durchbohren?“<br />

„Aber sicher! Es war noch komplizierter, deine Eltern zu<br />

entdecken, und du weißt ja, wie das Abenteuer ausgegangen<br />

ist.“<br />

„Oh ja! Dieses Jahr werde ich mit leichtem Herzen reisen.<br />

Während im letzten Jahr … da war es ein armes Findelkind, das<br />

auf den Straßen wanderte, um seinen Lebensunterhalt zu<br />

verdienen …“<br />

„Vergiss diese traurige Vergangenheit, Billy! Komm, gehen wir<br />

mit unseren Eltern über unsere Pläne sprechen! Die Ferien sind<br />

bald da, nur noch ein bisschen mehr als eine Schulwoche.“<br />

„Eine Woche ist nicht zu viel, um Onkel Moritz zu schreiben und<br />

unsere Reise vorzubereiten!“<br />

„Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß, indem wir Autostopp<br />

machen, natürlich; unsere Tour wäre so viel interessanter als mit<br />

dem Zug!“<br />

Billy schneidet eine Grimasse und sagt: „Wenn ich diese Leute<br />

anschaue, die an den Straßenrändern Autostopp machen … da<br />

habe ich immer den Eindruck, Bettler zu sehen! Nein danke; ich<br />

7


ziehe es vor, mit meinen eigenen Mitteln zu reisen. Mit dem<br />

Fahrrad zum Beispiel, da wäre unsere Wanderung toll.“<br />

„Du hast Recht, so wie immer. Ich bin für das Fahrrad. Aber<br />

Schluss jetzt mit Diskutieren! Schreiten wir zur Tat!“<br />

„Und gehen wir diesen geheimnisvollen Brief unseren Eltern<br />

zeigen!“<br />

Billy ergreift das zerknitterte Papier, das auf dem Tisch geblieben<br />

ist. Darauf verlassen beide das Zimmer und gehen zum<br />

Erdgeschoss hinunter, um sich Herrn und Frau Duval<br />

anzuschließen, die sich auf der Terrasse in Gesellschaft von<br />

Frau von Löwen eingerichtet haben. Die Damen stricken,<br />

während der Großvater die Zeitung durchgeht.<br />

Die Großeltern, die sich nach der großen Entdeckung von Billys<br />

Herkunft eigentlich nur für den Sommer im Schloss eingerichtet<br />

hatten, konnten sich nicht dazu entschließen, es wieder zu<br />

verlassen. Sie sind gekommen und sind nicht wieder<br />

zurückgereist!<br />

Das Rosenhaus schläft immer noch, die Fensterläden bleiben<br />

geschlossen. Großvater und Großmutter sind nicht mehr nach<br />

Wiesberg zurückgekehrt, auch Franziska nicht. Die Familie ist<br />

grösser geworden, zum Glück jedes Einzelnen!<br />

8


Auf dem Weg<br />

„Billy, schau diese schöne Straße an! Warum nehmen wir sie<br />

nicht?“<br />

„Hast du schon unser Versprechen vergessen? Ich habe es Oma<br />

zugesichert, als ich ihr sagte, wir würden die Landwege den<br />

großen Hauptverkehrsstraßen vorziehen. Ich habe keine Lust<br />

darauf, dass ein Bolide mich auf dem Weg so leicht mäht wie ein<br />

Bauer sein Heu.“<br />

„Findest du es etwa angenehmer, die Hühner zu erschrecken,<br />

wenn wir an den Bauernhäusern vorbeifahren?“<br />

„Umso schlimmer für das Geflügel! Und umso besser für uns! Die<br />

Reise wird ein bisschen länger, wenn wir die Kantonsstraße<br />

nehmen, aber wir werden ruhiger sein … sofern wir vor der Nacht<br />

bei Onkel Moritz ankommen. Wir haben aber den ganzen Tag<br />

vor uns und es eilt nicht.“<br />

Während sie so plaudern, kommen Hugo und Billy auf dem Land<br />

voran und pedalen unter der glühenden Sonne eines schönen<br />

Sommertags. Ihr Ziel ist es, das hübsche kleine Dorf am Seeufer<br />

zu erreichen, wo sich Herr Richards Bäckerei und die<br />

Türmchenvilla befinden, wo Moritz Dubeler wohnt, Frau Duvals<br />

Bruder.<br />

Der berühmte Brief, den er vor einer Woche bekommen hat,<br />

steckt in Billys Tasche. Die Kinder haben ihn ihren Eltern gezeigt,<br />

und die Überraschungen, Vermutungen und Fragen konnten nur<br />

zunehmen. Der Vorschlag der beiden Jungen, zu diesen Orten<br />

zu gehen, um das Geheimnis dieses Hilferufs zu entdecken, ist<br />

sofort auf verschiedene Einwände gestoßen.<br />

Schließlich konnten sich die jungen Leute jedoch durchsetzen,<br />

allerdings unter der Bedingung, dass ihr Abenteuer unter den<br />

wachsamen Augen von Onkel Moritz ablaufen sollte.<br />

9


Ohne Zögern hat die Großmutter ihrem Bruder geschrieben, der<br />

sofort geantwortet hat - sehr glücklich darüber, dass er die<br />

beiden Kinder zu einem Besuch empfangen kann.<br />

Deshalb sind sie heute Morgen früh in aller Frische aufgebrochen<br />

und haben Hossfeld verlassen, als das Dorf gerade erst<br />

aufwachte, mit allen Empfehlungen zur Vorsicht seitens ihrer<br />

Eltern.<br />

Billy befühlt seine Jacke; er ist immer noch da, dieser sonderbare<br />

Brief, der sie zu diesem Abenteuer drängt!<br />

Welche Entdeckungen werden sie dort wohl machen?<br />

Wie sollen sie vorgehen, um dieser armen Floria zu helfen, die<br />

nach Billys Vorstellungen schon alle möglichen Gestalten<br />

angenommen hat?<br />

„Ich bin sicher, dass sie blond ist und blaue Augen hat“, sagt er,<br />

indem er sich seinem Bruder zuwendet.<br />

„Ja?“<br />

„Aber … schauen wir … Floria.“<br />

„Oh ja! Dorothea besteht darauf, dass sie dunkelhaarig ist, wie<br />

sie.“<br />

„Pah! Was weiß die schon! Sie hat sie nicht einmal gesehen.“<br />

„Billy, schau dieses hübsche Haus an!“, sagt Hugo, als sie an<br />

einem alten Wohnsitz vorbeifahren.<br />

„Einzigartig! Welch glänzendes Bild würde es abgeben!“<br />

„Schauen wir auf den Namen, den es trägt!“, setzt Hugo fort,<br />

während er mit seinem Fahrrad auf der Straße eine solche Kurve<br />

macht, dass sie sich dem Tor der Villa nähern, die ihnen so<br />

gefällt.<br />

„Zum alten Dreieck!“, fügt er hinzu, als er sich von dort wieder<br />

entfernt, „ein wundervoller Name - findest du nicht?“<br />

10


Billy hat keine Zeit, um zu antworten; ein lauter Ruf von einer<br />

kräftigen Stimme schwingt in der Luft. Überrascht kehren beide<br />

zurück.<br />

Vor dem Eingang zum alten Dreieck taucht ein weiblicher<br />

Schatten auf. Sie hebt die Arme und macht in die Richtung der<br />

beiden Radfahrer Zeichen der Verzweiflung.<br />

„Was heißt das wohl?“, ruft Hugo erstaunt aus.<br />

„Gehen wir schauen!“, sagt Billy, während er vom Fahrrad steigt,<br />

„ich glaube, diese Person wendet sich an uns.“<br />

Langsam, als würden sie es bereuen, nähern sie sich der<br />

hübschen Villa.<br />

Eine Dame mit verärgertem Gesicht schaut sie verzweifelt an.<br />

Sie ruft, als sie die beiden kommen sieht: „Beeilt euch bitte … es<br />

eilt!“<br />

Dann setzt sie mit einem Ruck fort: „Es gibt keine Zeit zu<br />

verlieren!“<br />

Billy und Hugo schauen sich an, auch sie sind beunruhigt.<br />

„Was antworten wir ihnen?“<br />

Das scheint sehr ernst, tatsächlich sehr ernst zu sein …<br />

Sie haben die Person erreicht, die sich jetzt vor dem Eingang<br />

befindet; es ist eine junge Frau mit zerfurchtem Gesicht.<br />

„Meine Mutter wird sterben“, stöhnt sie, „ich flehe euch an … holt<br />

den Arzt! Ich habe keine Nachbarn und kein Telefon. Ich weiß<br />

nicht, wie ich ihn erreichen kann … ich flehe euch an …da ist<br />

seine Adresse in Sankt Martin.“<br />

Und sie gibt den Kindern ein Stück Papier.<br />

„Aber … wir fahren nicht in dieser Richtung“, wendet Hugo<br />

unentschlossen ein, „wir sind in Sankt Martin gerade<br />

durchgefahren.“<br />

11


„Und wir haben noch einen langen Weg zurückzulegen“, ergänzt<br />

Billy hinzu, „würde es keine anderen Durchreisenden oder einen<br />

Autofahrer geben, die Ihre Nachricht mitnehmen könnten?“<br />

Er schaut auf die Straße, aber niemand kommt, weder auf der<br />

einen noch auf der anderen Seite. Darauf halten seine Augen bei<br />

der jungen Dame inne, die sie verzweifelt anschaut.<br />

Fest entschlossen ergreift er jetzt das Papier und ruft: „Komm,<br />

Hugo, fahren wir schnell dorthin!“<br />

Er sitzt schon auf seinem Fahrrad, gefolgt von seinem Bruder,<br />

während die Fremde ihnen mit anerkennendem Blick nachruft:<br />

„Danke! … danke! … Gott wird es euch vergelten!“<br />

Und schnell kehrt sie wieder ins Haus zurück.<br />

Indem sie kräftig in die Pedale treten, fahren sie beiden Jungen<br />

auf dem gleichen Weg, den sie soeben zurückgelegt haben.<br />

„Was für eine Idee, kein Telefon zu haben!“, ruft Hugo verärgert<br />

darüber aus, dass sie jetzt auf dem gleichen Weg zurückfahren<br />

müssen, „mitten auf dem Land! Sie sind vom letzten Jahrhundert,<br />

diese Leute!“<br />

„Das stimmt“, ergänzt Billy, „und wir tragen die Folgen … ohne<br />

damit zu rechnen, dass ein Telefonanruf viel schneller wäre als<br />

wir, und pedalen wir noch so kräftig.“<br />

Sie kommen in Sichtweite der ersten Häuser von Sankt Martin.<br />

Glücklich darüber, dass sie am Zielort angekommen sind,<br />

steigen sie von den Fahrrädern und erkundigen sich nach dem<br />

kürzesten Weg, der zum Arzt hinführt. Aber sie kennen den Ort<br />

nicht und verlieren sich in einem Straßenlabyrinth.<br />

Besorgt suchen und fragen sie nochmals vorbeigehende Leute.<br />

Die Minuten verstreichen, sie kommen ihnen wie Stunden vor!<br />

Wird die Hilfe rechtzeitig ankommen, um die Kranke zu retten?<br />

12


Endlich! Sie stehen vor dem Haus des Arztes.<br />

Billy beeilt sich, um vom Arzt höchstpersönlich das Versprechen<br />

zu bekommen, dass er sich unverzüglich zum „Alten Dreieck“<br />

begibt.<br />

Erleichtert darüber, dass sie die Nachricht überbracht haben,<br />

setzen die beiden Jungen ihre Reise fort, aber die Emotionen<br />

und der schnelle Weg haben die beiden ermüdet.<br />

Sie haben heiß - und sie haben Durst!<br />

Sie müssen einen Halt einlegen, das ist unausweichlich!<br />

„Komm, gehen wir in eine Konditorei!“, schlägt Hugo vor,<br />

„gönnen wir uns einen Sirup!“<br />

Sie erfrischen und erholen sich - und die Zeit vergeht …<br />

Billy ist unruhig. Werden sie noch vor der Nacht bei Onkel Moritz<br />

ankommen? Sie müssen so schnell wie möglich weiter.<br />

Und schon sind sie wieder mitten auf dem Land und beeilen sich,<br />

um die verlorene Zeit wieder einzuholen.<br />

Ein wenig verstört nähern sie sich dem „Alten Dreieck“, ein Auto<br />

hat beim Eingang angehalten.<br />

„Das ist sicher das Fahrzeug des Arztes“, sagt Hugo, „ist er etwa<br />

schon so früh gekommen? Wir werden es vielleicht nie erfahren.“<br />

Sie fahren an der hübschen Villa vorbei, ohne dass jemand sie<br />

bemerkt.<br />

Billy seufzt: „Das ist schade … ich würde diese Leute gern<br />

kennen lernen.“<br />

„Die Dame war viel zu besorgt mit ihrem Kummer, um an uns zu<br />

denken und zu erfahren, wer wir sind“, bemerkt Hugo.<br />

„Fahren wir also vorwärts und sprechen wir nicht mehr darüber!<br />

Wichtig ist, dass wir ihnen von Nutzen sein konnten.“<br />

13


Nach einer weiteren langen Strecke fragt Hugo: „Wohnt er noch<br />

weit von hier, dein Onkel Moritz?“<br />

„Aber sicher! Wir sind erst bei der Hälfte angekommen. Schauen<br />

wir auf die Karte, um uns zu vergewissern!“<br />

Sie breiten ihre Geografiekarte auf dem Gras aus und richten<br />

sich ein, um ihr Picknick einzunehmen.<br />

Die Sonne brennt auf ihren Köpfen, es ist Mittag und die beiden<br />

Kinder verschlingen ihr Essen mit großem Appetit.<br />

Es hat nur wenig Verkehr auf dem Landweg neben dem<br />

Straßenrand, wo die jungen Leute rasten. Von Zeit zu Zeit fährt<br />

ein Auto vorbei; jetzt ist es ein Bauernkarren, der langsam<br />

daherkommt.<br />

Billy steht sofort auf, eine Idee hat seinen Geist beflügelt: „Wenn<br />

ich diesen Bauern nach dem Namen der Bewohner des ‚Alten<br />

Dreiecks‘ fragen würde? Das juckt mich … ich würde ihn gern<br />

wissen.“<br />

„Wird er ihn wohl kennen?“, fragt Hugo, während er ebenfalls<br />

aufsteht.<br />

„Vielleicht“, erklärt Billy, „ich habe den Eindruck, dass er in der<br />

Nachbarschaft wohnt.“<br />

Billy pflanzt sich vor dem Wagen auf und während er den Bauer<br />

anschaut, der eine blaue Bluse trägt, fragt er: „Entschuldigen Sie,<br />

könnten Sie mir bitte sagen, wie die Leute heißen, die im ‚Alten<br />

Dreieck‘ wohnen?“<br />

„Aber gern“, antwortet der Mann, „es ist Frau Lagner und ihre<br />

Tochter heißt Mariette. Seit dem Tod ihres Mannes haben wir sie<br />

kaum mehr ausgehen sehen. Ihr Sohn wohnt in Sankt Martin und<br />

kommt jede Woche bei ihr vorbei.“<br />

„Sie ist sehr krank, sie wird sterben“, unterbricht Billy.<br />

„Wie? Woher wisst ihr das?“<br />

14


„Als wir vor der Villa vorbeifuhren“, erklärt Hugo, der bis jetzt<br />

geschwiegen hat, „hat uns eine junge Dame gerufen …“<br />

„Das ist Mariette …“<br />

„Sie hat uns angefleht, nach Sankt Martin zu fahren, um den Arzt<br />

für ihre Mutter zu holen.“<br />

„Und seid ihr gegangen?“<br />

„Aber sicher, das konnten wir unmöglich ablehnen“, fügt Billy<br />

hinzu, „was für eine Idee, kein Telefon zu haben! Wir haben noch<br />

einen langen Weg zu fahren und das hat uns in Rückstand<br />

gebracht.“<br />

„Fährt ihr noch weit?“<br />

„Jawohl“, antworte der junge Mann, „bis nach Dorleben.“<br />

„Oh, dann gute Reise! Ich habe noch viele Kilometer für eure<br />

Sprunggelenke vor euch! Ich bin zufrieden, dass ich euch<br />

angetroffen habe und jetzt weiß, was im ‚Alten Dreieck‘ vor sich<br />

geht. Meine Frau wird gleich dorthin gehen, um sich nach dem<br />

Neuesten zu erkundigen ... wir sind praktisch Nachbarn und<br />

wissen trotzdem nichts über das Leben dieser Damen. Sicher<br />

haben sie deshalb kein Telefon, weil sie nicht gestört werden und<br />

für sich allein leben wollen … man sagt, sie haben viele<br />

Unglücksfälle gehabt.“<br />

Während der Bauer noch redet, nähert sich ein Van schnell auf<br />

der Straße. Er kommt näher …<br />

„Hallo, Heinrich!“, ruft der Fahrer, während er die Fahrt<br />

verlangsamt.<br />

„Guten Tag ebenfalls - wie geht es?“, antwortet der Bauer, der<br />

auf seinem Wagen geblieben ist.<br />

Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzt er nach: „Bist du<br />

gerade frei? Es hat ja gerade genug Platz für diese zwei<br />

Schlingel und ihre Fahrräder. Sie gehen nach Dorleben und<br />

15


Mariette vom ‚Alten Dreieck‘ hat sie in Rückstand gebracht, als<br />

sie sie nach Sankt Martin geschickt hat, um dort etwas zu<br />

erledigen. Anscheinend ist Frau Lagner sehr krank und hat nach<br />

dem Arzt verlangt.“<br />

„Ich habe ihren Sohn gestern auf dem Bahnhof gesehen, doch<br />

er hat mir nichts davon gesagt“, erwidert der Fahrer des Vans,<br />

„also, Jungs, steigt auf! Ich fahre noch weiter als bis Dorleben<br />

und werde euch am Dorfeingang ausladen.“<br />

In einem Augenblick ergreifen die beiden Brüder ihre Utensilien,<br />

die auf dem Gras geblieben sind, packen ihre Fahrräder, legen<br />

sie auf den Van und klettern schließlich selbst hinauf.<br />

Mit Augen, die aus Freude und Dankbarkeit leuchten, rufen beide<br />

zugleich, während sie sowohl zum Bauer als auch zum Fahrer<br />

hinschauen: „Vielen Dank! … vielen Dank!“<br />

Was für ein Glücksfall!<br />

Es hat hinten auf dem Van genau zwei Kisten, die ihnen als<br />

Sitzplätze dienen. Sie sind zwar nicht gepolstert, aber das macht<br />

nichts.<br />

Hugo und Billy schauen sich mit einem Hauch von<br />

Komplizenschaft an.<br />

„Wir konnten es uns nicht besser wünschen“, sagt der ältere<br />

triumphierend.<br />

„Die verlorene Zeit wird schnell wieder aufgeholt sein“, ergänzt<br />

Hugo, während das Fahrzeug schnell vorankommt.<br />

„Bei einer solchen Hitze finde ich es sympathisch, auf diese<br />

Weise transportiert zu werden“, sagt dann wieder Billy.<br />

„Die Tochter von Frau Lagner hatte Recht, als sie sagte, Gott<br />

wird es euch vergelten“, fügt Hugo noch hinzu.<br />

„Großmutter würde dazu sagen: Eine gute Tat geht niemals<br />

verloren“, erklärt dann Billy geradezu weise.<br />

16


„Wir werden jetzt aber keine Helden spielen, weil wir ein paar<br />

Kilometer gefahren sind, um für diese armen Leute Hilfe zu<br />

holen.“<br />

Billy antwortet ernsthaft und nachdenklich: „Natürlich nicht. Aber<br />

ich denke, es ist gerade das, was als treu in wenigem bezeichnet<br />

wird…“<br />

„Wie im Gleichnis? Also hat es uns noch Größeres anvertraut …<br />

glaubst du?“<br />

„Aber sicher!“<br />

„Es ist ein Versprechen auf noch mehr Erfolge für diese Reise!<br />

Das Größte, das uns passieren könnte, wäre aber nach meiner<br />

Meinung, dass wir Floria befreien.“<br />

„Ich rechne fest damit“, sagt Billy, „hurra! Wir kommen noch<br />

früher, als ich glaubte, an unserem Zielort an.“<br />

Während die beiden Jungen sich unterhalten, setzt das<br />

Fahrzeug seinen Weg auf dem Land fort, biegt schließlich in die<br />

Kantonsstraße ein und schlittert in eine Schlange von Autos, die<br />

ohne Halt die lange asphaltierte Schleife zerfurchen.<br />

Und die Kilometer folgen sich schnell. Die Sonne steht immer<br />

noch hoch über ihren Köpfen, als sie sich dem hübschen Dorf<br />

nähern, dessen Häuser vom Berg abstehen, indem sie sich im<br />

blauen Wasser des Sees spiegeln.<br />

Billy seufzt und sagt zu seinem Bruder: „Ich glaube, wir sind da<br />

… ja, ich erkenne den Bahnhof wieder!“<br />

Und während er spricht, fühlt er sein Herz stärker klopfen.<br />

„Was für ein Idiot!“, denkt er, „ich lasse mich jetzt doch nicht von<br />

meinen Gefühlen überwältigen.“<br />

Der Wagen wird langsamer, verlässt die Hauptstraße und hält<br />

auf einem kleinen Platz.<br />

17


Der Fahrer dreht sich nach ihnen um und ruft: „Wir sind in<br />

Dorleben!“<br />

Schnell springen die beiden Kinder auf den Boden, dann nehmen<br />

sie ihre Fahrräder und verwirren sich fast in Dankworten an den<br />

liebenswürdigen Fahrer.<br />

Dann fährt der Van weg und verschwindet schnell hinter der<br />

nächsten Kurve.<br />

18


Wir sind keine Affen!<br />

Billy schaut um sich, um den Ort wieder zu erkennen.<br />

Nichts hat sich verändert; es ist der gleiche steile Weg, der im<br />

Dorf selber ansteigt, und der grüne Hügel über den Häusern.<br />

Es war ein heller Tag mit der gleichen brennenden Sonne, die<br />

ihn im letzten Jahr hier empfing; damals suchte er Arbeit und<br />

kannte niemanden …<br />

Jetzt wird er von seinem Bruder begleitet und von Eltern<br />

umsorgt. Wie heute alles anders ist!<br />

Gerade deshalb kommt ihm die Landschaft noch schöner und<br />

freundlicher vor.<br />

„Wir haben noch Zeit, um zur Bäckerei zu gehen, bevor wir zur<br />

Türmchenvilla aufsteigen“, sagt er, „Onkel Moritz erwartet uns<br />

nicht so früh. Ich freue mich darauf, Frau Richard wieder zu<br />

sehen.“<br />

„Und wenn sie dich nicht mehr erkennt?“<br />

„Schauen wir mal! Ich habe mich nicht so stark verändert.“<br />

„Bist du etwa nicht bloß einen Tag lang bei ihnen gewesen? Sie<br />

haben seitdem viele andere Gesichter gesehen!“<br />

„Falls sie nicht mehr wissen, wer ich bin, werde ich sie fragen, ob<br />

sie sich an den jungen Mann erinnern, der die Zuckerhüte aus<br />

Puderzucker so gut vorbereitete, dass daraus von der Waage bis<br />

zum Boden großartige weiße Wasserfälle wurden.“<br />

„Du kannst dich dafür rühmen! Wenn sie ein gutes Gedächtnis<br />

haben, behalten sie mit Sicherheit einen ausgezeichneten<br />

Eindruck an deinen erleuchteten Aufenthalt bei ihnen!“<br />

„Und die Hausangestellte von Onkel Moritz! Sie muss an mich<br />

wohl eine charmante Erinnerung haben! Zum Glück bist du jetzt<br />

19


ei mir, Hugo; wenn nicht, glaube ich, würde ich zögern, mich ihr<br />

zu zeigen.“<br />

„Denk nicht daran! … vielleicht hat sie den Ort schon verlassen<br />

und eine andere ist ihr nachgefolgt.“<br />

„Hoffen wir, du sagst es richtig!“<br />

Während sie noch reden, kommen sie vor der Bäckerei an und<br />

werfen einen Blick ins Innere. Es ist niemand im Laden.<br />

„Wir werden fragen, um dein Zimmer zu sehen“, sagt Hugo.<br />

„Sicher. Und du kannst das Panorama bewundern, das man vom<br />

Fenster aus erblickt; es ist überwältigend. Treten wir also ein -<br />

willst du?“<br />

Billy drückt die Tür, schaut ins Innere und entschließt sich<br />

schließlich zum Eintreten. Hugo folgt ihm.<br />

In der Stille der Bäckerei erwarten sie, dass Herr oder Frau<br />

Richard erscheinen, und sie freuen sich von vornherein auf die<br />

Überraschung, welche diese braven Leute empfinden werden,<br />

wenn sie den großen Jungen sehen.<br />

Man hört Schritte hinter der Tür; sie öffnet sich und es taucht ein<br />

junges, blondes Mädchen auf, das sie begrüßt und fragt: „Was<br />

wünscht ihr?“<br />

Sie scheint schüchtern zu sein und spricht mit einem starken<br />

französischen Akzent.<br />

„Könnte ich Herrn oder Frau Richard sehen?“, antwortet Billy.<br />

„Einen Moment, bitte.“<br />

Und die junge Angestellte zieht sich zurück.<br />

Die Tür schließt sich wieder und es bleibt die gleiche<br />

erwartungsvolle Stille.<br />

Hugo beginnt, ungeduldig zu werden: „Seit der Zeit, die ich diese<br />

20


schönen Sachen betrachte, die hier bleiben … ohne sich zu<br />

bewegen! Es wäre besser, sie hätten einen kleinen<br />

Mechanismus, der sie direkt in meinen Mund schickt, wenn ich<br />

sie anschaue!“<br />

„Was für eine geniale Idee! Da braucht es keine Verkäuferinnen<br />

mehr in den Läden! Hugo! Ich rate dir lebhaft, diesen kleinen<br />

Mechanismus zu erfinden … du wirst damit Erfolg haben! ...“<br />

Die Tür, die zum Inneren der Bäckerei führt, öffnet sich, und eine<br />

Dame, die Billy mit großen Augen erstaunt anstarrt, zeigt sich<br />

hinter den Tresen.<br />

„Frau Richard?“<br />

Er ist verwirrt, so hat er es sich nicht vorgestellt!<br />

Ist sein Gedächtnis etwa so schlecht?<br />

Etwas zögernd wiederholt er seine Frage: „Könnte ich Herrn oder<br />

Frau Richard sehen?“<br />

„Herr Richard wohnt nicht mehr hier“, antwortet die Bäckerin.<br />

„Oh, wie schade!“, ruft Billy sehr enttäuscht aus, „ist er etwa<br />

verreist?“<br />

„Ja, vor mehr als sechs Monaten. Nachdem Herr Richards Vater<br />

gestorben war, zogen sie weg, um die Bäckerei der Eltern zu<br />

übernehmen, in einer Bergstation. Es ist jetzt auch noch eine<br />

große Konditorei mit einem Tee-Salon in einem<br />

Touristenzentrum, während der Handel hier viel ruhiger ist. Man<br />

müsste noch ein Lebensmittelgeschäft anschließen, damit viel<br />

mehr läuft.“<br />

„Aber das Land ist doch so schön“, bemerkt Hugo.<br />

„Offensichtlich“, antwortet die Bäckerin emotionslos und fragt<br />

dann: „Kennt ihr Herrn und Frau Richard?“<br />

„Ja, ein wenig“, antwortet Billy trocken, „oh, das macht nichts! ...<br />

21


umso schlimmer.“<br />

Und schon geht er wieder weg, gefolgt von seinem Bruder, der<br />

noch ergänzt: „Ich glaubte schon, du würdest uns eine dieser<br />

schönen Sachen bezahlen, die wir so lange angeschaut haben!“<br />

„Pah, diese Leute nerven mich. Ich wollte Frau Richard sehen<br />

…“<br />

„Und dein Zimmer … wo ist es? Zeig mir wenigstens das<br />

Fenster!“<br />

„Komm, wir müssen hinten durch! … schau, es ist dort, im ersten<br />

Stock, das zweite Fenster!“<br />

Hugo hebt die Augen, schaut gut, prüft alles und erklärt dann:<br />

„Wenn ich auf diesem Kastanienbaum hochklettere, bin ich mit<br />

einem Sprung oben in deinem Zimmer … versuchen wir es! Willst<br />

du? Wir müssen nur einen Blick ins Innere werfen!“<br />

„Aber Hugo, sei vernünftig! Wir haben unseren Eltern<br />

versprochen, keine Dummheiten zu machen! Glaubst du, wir sind<br />

Affen im Regenwald?“<br />

„Nein! Das ist schade! Ich habe manchmal den Eindruck, dass<br />

mir noch mehrere Instinkte meiner Alten und meiner sehr illustren<br />

Vorfahren geblieben sind!“<br />

„Danke sehr!“, entgegnet der ältere, „aber meine Vorfahren<br />

stammen nicht vom Regenwald ab! Ich bin ein Nachkomme von<br />

Adam und Eva.“<br />

„Oh Billy, darf man nicht einmal scherzen? Du nimmst alles so<br />

ernst. Ich bin ebenso wie du von unserer Herkunft überzeugt und<br />

glaube fest an den Vers in der Genesis, der aussagt: ‚Gott schuf<br />

den Menschen nach seinem Ebenbild.“ (1. Mose 1, 27)<br />

„Ich habe halt vergessen, dass du ein Scherzkeks bist.“<br />

Sie gehen auf dem steilen Weg bis zum Bahnhof und Billy setzt<br />

22


fort: „In der letzten Woche hat unser Anatomielehrer bestätigt,<br />

dass wir vom Affen abstammen. Und das mit allen verfügbaren<br />

Beweisen, mit den alten und neuen Entdeckungen von<br />

Schädeln, die das ohne <strong>Zwei</strong>fel zeigen. Natürlich ist dieses<br />

Gerede von den heißen Diskussionen während den Spielzeiten<br />

ausgelöst worden.“<br />

„Das sehe ich! Und wie bist du da herausgekommen, um deine<br />

Ansicht aufrechtzuerhalten?“<br />

„Ich habe ihnen einfach gesagt, wie es damit steht: Die<br />

Wissenschaft ändert ihren Standpunkt alle Tage! Die<br />

Entdeckungen basieren oft auf Vermutungen, die an einem Tag<br />

aufgestellt und am nächsten Tag schon wieder bestritten<br />

werden. Dagegen hat sich die Bibel von den ältesten Büchern<br />

bis zu den neuesten, die sich auf bis zu mehr als zweitausend<br />

Jahre zurückdatieren lassen, nicht verändert, und nichts von<br />

dem, was geschrieben wurde, widerspricht gewissen Ansichten<br />

der Wissenschaft und den Entdeckungen des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts.“<br />

„Bravo, ich beglückwünsche dich! Du konntest nicht besser<br />

antworten und ich vermute, du hast das Maul von gewissen<br />

Leuten gestopft …“<br />

„Mach dir keine Illusionen! Mehrere haben mich wie einen<br />

Naivling behandelt! Aber lassen wir das jetzt! … wir kommen<br />

gleich bei der Türmchenvilla an. Sie ist dort, schau, dieses<br />

Hauses mit den grünen Fensterläden!“<br />

Die beiden Jungen überqueren die Straße und betreten die<br />

kleine Allee, die von Hortensien umzäunt ist. Da kommen schon<br />

die Veranda und die Kupferplatte, die in Billy beklemmende<br />

Erinnerungen wecken!<br />

Heute drückt er ohne Angst auf den Knopf. Im Gegenteil, er freut<br />

sich darauf, zu sehen, wie die Tür sich öffnet. Sie zögert nicht,<br />

23


die Scharniere zu drehen, und eine Hausangestellte lädt sie<br />

lächelnd zum Eintreten ein.<br />

Hugo schaut seinen Bruder an und scheint ihm zu sagen:<br />

„Kennst du sie?“<br />

Billy antwortet mit einem negativen Kopfzeichen, während er<br />

murmelt: „Es ist zum Glück nicht die gleiche.“<br />

Die Dienerin führt sie in ein Zimmer im zweiten Stock. Während<br />

sie die Treppe hochsteigen, sagt sie den beiden: „Herr und Frau<br />

Dubeler sind heute abwesend.“<br />

„Wie - sind sie nicht hier?“, fragt Billy erstaunt.<br />

„Nein. Sie entschuldigen sich sehr und haben bedauert, dass sie<br />

abreisen mussten. Sie kommen morgen zurück und wünschen,<br />

dass ihr euch nicht langweilt, während ihr wartet. Gestern haben<br />

sie die Nachricht vom Ableben einer Verwandten bekommen, die<br />

am anderen Ende der Schweiz wohnt. Es war unnötig, euch<br />

davon zu unterrichten und eure Pläne zu ändern, weil sie morgen<br />

schon wieder zurück sind. Während eurer Wartezeit gehören das<br />

Haus, der Garten, der Obstgarten und der ganze Bereich rund<br />

herum euch; es gibt genug für mehr als einen Tag zu erkundigen.<br />

Ich lasse euch das Gepäck aufbewahren. In wenigen Minuten<br />

wird das Essen im Speisesaal aufgetragen; ich vermute, ihr habt<br />

nach dieser langen Reise großen Hunger.“<br />

„Ihre Vermutung trifft vollkommen zu, mein Fräulein“, antwortet<br />

Hugo, „ich sterbe vor Hunger!“<br />

„Alles zu seiner Zeit“, erwidert die Hausangestellte, „aber ich<br />

liebe es, wenn man meine Mahlzeiten ehrt. Nennt mich Anni -<br />

wollt ihr?“<br />

„Oh gern, Anni! Und wir … das ist Hugo, mein Bruder, und ich<br />

bin Billy.“<br />

„Sehr erfreut. Also, Hugo und Billy, sobald ihr bereit seid, kommt<br />

24


in den Speisesaal!“<br />

„Sagen Sie nicht Hugo und Billy, sondern Billy und Hugo“, sagt<br />

Hugo laut, „er ist der ältere und ich … ich bin nur der jüngere.“<br />

„Gut, in Ordnung, ich nehme das zur Kenntnis“, entgegnet die<br />

Hausdienerin mit einem Lachen, während sie das Zimmer<br />

verlässt, und dann steigt sie die Treppe hinunter.<br />

Die beiden Jungen schließen die Tür ihres Zimmers und schauen<br />

sich neugierig um.<br />

„Es wird uns hier gut gehen“, bemerkt Hugo, während er sich auf<br />

einem Sofa bequem einrichtet.<br />

„Dieser kleine Balkon auf der Seeseite gibt uns Sehnsucht nach<br />

dem Wasser! Wir werden nicht mehr lange warten, bis wir seine<br />

Frische kosten können. Schade, dass Onkel Moritz nicht da ist!“<br />

„Ja und Nein! Wir werden morgen ganz frei sein für unsere ersten<br />

Erforschungen der strategischen Punkte, das wird umso<br />

charmanter sein.“<br />

„Das ist wahr, du hast Recht. Ich sage sogar, wenn wir nicht<br />

müde wären, könnten wir bei einem Spaziergang sogar noch<br />

heute Abend zum Nachbardorf fahren, um aus der Ferne das<br />

Haus des alten Herrn Gerber zu sehen …“<br />

„Ich bin überhaupt nicht müde!“, ruft Hugo mit Überzeugung,<br />

während er sich sofort von seinem bequemen Sitz erhebt.<br />

„Ich auch nicht!“, bestätigt Billy entschieden.<br />

„Also vorwärts nach dem Essen! Wir machen diese Tour, um das<br />

Grundstück deines alten Geizhalses zu sehen!“<br />

25


Ein roter Gürtel<br />

Wieder gut erholt von einer langen Pause fahren die beiden<br />

Brüder ohne Zeit zu verlieren auf der Straße, die zum Dorf führt,<br />

wo Billy im letzten Jahr den Dorfladen von Herrn Kordes entdeckt<br />

hat.<br />

„Schade, dass wir Herrn Kordes heute Abend unmöglich sehen<br />

können!“, sagt Billy unterwegs, „es ist schon sieben Uhr vorbei,<br />

sein Laden ist sicher geschlossen; also wird es morgen sein. Er<br />

wird zweifellos wertvolle Informationen haben, um uns dabei zu<br />

helfen, zu entdecken, wer Floria ist. Ich verstehe immer noch<br />

nicht, wie sie meine Adresse erfahren hat …“<br />

„Was für eine Repetiermaschine du bist! Wie viele Male hast du<br />

mir diesen Satz schon gesagt! Du musst langsam so weit<br />

kommen, um nicht alles verstehen zu können; gerade dies ist das<br />

Geheimnis und der Charme unseres Abenteuers. Wenn man<br />

alles weiß, gibt es nichts mehr zu entdecken! Übrigens sehe ich<br />

die Sachlage sehr einfach; du wirst ihnen deinen Namen gesagt<br />

haben und erinnerst dich nicht mehr daran.“<br />

„Ich bezweifle das“, erwidert Billly, der keineswegs davon<br />

überzeugt ist, „ich wünschte so sehr, ich könnte mich hier<br />

unerkannt bewegen, damit niemand dem Großvater sagen kann,<br />

wo ich war. Komm, fahren wir hier hinauf, er geht zum Dorf hin!“<br />

Die beiden Jungen verlassen die Hauptstraße und nehmen den<br />

Weg, der direkt zum Platz vor der Kirche hinführt. Billy erkennt<br />

den Laden von Herrn Kordes wieder; die Fensterläden sind<br />

unten, alles ist still.<br />

Sie gehen vor dem Laden vorbei, ohne jemanden zu sehen. Ihre<br />

Schritte schwingen auf dem Asphalt mit, kein anderer Lärm lässt<br />

sich vernehmen. Es scheint, dass das Dorf schon schläft, von<br />

diesem langen und heißen Tag ermüdet …<br />

26


„Schau! Da ist der genaue Platz, wo ich mit den Eiern von Mutter<br />

Pick-Pick die schönste Omelette meines Lebens gemacht habe“,<br />

seufzt Billy zu seinem Bruder hinüber, indem er auf eine<br />

Mauerecke hinweist.<br />

„Mit viel Fantasie, ich rieche noch den Geruch“, entgegnet Hugo.<br />

„Ergänze noch, dass du selbst die Farbe siehst! Langsam … wir<br />

kommen näher! Schau dieses quadratische Haus hinter diesem<br />

Netz!“<br />

„Ist es dort, wo Vater Gerber wohnt?“<br />

„Ja - fahren wir jetzt ruhig, ohne dass ein Luftzug zu spüren ist!<br />

…“<br />

Sie kommen am Grundstück des alten Geizhalses vorbei und<br />

prüfen es gewissenhaft.<br />

„Alle Fenster sind geschlossen“, bemerkt Billy, „außer diesem<br />

kleinen auf dem Dach. Man könnte meinen, sie seien nicht da;<br />

niemand bewegt sich, völlige Stille!“<br />

Nach einer Fahrt rund um das Haus und einer äußerst genauen<br />

Kontrolle aller Ecken kommen sie zum Ausgangspunkt zurück,<br />

und Hugo schlussfolgert sehr enttäuscht: „Ich glaube, wir<br />

entdecken heute nicht viel. Morgen früh wird unsere erste<br />

Aufgabe darin bestehen, im Laden Informationen einzuholen ...“<br />

Billy unterbricht ihn: „Ja, aber mit Vorsicht. Wir dürfen mit<br />

niemandem über diesen Brief sprechen; Onkel Moritz muss der<br />

Einzige bleiben, den wir in dieses Geheimnis einweihen. Den<br />

anderen Leuten müssen wir misstrauen. Es würde genügen,<br />

davon auch nur einem zu erzählen, damit das ganze Dorf es<br />

weiß, an erster Stelle natürlich Vater Gerber. Unser Rettungsplan<br />

würde kläglich scheitern.“<br />

„Zu Befehl, mein General! Sehr gut gesprochen! Großes<br />

Geheimnis für …“<br />

27


„Hugo!“, unterbricht der ältere heftig, „siehst du im Dachfenster,<br />

wie dieser rote Stock sich bewegt?“<br />

Hugo erhebt verwirrt den Kopf und seufzt zu seinem Bruder<br />

hinüber: „Er war gerade nicht dort …“<br />

„Das ist also der Beweis, dass jemand hier im Haus ist. Sie sind<br />

nicht abwesend. Machen wir es also sachte, damit wir nicht<br />

gehört werden!“<br />

„Warum haben sie bei dieser Hitze die Fenster nicht geöffnet?<br />

An ihrer Stelle würde ich ersticken …“<br />

„Wenn Vater Gerber uns durch die Fensterscheiben bemerkt,<br />

wird er es seltsam und verdächtig finden, dass wir hier auf dem<br />

Weg bleiben, um sein Haus zu überprüfen; er ist ja so<br />

misstrauisch.“<br />

„Umso schlimmer für ihn!“, entgegnet Hugo, „wenn wir etwas<br />

entdecken wollen, müssen wir … schau! Das ist komisch! Der<br />

rote Stock … er bewegt sich wieder…“<br />

„Ich flehe dich an, Hugo, sprich weniger laut! Komm her, kleben<br />

wir uns gegen die Gartenmauer! Man wird uns weniger sehen<br />

und zwischen den Bäumen können wir trotzdem das Fenster<br />

unterscheiden.“<br />

Der jüngere gehorcht seinem Bruder und nähert sich der Mauer.<br />

Vorsichtig schauen beide mit weit offenen Augen nach der<br />

Richtung des oberen Lichts.<br />

„Billy … Billy“, flüstert Hugo, während er seine Hand angespannt<br />

über die Schulter seines älteren Bruders hält, „da kommt der<br />

Stock schon wieder! Und … was ist ganz hinten?“<br />

„Ich würde sagen, es ist ein Gürtel aus rotem Leder.“<br />

„Ein roter Gürtel, das ist es!“<br />

In diesem Augenblick öffnet sich die Haustür und die beiden<br />

Jungen fahren zusammen.<br />

28


„Was für ein Schreck!“, sagt Hugo.<br />

„Dreh dich um, lass uns gehen!“, ordnet Billy an.<br />

Und ohne rückwärtszuschauen, weder zur Seite nach der Tür<br />

noch nach der Richtung des Dachfensters, machen sich die<br />

beiden Jungen geräuschlos davon, indem sie wie Verbrecher der<br />

Mauer entlang schleichen.<br />

Bevor sie den Platz vor der Kirche erreichen, stehen sie auf der<br />

Mitte des Weges wieder auf und kehren zurück. Es steht<br />

niemand vor dem Haus des alten Geizhalses und die Tür ist<br />

wieder geschlossen.<br />

„Wie töricht von uns, dass wir solche Angst hatten!“, ruft Hugo<br />

enttäuscht aus, „wir haben nicht einmal gesehen, wer aus dem<br />

Haus ging.“<br />

„Es war vielleicht Floria!“<br />

„Komm, gehen wir zurück!“, erwidert Hugo entschieden, „und<br />

gehen wir kühn wie Leute, die auf dem Weg vorbeigehen!“<br />

„Für dich ist es leicht, so zu reden, aber was mich betrifft … ich<br />

fürchte mich davor, dass sie mich erkennen.“<br />

„Aber nein, schau! Zieh die Sonnenbrille an, so wird man dich<br />

nicht erkennen!“<br />

Wieder ermutigt gehen die beiden Jungen auf dem Weg zurück<br />

und nähern sich dem Haus von Herrn Gerber.<br />

„Das obere Licht ist gelöscht; es gibt nichts mehr, keinen Stock<br />

mehr“, bemerkt Billy.<br />

„Es ist jemand im Garten“, murmelt Hugo, „es scheint mir, ich<br />

höre Lärm, als würde jemand Kies rechen.“<br />

„Diese verflixte Mauer und diese Bäume verdecken uns alles …<br />

unmöglich, etwas zu sehen. Gehen wir also leise vor … spricht<br />

wohl jemand?“<br />

29


Billy spitzt die Ohren und ergänzt dann triumphierend: „Ich<br />

erkenne die Stimme des alten Geizhalses … hör gut hin!“<br />

Laute Stimmen donnern hinter der Mauer und dringen bis zu den<br />

Kindern: „Ich sage dir, ich habe sie gesehen! … ich habe sie<br />

gesehen! …“<br />

Das Ende des Satzes und der ganze Rest des Gesprächs<br />

verlieren sich im Laub.<br />

Die lauten Stimmen sind weiter zu hören, aber die beiden Jungen<br />

verstehen nichts mehr. Sie entfernen sich schnell, während sie<br />

sich unruhig anschauen.<br />

Sie kehren zur Hauptstraße zurück; die Tageshelle nimmt ab und<br />

die Luft wird frisch. Der Verkehr der Autos nimmt ab, sie fahren<br />

ruhig in der Abenddämmerung dahin.<br />

Billy und Hugo halten an, und der ältere sagt leise, als spräche<br />

er mit sich selbst: „Was hat er gesehen, um sich in diesem Punkt<br />

so fürchterlich aufzuregen?“<br />

„Aber … uns, natürlich! Hast du das nicht erraten? Darum bin ich<br />

nicht näher hingegangen. Der Augenblick war nicht gut gewählt;<br />

wir müssen warten, bis sein Zorn vorbei ist … ich sehe jetzt auch,<br />

dass du Recht hattest. Er ist misstrauisch, dein alter Geizhals!<br />

Es wird schwieriger sein, als ich dachte, um unser Ziel zu<br />

erreichen; wir müssen vorsichtig sein.“<br />

„Ja - und wir brauchen die Hilfe und Ratschläge von Onkel<br />

Moritz. Ich freue mich darauf, dass er dann hier ist. Vor seiner<br />

Rückkehr können wir nichts Ernsthaftes unternehmen. Das<br />

Beste, das wir heute Abend tun können, ist jetzt, zur<br />

Türmchenvilla zurückzukehren. Übrigens dunkelt es ein. Anni hat<br />

uns empfohlen, nicht spät zurückzukehren.“<br />

„Du hast Recht“, entgegnet Hugo, „trotz allem haben wir unseren<br />

Abend nicht verloren; ich habe diese Orte kennen gelernt und wir<br />

haben die Stimme des alten Gerber gehört. Aber dieses Ende<br />

30


des Stocks, das vom Ende des Dachfensters ausging, mit einem<br />

roten Gürtel als Banner … das ist wirklich seltsam, findest du<br />

nicht?“<br />

„Ja - oh, bei solchen Leuten darf man sich über nichts wundern,<br />

selbst über die komischsten Sachen nicht! Er wollte eine Fahne<br />

ans Fenster hängen, aber das war zu teuer, um eine zu kaufen,<br />

also hat er sie durch einen alten Gürtel ersetzt“, schlussfolgert<br />

Billy mit einem Lachen.<br />

Während sie immer noch plauderten, haben die beiden Jungen<br />

den Rückweg eingeschlagen; langsam legt sich die Nacht über<br />

den See, der einschläft. Sie erreichen die Türmchenvilla zur<br />

gleichen Zeit, als der Schatten unter den Gartenbäumen<br />

durchdringt, der Mond hinter den Bergen aufgeht und die Sterne<br />

im Himmel zu leuchten beginnen.<br />

„Wir werden gut schlafen“, sagt Billy gähnend und mit halb<br />

geschlossenen Augen.<br />

„Das ohne <strong>Zwei</strong>fel“, antwortet Hugo, „aber ich freue mich auf<br />

morgen, um unsere Suche fortzusetzen. Sie ist aufregend und<br />

ich hoffe, wir erreichen noch bessere Entdeckungen als heute.“<br />

„Ganz gewiss. Wenn wir den ganzen Tag gut aufpassen, werden<br />

wir Floria vielleicht sehen; heute Abend war sie schon im Bett,<br />

weil sie ein kleines Mädchen ist.“<br />

31


Paulette<br />

„Du gehst zuerst hinein und du bist es auch, der redet“, sagt<br />

Hugo zu seinem Bruder, als sie am nächsten Morgen vor dem<br />

Laden von Herrn Kordes ankommen.<br />

„Sofern Mutter Pick-Pick nicht in den Laden kommt, während wir<br />

hier sind.“<br />

„Warum? Im Gegenteil! Ich würde sie gern sehen, diese<br />

einzigartige Person. Hinter deiner schwarzen Brille hast du<br />

keinen Grund zur Sorge.“<br />

„Also - gehen wir?“<br />

Fest entschlossen drückt Billy den Türgriff und betritt den Laden.<br />

Der junge Mann erkennt sofort die gute Figur des<br />

Ladenbesitzers. Er ist gerade dabei, Waren in einem Gestell<br />

einzuordnen, und dreht sich um, als die Kinder eintreten.<br />

Billy hebt die Brille lässig und sagt: „Guten Tag, Herr Kordes!“<br />

Der Ladenbesitzer schaut ihn liebenswürdig, aber auch<br />

überrascht an und antwortet: „Guten Tag, ihr jungen Leute!<br />

Womit kann ich euch dienen?“<br />

„Erkennen Sie mich nicht?“, sagt Billy lachend.<br />

Ein neuer erstaunter Blick des Ladenbesitzers.<br />

Und der große Junge setzt fort: „Ich bin im letzten Jahr zu Ihnen<br />

gekommen, gerade in den Ferien. Ich suchte Arbeit - und gerade<br />

dann kam Frau Gerber in den Laden und stellte mich ein, um ihre<br />

Hausangestellte zu ersetzen!“<br />

„Ah ja! … ich erinnere mich daran … ich erinnere mich daran.<br />

Aber ich glaube, du bist nicht lange geblieben … du warst bei ihr<br />

nicht glücklich …“<br />

„Ich bin Ihrem Rat gefolgt und bei der ersten Gelegenheit<br />

32


abgehauen. Ich habe es nicht gewagt, hierher zurückzukehren,<br />

um Ihnen das zu sagen. Ich hatte zu viel Angst, dass sie mich<br />

erwischt und wieder zum alten Platz zurückbringt …“<br />

„Ich verstehe, ich verstehe … du hast es gut gemacht. Und jetzt<br />

suchst du wieder eine Arbeit?“<br />

„Oh nein, zum Glück nicht! Ich bin in den Ferien bei meinem<br />

Onkel in Dorleben und bin mit meinem Bruder schnell auf einen<br />

Sprung vorbeigekommen. Ich wollte Ihnen guten Tag sagen.“<br />

„Das ist sehr freundlich von dir.“<br />

„Ich hatte ebenfalls Lust, zu wissen, wie es meinen vortrefflichen<br />

ehemaligen Vorgesetzten geht“, ergänzt Billy, indem er das Wort<br />

„vortrefflich“ mit einem verächtlichen Schmollmund besonders<br />

betont, „sind sie nicht einmal zufällig vorbeigekommen, um das<br />

Hemd zu verkaufen, das sie aus meinem Brotbeutel entwendet<br />

haben, ohne mich um Erlaubnis zu fragen?“<br />

„Nein“, antwortet Herr Kordes lachend, „ich bin nicht überrascht,<br />

dass du mir das hier erzählst. Ich hatte dich ja gewarnt.“<br />

„Jaja, ich erinnere mich, und ich habe für Sie viel Anerkennung<br />

für die Ratschläge aufbewahrt, die Sie mir gegeben haben.“<br />

Dann fragt er weiter: „Haben sie immer noch eine<br />

Hausangestellte?“<br />

„Nein, gegenwärtig sind sie allein. Es ist Frau Gerber, welche die<br />

Einkäufe besorgt.“<br />

„Ist sonst niemand anders bei ihnen im Haus?“, bohrt Billy weiter.<br />

„Nein, seit zwei Wochen sind es nur noch diese beiden. Sie<br />

würden gern Zimmer vermieten, aber ihr Empfang ist halt wenig<br />

herzlich. Die Leute kommen schauen und gehen wieder, ohne<br />

sich zu entscheiden … sie haben in diesem Sommer zwar<br />

wenige Mieter gehabt, aber die Alte ließ sie arbeiten, und<br />

trotzdem haben sie eine teure Miete bezahlt. So ist niemand<br />

lange geblieben.“<br />

33


Hugo, der den Mund bis jetzt nicht geöffnet hat, scheint sich<br />

daran festzusaugen, die Waren auf den Gestellen anzuschauen.<br />

Man könnte glauben, er hört das Gespräch überhaupt nicht - und<br />

trotzdem folgt er jedem Satz.<br />

Als er sich schließlich für eine Tafel Schokolade auf den<br />

Gestellen entschließt, legt er sie auf die Tresen und fragt: „Wie<br />

viel schulde ich Ihnen?“<br />

„Ein Franken“, antwortet der Ladenbesitzer.<br />

Hugo bezahlt und zeigt an, dass er gehen will, und erklärt: „Die<br />

Seeluft macht mich hungrig, wir werden sie draußen unterwegs<br />

essen.“<br />

Billy ist zwar einverstanden, doch er scheint ein wenig zerstreut<br />

und wenig entschlossen, den Laden zu verlassen.<br />

Das Ergebnis seiner Nachforschungen enttäuscht ihn - gibt es<br />

nicht doch mehr zu erfahren?<br />

Doch dann durchfährt ihn der Gedanke, dass Frau Pick-Pick<br />

plötzlich den Laden betreten könnte. So beeilt er sich, um von<br />

hier wegzukommen, und folgt ohne zu zögern seinem Bruder,<br />

indem er sagt: „Auf Wiedersehen, Herr Kordes! Wir sehen uns<br />

an einem der nächsten Tage vielleicht wieder.“<br />

Und sie verlassen beide den Laden.<br />

Auf dem Dorfplatz fragt Hugo: „Von welcher Ecke aus gehen wir<br />

denn?“<br />

„Ich meine, wir sollten auf diesem kleinen Weg hinaufgehen, der<br />

uns bis ganz oben am Dorf hinführt. Das wird ein sehr guter<br />

Beobachtungsposten sein. Dort oben können wir schwatzen und<br />

Pläne schmieden, ohne dass man uns bemerkt. Aber die<br />

Sachlage scheint etwas verdorben zu sein …“<br />

„Völlig verdreht“, antwortet Hugo im gleichen enttäuschten Ton,<br />

„wir verlieren unsere Zeit, indem wir uns in der Sonne für nichts<br />

34


aten lassen.“<br />

Sie steigen den Weg hinauf, der an Mauern entlangführt, und<br />

erreichen ein kleines Vorgebirge, welches das ganze Land<br />

überragt. Die Aussicht ist herrlich und das Dorf, das gegen den<br />

Berg eingeschlossen ist, scheint vor ihren Füssen zu liegen. Das<br />

Haus von Herrn Gerber erhebt sich gut sichtbar nahe von ihnen.<br />

„Bleiben wir bis zum Mittag hier!“, schlägt Hugo vor, „wir<br />

beobachten die Straßen und das Kommen der Einwohner.“<br />

„Da sie allein sind, wie Herr Kordes es sagt, ist es leicht<br />

verständlich, dass dieser Brief, der mit 'Floria‘ unterzeichnet ist,<br />

nur ein Hinterhalt ist, da bin ich sicher. Sie wollen uns zu sich<br />

locken und dann …“<br />

„Und dann?“<br />

„Ich weiß es nicht, auf jeden Fall nichts Gutes. Dagegen habe ich<br />

keinen <strong>Zwei</strong>fel daran, dass deine Schokoladentafel gut zu essen<br />

wäre! Hast du nicht gesagt, du habest Hunger?“<br />

„Das ist wahr, ich habe es vergessen.“<br />

Und Hugo packt seinen Einkauf aus.<br />

„Ich liebe auch Schokolade“, sagt plötzlich eine kleine<br />

Silberstimme hinter der Bank, auf der sie sitzen.<br />

Die beiden Jungen springen auf und drehen sich erstaunt um.<br />

Wer spricht denn da mit ihnen?<br />

Sie haben geglaubt, sie seien allein, und haben frei geplaudert,<br />

ohne daran zu denken, dass man sie hören könnte!<br />

Ein kleines Mädchen mit schwarzen und schalkhaften Augen,<br />

einer Stupsnase und einem Lächeln im Mund schaut sie<br />

neugierig an.<br />

„Was tust du hier?“, fragt Hugo, „wir haben dich nicht gesehen.“<br />

„Ich spaziere hier“, antwortet das kleine Mädchen in einem<br />

35


singenden Ton, während seine Augen auf die Tafel Schokolade<br />

gerichtet sind, die in der Sonne langsam schmelzt.<br />

„Lass sie nicht warten, Hugo!“, sagt jetzt Billy, der sich beeilt, die<br />

kleine Feinschmeckerin zufriedenzustellen, „du hast kein Mitleid!<br />

Gib ihr also ein großes Stück!“<br />

„Aber nicht, bevor du mir gesagt hast, wie du heißt, wie alt du bist<br />

und wo du wohnst“, entgegnet Hugo darauf, während er sie<br />

aufdringlich mit neckischem Blick anschaut.<br />

Das Mädchen beeilt sich, um zu antworten: „Ich heiße Paulette<br />

Mascoli und mein Haus ist hier, wie du siehst, im Dorf. Ich bin<br />

sechs geworden, ich gehe zur Schule … aber heute sind Ferien.“<br />

Und ihre flehenden Augen richten sich erneut nach dem<br />

köstlichen Genuss.<br />

„Da nimm!“, sagt Hugo anerkennend, „du hast gut geantwortet,<br />

du verdienst eine Belohnung.“<br />

Und er hält dem Kind ein Stück Schokolade hin. Mit strahlenden<br />

Augen sagt sie: „Danke! Du bist netter als mein Bruder. Und du<br />

- wie heißt du?“¨<br />

„Hugo und mein Bruder Billy.“<br />

Das kleine Mädchen wiederholt: „Du Hugo und … er Billy!“<br />

Die beiden Jungen schauen sich verständnisvoll an und der<br />

ältere beeilt sich, um Paulette zu fragen: „Wohnst du etwa bei<br />

Herrn Gerber?“<br />

„Er ist bös“, sagt das Mädchen mit ernstem Gesicht und ohne auf<br />

die gestellte Frage einzugehen, „ich würde nicht wollen, dass er<br />

mein Papa ist … er ist nett, mein Papa, er hat keine so laute<br />

Stimme wie Herr Gerber.“<br />

„Wie meinst du, dass er bös ist?“, setzt Hugo ein.<br />

„Er schimpft immer mit den Kindern: Wir dürfen nicht schreien,<br />

wir dürfen nicht im Garten laufen, wir dürfen keine Früchte essen,<br />

36


wir dürfen nicht singen. So ist das Leben nicht lustig!“<br />

Und sie beginnt zu lachen …<br />

„Bist du schon in seinem Haus gewesen?“, fragt Billy.<br />

„Nein, nicht oft … nur einmal mit der kleinen Tochter.“<br />

„Welche kleine Tochter?“<br />

„Die kleine Französin, die so redete.“<br />

Und Paulette formt einen spitzen Mund und sagt mit gestellter<br />

Stimme: „Mutti, heute nehmen wir ein Bad!“<br />

Nochmals stimmt sie in lautes Lachen ein.<br />

„Hat es bei Herrn Gerber eine Französin?“, fragt Hugo erstaunt<br />

und durchaus interessiert an den Enthüllungen des Kindes.<br />

„Kennst du ihren Namen?“, fügt Billy sofort hinzu.<br />

„Flora heißt sie, weil sie einer Blume gleicht …“<br />

Hugo und Billy tauschen einen bedeutungsvollen Blick aus.<br />

„Und man sagt ihr auch Floria, denke ich“, setzt der ältere mit<br />

gefühlvoller Stimme nach.<br />

„Ja, manchmal … aber mir gefällt Flora besser, das ist hübscher.“<br />

„Vergnügst du dich mit ihr?“, fährt Hugo fort - begierig, noch mehr<br />

zu erfahren.<br />

„Ja - als wir zur Schule gingen, vergnügten wir uns sehr. Jetzt …<br />

das ist schade, sie ist nicht mehr hier und ich spiele nicht gern<br />

mit meinem Bruder, er quatscht mich immer voll. Jetzt gehe ich<br />

aber spazieren … auf Wiedersehen, Jungs!“<br />

Das kleine Mädchen dreht ihnen mit entschiedener Geste den<br />

Rücken zu und schickt sich zum Gehen an, aber Hugo ruft ihr<br />

lebhaft zu: „Paulette! Warte noch! Ich gebe dir nochmals<br />

Schokolade!“<br />

37


Das Kind zögert nicht und kommt zurück, während der junge<br />

Mann sich beeilt, um zu fragen: „Und weißt du, wohin Flora<br />

gegangen ist?“<br />

„Nein … oh! Weit weg, nach Frankreich. Ihre Mama ist mit dem<br />

Auto gefahren, weil sie krank war.“<br />

Paulette macht ein ernstes Gesicht und fügt hinzu: „Flora weinte<br />

die ganze Zeit … sie war traurig, weil ihre Mama vielleicht<br />

sterben würde.“<br />

„Und ist sie gestorben?“, fragt Billy.<br />

„Vielleicht … ich weiß nicht … sie war ganz bleich, fast wie meine<br />

Schürze.“<br />

„Ist Flora mit ihr im Auto weggefahren?“, setzt Billy fieberhaft fort.<br />

„Nein … sie weinte, weil sie ebenfalls im Auto mitfahren wollte …<br />

aber der grobe Herr mit seinen dunklen Gewohnheiten sagte:<br />

‚Nein, Flora, heute nicht!‘ Dann weinte sie so laut, so laut! Meine<br />

Mutti hörte sie und kam, um sie zu trösten, und sagte ihr, sie<br />

würde ihr meine Puppe leihen, und man würde ihr schöne<br />

Kuchen backen … und sie hat nicht mehr geweint …“<br />

In diesem Augenblick ist ein Ruf zu hören, der vom Dorf aufsteigt:<br />

„Paulette! … Paulette!“<br />

Das kleine Mädchen dreht sich sofort um und sagt: „Oh, das ist<br />

meine Mutti, die mich ruft!“<br />

Sie steigt auf die Mauer und ruft so laut, wie ihre kleine Stimme<br />

es ihr erlaubt: „Jaa … jaa!“<br />

Und ohne noch einen seitlichen Blick auf die beiden Jungen zu<br />

werfen, stürzt sie sich den Abhang hinunter, so beweglich wie ein<br />

Ziegenhirt.<br />

Mit Bedauern sehen die jungen Leute, wie sie sich entfernt. Was<br />

sollen sie von all dem denken, was sie soeben erfahren haben?<br />

38


Schweigend und niedergeschlagen bleiben sie am Ort, untätig<br />

und mutlos.<br />

Hugo unterbricht die Stille als Erster: „Ich glaube, wir verlieren<br />

unsere Zeit, wenn wir hierbleiben und uns vor der ‚Hütte‘ des<br />

alten Gerber umschauen … das Abenteuer ist vorbei, wirklich<br />

vorbei … sprechen wir nicht mehr davon und gehen wir baden!<br />

… dieser Einfaltspinsel von Floria ist weggegangen, ohne unsere<br />

Hilfe abzuwarten, und wir werden sie auf den Straßen in<br />

Frankreich leichter finden als hier. Übrigens ist es offensichtlich,<br />

wäre sie noch bei den Gerbers, hätten wir sie schon im Garten<br />

gesehen. Warum habe ich nicht daran gedacht, bevor Paulette<br />

uns das erzählt hat?“<br />

Billy scheint nachzudenken; er seufzt und beendet plötzlich sein<br />

Stummsein: „Eine sichere Sache, ein klarer Punkt ist dies: Floria<br />

ist weder ein Mythos noch ein Hinterhalt, aber sehr wohl ein<br />

kleines Mädchen, das aus Fleisch und Blut existiert.“<br />

„Ich bin mit dir einverstanden, aber da sie jetzt nach Frankreich<br />

verreist ist …“, sagt Hugo schmollend.<br />

Und er fügt seufzend hinzu: „Das ist schade! Das Abenteuer<br />

hatte Charme und ich hätte es gern fortgesetzt.“<br />

„Steigen wir wieder hinunter?“, fragt Billy mit Bedauern.<br />

„Kehren wir nach Dorleben zurück und schauen wir, ob dein<br />

Onkel Moritz wieder da ist!“<br />

Die beiden Jungen verlassen ihre Bank und nähern sich der<br />

Mauer, um einen letzten Blick auf die Aussicht zu werfen.<br />

„Ein Schornsteinfeger auf dem Dach von Mutter Pick-Pick!“,<br />

sagt Hugo.<br />

„Der obere Einstieg ist offen, dort ist er aufgestiegen“, bemerkt<br />

Billy.<br />

„Komm! … Ich habe es satt, in der Sonne gebraten zu werden!“<br />

39


Und halbherzig schlagen die beiden Jungen den Rückweg ein.<br />

Sie singt!<br />

In der Türmchenvilla wartet eine weitere Enttäuschung. Anni sagt<br />

ihnen: „Es ist gerade ein Telegramm von Herrn Dubeler<br />

gekommen. Er musste seine Rückkehr hinausschieben und<br />

kommt erst morgen!“<br />

Die beiden Jungen scheinen sehr enttäuscht zu sein.<br />

Billy seufzt: „Ich habe nur noch einen Wunsch: Nach Hause<br />

zurückzukehren - und unterwegs werfe ich den Brief von Floria<br />

in den Wind!“<br />

„Aber nein, eine gute Idee!“, ruft Hugo, „nützen wir die<br />

Abwesenheit deines Onkels aus und gehen wir nach Monterau,<br />

um Stefan zu sehen!“<br />

„Genau! Bitten wir Anni, ein Picknick vorzubereiten, und gehen<br />

wir unverzüglich!“<br />

Und Billy - plötzlich beruhigt - eilt zum Gemüsegarten, wo er<br />

gesehen hat, dass die Hausangestellte hingegangen ist.<br />

„Anni!“, ruft er aus Leibeskräften, „wir gehen heute nach<br />

Monterau!“<br />

Und er fügt hinzu, indem er sich ihr nähert: „Zu einem Freund;<br />

wir gehen mit dem Fahrrad, wir werden dort übernachten und<br />

morgen am Vormittag zurückkehren, da Onkel Moritz heute ja<br />

nicht mehr kommt. Sie wären nett, wenn Sie unseren Rucksack<br />

mit Esswaren füllen würden.“<br />

„Aber sicher!“, erwidert die Angestellte, die sehr zufrieden ist,<br />

dass die beiden Jungen einen Weg zur Ablenkung gefunden<br />

40


haben. Sie beeilt sich, um in der Küche ihrem Wunsch<br />

nachzukommen.<br />

Eine Viertelstunde später sind sie schon unterwegs und fahren<br />

in der Richtung des Dorfes, wo die Familie Dohme wohnt. Aber<br />

zuerst müssen sie noch das Dorf durchqueren, wo Herr Gerber<br />

wohnt!<br />

„Nehmen wir den oberen Weg, fahren wir nochmals vor dem<br />

Haus des alten Geizhalses vorbei!“, sagt Billy, „ich spüre ein<br />

wahrhaftiges ‚Jucken‘, ihn wieder zu sehen. Man muss jede<br />

Gelegenheit ausnützen.“<br />

Dann fügt er schmunzelnd hinzu: „Ob wir wohl mit der Glocke<br />

läuten, nur um ihn zu langweilen?“<br />

„Warum nicht?“, erwidert Hugo belustigt, „wir sagen ihm ‚guten<br />

Tag‘ mit einer großen Begrüßung und dann hauen wir sofort ab.<br />

Mit unseren Fahrrädern geht das schnell.“<br />

„Nein, ich frage ihn, was mit meiner Bibel und mit meinem Hemd<br />

geworden ist! ...“<br />

„Halt dich fest! Was ist das auf dem Dach von Mutter Pick-Pick?<br />

Siehst du diesen weißen Flecken? Er war noch nicht dort und<br />

kam plötzlich, als wir kurz zum Vorgebirge schauten.“<br />

Billy hebt den Kopf und sagt: „Ich würde sagen, es ist ein Papier<br />

oder ein Umschlag …“<br />

„Genau unter der Lucke.“<br />

„Da gibt es keinen <strong>Zwei</strong>fel. Der Schornsteinfeger ist dort<br />

durchgeschlüpft, da wird wohl er dieses Papier verloren haben.“<br />

„Du hast Recht.“<br />

„Und wenn es ein wichtiges Papier ist?“, bemerkt Billy, „der arme<br />

Mann wird es überall suchen, außer auf dem Dach von Vater<br />

Gerber.“<br />

41


„Das ist die gute Gelegenheit, um die Glocke zu läuten und es<br />

dem Alten zu sagen!“<br />

„Vielen Dank! Ich ziehe es vor, dem Schornsteinfeger im Dorf<br />

nachzulaufen - soll er sich dann weiter um sein Papier kümmern!<br />

Die Mutter Pick-Pick könnte noch glauben, wir rauben ihr Haus<br />

aus, wenn wir eintreten wollen.“<br />

„Gehen wir also dem Schornsteinfeger hinterher!“<br />

„Ja, aber die Zeit fliegt, und wir kommen auf dem Weg kaum<br />

voran.“<br />

„Umso schlimmer! Wir werden schneller pedalen, um die<br />

verlorene Zeit wieder aufzuholen.“<br />

Und die beiden Jungen kehren auf halbem Weg zurück, während<br />

sie auf die Dächer schauen.<br />

Ist der Schornsteinfeger wohl dort? Auf welchem Haus arbeitet<br />

er?<br />

Da taucht bei einer Straßenecke ein schwarzer Schatten auf, der<br />

langsam den Weg hinaufgeht, seine Leiter im Arm.<br />

„Da ist er ja!“, ruft Hugo zufrieden.<br />

Und er beeilt sich, um dem Ankommenden zu sagen: „Mein Herr!<br />

Ich glaube, Sie haben etwas verloren, auf dem Haus von Herrn<br />

Gerber.“<br />

Der Mann wirft einen Blick auf die Utensilien auf seinem Arm und<br />

hebt seinen Kopf, während Hugo fortfährt: „Es ist ein Umschlag;<br />

man sieht ihn sehr gut, ganz dicht beim Dachfenster, wo Sie<br />

ausgestiegen sind.“<br />

Der Schornsteinfeger schüttelt den Kopf und ein Lächeln lässt<br />

seine weißen Zähne aufblitzen. Er antwortet: „Ich bin es nicht,<br />

der diesen Umschlag verloren hat - aber trotzdem Danke!“<br />

„Also … wer ist es denn?“ fragt Billy erstaunt, „außer uns ist<br />

42


niemand auf das Dach gegangen!“<br />

„Davon weiß ich nichts“, fügt der Mann gleichgültig hinzu, „es<br />

wird wohl der Alte sein, oder seine Frau oder das Mädchen, das<br />

sie haben fallen lassen. Ich habe keine Zeit, um mich damit zu<br />

befassen …“<br />

Und er geht weg.<br />

Die beiden Jungen springen hinter ihm her und schreien<br />

gleichzeitig: „Welches Mädchen?“<br />

„Ach, die Kleine, die bei ihnen ist! Ich weiß nicht, ob sie die<br />

Großeltern sind; ich kenne diese Leute nicht.“<br />

Und er geht weiter.<br />

Hugo hält ihn an und ergreift ihn am Arm, ohne Furcht, dass er<br />

seine Hände schwärzen könnte, und setzt lebhaft fort: „Hat es<br />

ein Kind in diesem Haus? Wie wissen Sie das? Haben Sie es<br />

gesehen?“<br />

Billy wirft einen dunklen Blick auf seinen Bruder, einen Blick, mit<br />

dem er zu sagen scheint: „Da schau her! Beherrsche dich<br />

besser! Du wirst uns verraten …“<br />

Der Mann will sich abwenden. All diese Fragen beginnen, ihn zu<br />

langweilen, und er sieht keine Gelegenheit, um zu entwischen.<br />

So antwortet er mit einer vagen Handbewegung: „Ich habe sie<br />

singen hören … das ist alles, was ich euch sagen kann. Auf<br />

Wiedersehen.“<br />

Und er geht mit entschlossenen Schritten weg. Seine Arbeit<br />

wartet auf ihn, er kann sich hier nicht länger aufhalten.<br />

Die beiden Jungen scheinen in der Sonne festzukleben, sie<br />

bewegen sich nicht. Sie schauen sich verärgert an …<br />

Hugo öffnet als Erster den Mund und murmelt: „Gehen wir nicht<br />

zu Stefan! … bleiben wir hier! … sie ist hier und nicht in<br />

Frankreich, da bin ich mir sicher …“<br />

43


„Er hat sie singen gehört“, sagt darauf Billy mit fast neidischem<br />

Blick.<br />

„Sie ist also nicht abgereist.“<br />

„Und sie wartet immer noch auf unsere Hilfe! Oh Hugo, wie<br />

machen wir das nur? Wie gehen wir vor, um sie von dort<br />

herauszuholen?“<br />

„Glaube nicht, sie sei so unglücklich, wenn sie schon singt!“<br />

„Umso besser!“, erwidert Billy ein wenig erleichtert.<br />

„Es drängt uns nichts, um zur Türmchenvilla zurückzukehren,<br />

weil Anni ja glaubt, wir seien bis morgen verreist. Komm, lassen<br />

wir also unsere Fahrräder im Dorf und kehren zu unserem<br />

Beobachtungsposten zurück!“, schlägt Hugo vor.<br />

Die Idee gefällt Billy und er schließt sich dem Wunsch seines<br />

Bruders an.<br />

Fünf Minuten später haben sie die Holzbank wieder gefunden,<br />

von der aus das ganze Vorgebirge, welches das Dorf überragt,<br />

gesehen werden kann.<br />

„Einer der Sonnenschirme im Garten würde uns hier guttun“, sagt<br />

Billy, „die Sonne brennt fürchterlich.“<br />

„Willst du, dass ich vom Dachboden der Mutter Pick-Pick einen<br />

Schirm hole, um dir ein bisschen Schatten zu geben?“, fragt<br />

Hugo neckisch, „hast du etwa Angst, dein Gesicht zu<br />

schädigen?“<br />

„Ich würde es vorziehen, wenn du Eis holst“, antwortet Billy.<br />

„Wo denn?“<br />

„Aber … sieh mal an! Bei Herrn Kordes! Er ist doch so<br />

zuvorkommend und freundlich!“<br />

„Da schau, der weiße Flecken ist immer noch auf dem Dach!“,<br />

bemerkt Hugo.<br />

44


„Die Tür öffnet sich! Es ist der Alte, ich erkenne ihn“, seufzt Billy.<br />

„Oh je!“, ruft Hugo mit voller Lunge.<br />

Und er fügt hinzu: „Wird er wohl den Kopf heben? Nein!“<br />

Er ruft noch lauter: „Oh je!“<br />

„Er hat uns gesehen“, sagt Billy, während er sich auf der Bank<br />

hinlegt, um den Blicken des Alten zu entwischen, der den Kopf<br />

in Richtung der beiden Jungen erhebt. Dann fährt er gereizt fort:<br />

„Das ist leichtsinnig, was du dort tust. Wenn du so weitermachst,<br />

wird es für uns unmöglich sein, uns dem Haus zu nähern.“<br />

„Er hat keine guten Augen“, meint Hugo verächtlich, „du siehst<br />

ja, er geht in den Garten, ohne sich wegen uns zu sorgen.“<br />

Die Zeit vergeht … der Schatten von Herrn Gerber taucht wieder<br />

auf. Er geht ins Haus zurück und die Tür schließt sich wieder.<br />

„Und Floria?“, ruft Hugo enttäuscht, „was macht sie? Man sieht<br />

sie nicht im Garten.“<br />

„Da Paulette sie nicht wieder gesehen hat und immer noch<br />

glaubt, sie sei abgereist, ist das der Beweis dafür, dass sie sie<br />

nicht hinauslassen und sie wie in einem Kloster gefangen<br />

halten.“<br />

„Sofern der Schornsteinfeger sich nicht täuscht“, erwidert Hugo<br />

mit leichtem Lachen, „er hat vielleicht die Katze miauen gehört<br />

und geglaubt, es sei ein Kind, das sang.“<br />

„Übrigens“, sagt jetzt Billy, der seiner Idee weiter nachgeht,<br />

„Paulette hat uns nicht bestätigt, dass sie gesehen hat, wie sie<br />

abgereist ist … sie ist auch nicht mit ihrer Mutter ins Auto<br />

gestiegen.“<br />

Während sie schwatzen, erklingen von der großen Kirchenuhr<br />

zwölf Schläge, die sich in der Luft verlieren. Ein neues<br />

Schweigen von mehreren Augenblicken und die Glocke klirrt<br />

wieder und unterbricht so die Stille des Dorfes.<br />

45


„Schon zwölf Uhr?“, fragt Billy erstaunt und sagt dann:<br />

„Picknicken wir also hier, da geht es uns gut! Und nachher …<br />

steigen wir wieder hinunter. Wir erreichen nicht mehr viel, wir<br />

müssen die Rückkehr von Onkel Moritz abwarten.“<br />

Sie packen ihre Esswaren auf dem Gras aus und verzehren mit<br />

Genuss die Lebensmittel, die Anni für sie eingepackt hat.<br />

Trotzdem würde Hugo gern bald gehen, es hält ihn hier nicht<br />

länger.<br />

„Wir verlieren unsere Zeit“, sagt er, „nichts bewegt sich, nichts<br />

lässt sich sehen … das nervt.“<br />

„Wir wären besser nach Monterau gegangen!“<br />

„Hör zu, Billy!“, „wenn du es willst, werde ich rund herum fahren.<br />

Vielleicht bekomme ich so die Chance, sie wie der<br />

Schornsteinfeger singen zu hören.“<br />

„Völlig einverstanden“, antwortet der ältere, „in dieser Zeit<br />

versorge ich die Esswaren im Brotbeutel und nachher mache ich<br />

eine kleine Siesta.“<br />

„Also, dann los!“<br />

Hugo erhebt sich und geht in Richtung Dorf.<br />

„Sei vorsichtig!“, ruft Billy ihm nach, während dieser hinter der<br />

Wegsteigung verschwindet.<br />

Nachdem er die Esswaren im Brotbeutel verstaut hat, legt sich<br />

Billy auf das Gras, und während er seine Blicke ins satte Blau<br />

des Himmels taucht, hört er dem Lärm der Natur zu.<br />

Plötzlich schreckt er zurück: Schritte schwingen auf den Steinen<br />

… ein Bauer geht vorbei. Er setzt seinen Weg fort, ohne das Kind<br />

zu bemerken, das auf dem Gras liegt.<br />

Der Lärm verzieht sich, die Stille bedeckt von neuem die<br />

Atmosphäre, und Billy nickt ein.<br />

46


Als Hugo zurückkehrt, öffnet er seine schläfrigen Augen und<br />

fragt: „Was gibt es Neues? Welche sensationelle Nachricht<br />

bringst du?“<br />

„Nichts, absolut nichts“, antwortet der jüngere müde, „ich habe<br />

die ‚Hüttentour‘ mehrmals gemacht, ohne etwas zu hören und<br />

ohne jemanden wahrzunehmen. Mein Ehrenwort … sie schlafen<br />

alle in diesem Schloss!“<br />

„Und trotzdem ist die ‚Schönheit‘ dort!“, entgegnet Billy.<br />

„Ah, da öffnet sich die Tür! Sie sind endlich aufgewacht. Sie<br />

kommen heraus …“<br />

„Beide!“, fügt Billy hinzu.<br />

„Sie schließen mit dem Schlüssel, also gehen sie weg“,<br />

schlussfolgert Hugo sehr aufgeregt, „und Floria? Sie lassen sie<br />

zu Hause!“<br />

„Sie gehen zu ihrem Gemüsegarten. Vater Gerber hat seine<br />

Kapuze genommen und sie ihren Korb.“<br />

„Perfekt!“, erwidert Hugo, „Wenn sie außer Sicht sind … steigen<br />

wir hinunter!“<br />

„Um was zu machen?“<br />

„Um Floria zu rufen! Sie wird zum Garten kommen und wir<br />

werden sie schnell mitnehmen …“<br />

„Soso! … und wie du hingehst! … das ist doch zu einfach und zu<br />

leicht … das wird nicht gelingen. Wenn sie im Haus ist, haben<br />

sie sie eingeschlossen, ohne jeden <strong>Zwei</strong>fel.“<br />

„Was für eine Idee! Warum wäre sie eingeschlossen? Komm,<br />

gehen wir! Sie sind schon unten am Weg, wir sehen sie nicht<br />

mehr so bald“, sagt Hugo, der ungeduldig wird.<br />

„Warte noch einen Augenblick!“, entgegnet sein Bruder, der es<br />

weniger eilig hat, „falls sie etwas vergessen hätten und nochmals<br />

47


zurückkommen würden …“<br />

„Aber nein! Du wirst schon sehen …“<br />

Und Hugo verlässt den Platz, auf dem er gerade steht, und geht<br />

auf der Seite des Weges, der zum Dorf hinunterführt.<br />

Billy ruft ihn zurück: „Hugo! Hugo! Schau!“<br />

Der jüngere gehorcht seinem älteren Bruder und kehrt auf dem<br />

gleichen Weg zurück, und während er seine Augen auf Herrn<br />

Gerbers Haus richtet, ruft er aus: „Der Stock und der Gürtel …<br />

wie gestern Abend!“<br />

„Im gleichen Dachfenster“, sagt Billy verärgert.<br />

„Das Dachfenster des Schornsteinfegers und das weiße Papier“,<br />

setzt Hugo nicht weniger erstaunt fort, dann sagt er: „Ich muss<br />

mich hinsetzen, das schneidet mir die Beine ab!“<br />

„Es ist also nicht der alte Geizhals, der dieses Stangenbrot als<br />

Fahne benützt, weil jetzt ja beide ausgegangen sind!“, ruft er kurz<br />

darauf überzeugt aus, „du siehst ja, dieser rote Stock, das kann<br />

nicht wegdiskutiert werden!“<br />

„Also, wer anders ist es als Floria? …“<br />

„Gehen wir sie schnell befreien!“, schlussfolgert Hugo.<br />

„Da haben wir den Beweis dafür, dass sie eingeschlossen ist und<br />

nicht zum Garten hinausgehen kann …“<br />

Aber Hugo hört nicht auf seinen Bruder; er stürzt den schmalen<br />

Weg so schnell hinunter, wie seine Beine ihm es erlauben. Billy<br />

folgt ihm …<br />

Völlig außer Atem kommen sie vor Herrn Gerbers Haus an.<br />

In diesem Augenblick nähert sich ein Auto; es hält vor den beiden<br />

Jungen an und der Fahrer fragt sie: „Könntet ihr mir bitte sagen,<br />

wo Herr Gerber wohnt?“<br />

„Das ist hier“, antwortet Billy, während er auf das Haus zeigt,<br />

48


„aber ich glaube, sie sind jetzt nicht hier; ich habe gesehen, wie<br />

sie ausgegangen sind.“<br />

„Wie schade!“, sagt eine Dame im Wagen.<br />

„Wisst ihr nicht, wo wir sie erreichen könnten?“, fragt nochmals<br />

der Fahrer.<br />

„Ich glaube, sie sind zu ihrem Gemüsegarten gegangen; es ist<br />

nicht weit, direkt auf dem Weg …“<br />

„Wenn es nicht weit ist … wäret ihr so liebenswürdig, um ins Auto<br />

zu steigen und uns hinzuführen?“, schlägt die Dame auf dem<br />

Hintersitz vor.<br />

Billy wirft einen verzweifelten Blick zur Seite seines Bruders, der<br />

ohne zu zögern antwortet: „Wir bedauern, dass wir Ihnen diesen<br />

Dienst nicht anbieten können! Wir müssen gerade verreisen …<br />

Sie werden sicher jemanden im Dorf finden, der das tun kann.“<br />

Die Reisenden danken und fahren weiter, während sich die<br />

beiden Jungen wortlos und mit großen Schritten zum Platz<br />

begeben, wo sie ihre Fahrräder gelassen haben. Sie ergreifen<br />

sie, steigen auf und fahren die Straße hinunter, die zur<br />

Hauptstraße hinführt, und pedalen schnell in Richtung der<br />

Türmchenvilla.<br />

„Danke, Hugo!“<br />

Das ist das erste Wort, das Billy ausspricht. Und er fügt hinzu:<br />

„Du hast mich von einem schlechten Schritt abgehalten. Ich<br />

wusste nicht, wie ich da herauskommen konnte. Du hast<br />

gesehen, wie ich schon dabei war, sie zu Mutter Pick-Pick zu<br />

führen, und mich direkt vor ihr von Angesicht zu Angesicht zu<br />

finden.“<br />

„Nimm zur Kenntnis, dass es wirklich keine Lüge war! Wir<br />

mussten verreisen; es gab keine andere Lösung, um abzuhauen<br />

…“<br />

49


„Und Floria?“, stöhnt Billy, „sie wartet immer noch auf unsere<br />

Hilfe.“<br />

„Ich habe den Eindruck, dass die Leute in diesem Auto extra<br />

vorbeigekommen sind, um sie abzuholen, und so ist unsere<br />

Mission erfüllt.“<br />

„Glaubst du?“, seufzt der ältere, „so werden wir sie nicht kennen<br />

lernen!“<br />

50


Sie ist blond!<br />

Schweigend fahren die beiden Jungen in Richtung Dorleben.<br />

„Wir vergessen, dass wir die Absicht hatten, nach Monterau zu<br />

gehen!“, ruft Hugo plötzlich, während er brüsk anhält, „da unsere<br />

Mission erfüllt ist, hindert uns nichts mehr daran, unseren Plan<br />

auszuführen.“<br />

Billy hält ebenfalls und setzt die Füße auf den Boden.<br />

„Ich habe nicht die geringste Lust, mir über den alten Gerber die<br />

Nase zu zerbrechen. Wenn wir auf der Seite nach Monterau<br />

fahren, wird genau das geschehen. In diesem Moment schwatzt<br />

er mit den Leuten im Auto.“<br />

„Also gut! Warten wir hier eine kleine Viertelstunde! Setzen wir<br />

uns hierher … falls du die grelle Sonne nicht fürchtest … für<br />

deinen Teint!“<br />

„Du nervst, Hugo, mit deinen Scherzen. Ich habe heute andere<br />

Sorgen. Ich bin enttäuscht, völlig enttäuscht …“<br />

„Aber sicher! Ich auch … wir werden nie erfahren, ob sie blond<br />

oder braunhaarig ist! Billy! … schau das Auto, das da kommt!<br />

Erkennst du es?“<br />

„Nein.“<br />

„Du Einfaltspinsel! Erkennst du es nicht? Es ist das Auto, das vor<br />

dem Haus der Mutter Pick-Pick angehalten hat; da bin ich mir<br />

sicher.“<br />

„Glaubst du?“<br />

„Ich glaube es nicht … ich weiß es. Verstehst du?“<br />

Das Auto, das von den beiden Jungen bemerkt worden ist, fährt<br />

an ihnen vorbei. Sie folgen ihm mit Blicken und sehen es zu<br />

ihrem Bedauern in der Ferne verschwinden.<br />

51


Mit verträumten und traurigen Augen wendet sich Billy an seinen<br />

Bruder.<br />

„Denkst du, sie war dort drinnen? Ich habe nichts gesehen, es<br />

ging zu schnell.“<br />

„Ich zweifle daran …“<br />

„Wir haben sie gerade verlassen. Warum sind sie so schnell<br />

abgereist?“<br />

„Sind sie bis zum Gemüsegarten gefahren?“<br />

„Dafür haben sie keine Zeit gehabt … sie haben Floria befreit und<br />

haben sich schnell gerettet, ohne die beiden Alten zu warnen“,<br />

schlussfolgert Billy mit Bedauern, „sie haben es besser gewusst<br />

als wir, wie man es macht!“<br />

„Welche Vorstellungen du hast!“, ruft Hugo, „du hast vielleicht<br />

Recht, aber nichts beweist das. Komm! Ändern wir unsere Ideen<br />

und treten wir in die Pedale! Wir haben immer noch Zeit, um nach<br />

Monterau zu fahren, bevor es Nacht wird. Der Weg ist jetzt frei,<br />

da wir ja gesehen haben, dass das Auto weggefahren ist. Und<br />

wenn wir das Ehepaar Gerber treffen sollten, werden wir einfach<br />

geradeaus schauen.“<br />

„Es ist unnötig, durch das Dorf zu fahren; folgen wir der<br />

Hauptstraße!“, sagt Billy, während er sein Fahrrad spreizt.<br />

Diesmal sind sie fest entschlossen, ihren Weg fortzusetzen.<br />

Übrigens freut sich Billy ja darauf, Stefan wiederzusehen. Er wird<br />

darüber die Enttäuschungen dieses erfolglosen Tages<br />

vergessen. Man wird den geheimnisvollen Brief zeigen, man wird<br />

darüber schwatzen und man wird amüsante Mutmaßungen<br />

anstellen, die sie über ihre Enttäuschungen hinwegtrösten<br />

werden.<br />

Allerdings ist noch eine ganze Menge an Kilometern<br />

zurückzulegen, bis sie am Ziel ihrer Reise ankommen. Sie<br />

müssen noch durch das Dorf fahren, das sie soeben überstürzt<br />

52


verlassen haben!<br />

Während sie der Hauptstraße folgen, kommen sie vor der<br />

südlichen Seite des Gerber-Hauses an.<br />

Das Dachfenster, dieses störende Dachfenster, das sie von der<br />

Anhöhe des Vorgebirges beobachtet haben, taucht nochmals vor<br />

ihren Augen auf. Sie werfen einen letzten Blick auf dieses kleine<br />

Fenster, das auf dem Dach versteckt ist und ihre Herzen voller<br />

Hoffnung und auch Verzweiflung schlagen ließ.<br />

„Sie ist nicht mehr dort“, seufzt Billy.<br />

„Wenn das der Fall ist … es ist besser, sich darüber zu freuen,<br />

als zu jammern“, antwortet Hugo philosophisch, „eine Sache ist<br />

sicher, dass der weiße Umschlag immer noch da ist.“<br />

„Stopp!“, schreit Billy, während er brüsk anhält.<br />

„Was gibt es?“<br />

„Ich habe etwas gesehen … ich habe gesehen, wie es sich<br />

bewegt“, sagt der ältere mit verärgertem Gesicht.<br />

„Wo?“<br />

„Dort! Auf dem Dach! Hinter dem Dachfenster!“<br />

„Du hast Visionen!“<br />

„Aber nein! Ich bin mir sicher … schau!“<br />

„Ich sehe nichts davon …“<br />

„Warte einen Augenblick!“<br />

„Ist unsere Ankunft in Monterau etwa für morgen Abend<br />

vorgesehen?“<br />

„Man erwartet uns dort nicht; es ist mir gleich, wenn wir nicht<br />

dorthin gehen.“<br />

„Zum Glück, denn ich zweifle daran, dass wir eines Tages jemals<br />

dorthin gelangen! Ich warte geduldig … aber ich sehe überhaupt<br />

53


nichts kommen!“<br />

„Sprich nicht so laut! Du wirst dich bei den Dorfbewohnern<br />

bemerkbar machen.“<br />

Die beiden Jungen, die beim Randstein angehalten haben,<br />

tauchen verzweifelt ihre Blicke ins schwarze Loch, das auf dem<br />

Dach offen ist.<br />

Tatsächlich! Nichts ist zu sehen.<br />

Alles bleibt bewegungslos, ohne jede Bewegung, ohne Leben.<br />

Nur ein kleiner Vogel, der auf der Dachrinne thront, springt ein<br />

paar Augenblicke weg und kommt dann wieder, lebhaft und<br />

locker.<br />

„Du hast geträumt!“, schlussfolgert Hugo.<br />

Im gleichen Augenblick erhellt sich der schwarze Rahmen des<br />

Dachfensters mit einem weißen Flecken, der lebhaft zappelt.<br />

„Und du denkst, ich träume noch?“, flüstert Billy sehr aufgeregt,<br />

während die weiße Fahne vor ihren Augen in allen Richtungen<br />

flattert.<br />

Hugo ist außer sich; er spannt seine Finger über dem Arm seines<br />

Bruders, bläst seine Lungen auf und schreit, so laut er kann:<br />

„Floria! Floria! Wir kommen!“<br />

Billy springt auf, die Augen voller Furcht; er wendet sich seinem<br />

Bruder zu, mit einem Vorwurf auf den Lippen.<br />

Aber er hat keine Zeit, ein einziges Wort auszusprechen. Der<br />

weiße Fleck zappelt heftig, dann verschwindet er plötzlich.<br />

Billy und Hugo schauen sich überrascht an: Was bedeuten diese<br />

Signale?<br />

„Du hast ihr Angst gemacht. Warum hast du geschrien? Das war<br />

leichtsinnig und dumm! …“<br />

54


Billy ist am Boden zerstört, das Vorgehen seines Bruders nimmt<br />

ihm jede Hoffnung ... welche Dummheiten wird er sich noch<br />

ausdenken?<br />

Er hat keine Zeit, noch mehr darüber nachzudenken; der Stock<br />

mit dem roten Gürtel am Ende, den sie schon gesehen haben,<br />

geht brüsk aus dem Fenster und bewegt sich regelmäßig hin und<br />

her, wie ein Banner, das man schwingt.<br />

„Schau, schon wieder der Stock!“, ruft Hugo keuchend, „komm,<br />

Billy! Zögern wir nicht mehr! Sie ist dort, sie ist dort! …“<br />

Der junge Mann stellt sein Fahrrad am Wegrand ab, überquert<br />

die Straße und nähert sich dem Haus von Herrn Gerber. Billy,<br />

etwas ängstlich und unentschlossen, folgt ihm, fragt ihn aber:<br />

„Wie können wir sie herausholen? Hast du eine Idee?“<br />

„Ich habe an der Mauer eine Leiter gesehen. Wird sie wohl lange<br />

genug sein? Das ist die wichtige Frage!“<br />

„Und du denkst, ich werde durch diese Leiter bis zum Dach<br />

hinaufklettern?“, ruft der ältere verblüfft aus.<br />

„Du? Nein, sicher nicht! Aber ich!“<br />

„Du vergisst, dass Vater Gerber von einem Augenblick zum<br />

anderen kommen kann und …“<br />

„Du stehst Schmiere, während ich hochklettere; die Minuten sind<br />

kostbar. Gehen wir zur Tat über!“<br />

Vorsichtig betreten sie den Garten - durch eine kleine Tür auf der<br />

Straßenseite.<br />

Billy fühlt sich unsicher …<br />

Begehen sie keine Dummheit? Haben sie nicht ihren Eltern<br />

versprochen, vorsichtig und weise zu sein? Wäre es nicht<br />

besser, die Rückkehr von Onkel Moritz abzuwarten, der sie mit<br />

seinen Ratschlägen leiten würde?<br />

55


Hugo ist vorangegangen, um die Leiter auszuprobieren, und<br />

Billy, noch ganz in seinen Gedanken, springt plötzlich auf.<br />

„Hugo!“, flüstert er, „ich habe gehört … ich habe eine Stimme<br />

gehört.“<br />

Sein Bruder kehrt zurück, nähert sich … und schweigend spitzen<br />

beide die Ohren.<br />

Der Stock bewegt sich nicht mehr und während ihre Augen auf<br />

das Dachfenster gerichtet sind, hören sie deutlich eine<br />

Kinderstimme, die jede Silbe wie in einem Gesang ausspricht<br />

und ruft: „Mutti! Mutti! Mutti! …“<br />

Die Stimme wird schwächer und leiser und endet in einem<br />

Schluchzen.<br />

Das ist zu viel für Billy; er sieht wieder sein eigenes Drama eines<br />

verlorenen Kindes, das danach lechzt, eine Mutter zu haben …<br />

er versteht den tiefen Kummer des Mädchens.<br />

Jedes Zögern, jede Berechnung und jede Vorsicht sind jetzt<br />

verschwunden.<br />

„Hugo“, flüstert er mit tief bewegter Stimme, „hilf mir, diese Leiter<br />

aufzustellen! Ich werde hinaufsteigen …“<br />

„Wie du willst, dann stehe also ich Schmiere“, antwortet der<br />

Junge fast ebenso beeindruckt wie sein Bruder.<br />

Sie schauen sich um - aus Furcht, man könnte sie beobachten.<br />

Zum Glück ist das Dorf verlassen, alles scheint zu schlafen. Nur<br />

die Autos durchpflügen die Straße und fahren an ihnen vorbei,<br />

ohne dass jemandem auffällt, was sich in Herrn Gerbers Garten<br />

abspielt.<br />

Die beiden Jungen haben Mühe, die große Leiter aufzustellen.<br />

Sie ist lang und schwer und wankt stark. Wird es ihnen wohl<br />

gelingen, sie an die Dachrinne zu stellen?<br />

Noch ein Augenblick der Qual … und das Werk ist vollendet. Die<br />

56


Leiter ist am Dach angelehnt, bereit zur großen Hilfeleistung der<br />

beiden Abenteurer.<br />

Als ein Fuß auf der ersten Sprosse ist, sagt Billy zu seinem<br />

Bruder: „Ich zähle auf dich! Wenn es etwas Verdächtiges gibt,<br />

gibst du durch Pfeifen Alarm!“<br />

„Verstanden“, antwortet Hugo, während er sich auf der Mauer<br />

aufstellt, damit er die Straße überwachen kann, die zum<br />

Hauseingang hinführt.<br />

Billy ist daran gewöhnt, auf Leitern hochzuklettern - im<br />

Obstgarten bei der Kirschenernte, zwischen den Ästen hängend<br />

und auf den letzten Sprossen stehend. Hier ist es jedoch anders;<br />

von jeder Seite klafft eine furchtbare Leere.<br />

Er muss nach oben schauen, gegen das Ziel hin; das ist das<br />

einzige Mittel, um sich aufrecht zu halten und den<br />

Schwindelgefühlen zu widerstehen.<br />

Fest entschlossen steigt er in einem Zug hinauf und erreicht das<br />

Dach. Das Fenster ist nicht weit, er kann den Stock ergreifen.<br />

Aber … er ist nicht mehr da, man sieht nichts mehr …<br />

Für den Augenblick niedergeschlagen hält Billy inne. Soll er<br />

weitermachen und seinen Fuß auf das Dach setzen?<br />

Er taucht mit seinen Blicken ins Innere des Dachfensters und<br />

sieht nicht viel; man würde sagen, es ist ein dunkler Dachboden.<br />

Da ruft er hinein: „Floria! Bist du da?“<br />

„Ja!“, antwortet eine kleine Stimme.<br />

Der Junge zögert nicht weiter. Er steigt die letzten Sprossen<br />

hoch, steigt auf das Dach und gleitet bis zum Dachfenster, wo er<br />

den Kopf hineinsteckt, um drinnen besser sehen zu können.<br />

Er trifft die kleine Hand eines Kindes, das den Arm so hochhält,<br />

wie es kann - und um noch weiter zu reichen, ist es auf eine Kiste<br />

57


gestiegen ...<br />

Ein goldenes und lockiges Vlies - das ist alles, was er für den<br />

Anfang unterscheiden kann. Ein kleines Gesicht erhebt sich zu<br />

ihm und zwei Augen - groß und strahlend, aber auch traurig -<br />

schauen ihn an, erstaunt und ängstlich zugleich.<br />

„Ich bin Billy Duval“, beeilt sich der junge Mann zu sagen, um auf<br />

die stumme Frage der großen blauen Augen zu antworten, und<br />

fragt: „Bist du Floria?“<br />

„Ja.“<br />

„Ich habe deinen Brief erhalten; ich komme mit meinem Bruder,<br />

um dich zu befreien … wirst du hier festgehalten?“<br />

„Ja“, antwortet das kleine Mädchen nochmals kurz.<br />

Die Überraschung und die Gefühle machen sie stimmlos.<br />

„Hast du keine Angst, vom Dach hinunterzusteigen?“<br />

„Nein! Aber ich habe Angst … sie werden zurückkommen und<br />

mich schlagen …“<br />

„Sie sind nicht da, sie sind ausgegangen …“<br />

„Ich weiß“, stöhnt das Kind, „aber vor langem; sie kommen bald<br />

zurück, da bin ich mir sicher. Geh! … geh, du wirst morgen<br />

wieder kommen! ...“<br />

„Nein, heute Abend, wenn es Nacht wird.“<br />

„Ja, heute Abend, und beeil dich, um wegzukommen!“, schluchzt<br />

das kleine Mädchen, „ich muss die Kiste wegnehmen.“<br />

„Bereite dich für heute Abend vor, ich werde zurückkommen!“,<br />

wirft Billy ein, den Florias Panik beeinflusst.<br />

In aller Eile gleitet er bis zum Rand des Daches, steigt wieder auf<br />

die Leiter so schnell, wie er kann, und unruhig, aber glücklich<br />

kehrt er zum Seitenplatz zu Hugo zurück, der die Straße<br />

schweigend beobachtet. Er sieht den jungen Mann, der<br />

58


aufgerichtet die Ferne überprüft.<br />

„Ich glaube, das sind sie!“, ruft Hugo leicht zögernd.<br />

Und während er seinen Beobachtungsposten verlässt, fügt er<br />

hinzu: „Hauen wir ab! Da kommen sie schon!“<br />

„Die Leiter!“, ruft Billy zurück, „schnell herunter, komm und hilf<br />

mir!“<br />

Sie haben fast keine Zeit, um sie richtig zu ergreifen. Aber im Nu<br />

wird die Leiter gekippt, auf dem Boden zusammengelegt und an<br />

die Mauer gelehnt.<br />

Schnell wie Eichhörnchen verlassen sie den Garten, indem sie<br />

die kleine Tür drücken. Zum Glück ist die Straße frei; sie<br />

überqueren sie und beeilen sich, um auf die Fahrräder zu<br />

kommen, die auf sie am Wegrand warten.<br />

„Von welcher Seite aus fahren wir?“, fragt Hugo unentschlossen.<br />

„Nehmen wir die Richtung nach Dorleben! Wir beraten uns<br />

unterwegs.“<br />

Sie steigen auf die Fahrräder und beschleunigen, ohne noch<br />

einmal zurückzuschauen. Während sie sich vom Dorf immer<br />

mehr entfernen, verlangsamen sie die Fahrt wieder, und Hugo<br />

ruft ungeduldig: „Also, ich warte auf deinen Bericht! Was hast du<br />

gesehen?“<br />

„Floria! In Fleisch und Blut! Und weißt du was? Sie ist blond!“<br />

„Sehr gut; das ist das, was ich gedacht habe … aber was macht<br />

sie auf dem Dach?“<br />

„Sie wartet darauf, dass man kommt, um sie zu befreien.“<br />

„Hat sie dir das gesagt?“<br />

„Nein.“<br />

„Warum bist du weggegangen, ohne sie mitzunehmen?“<br />

59


„Sie weinte … sie hatte Angst, dass sie zurückkehren und sie<br />

schlagen.“<br />

„Sie hatte Recht - es war weniger als eins!“<br />

„Ich habe ihr versprochen, dass wir sie heute Abend holen<br />

kommen …“<br />

„Heute Abend? Die Idee ist gut, in der Nacht wird man uns nicht<br />

sehen …“<br />

„Es wird aber noch schwieriger werden, auf das Dach zu steigen,<br />

als sich den Hals zu brechen! Ich bereue es, dass ich ihr dieses<br />

Versprechen gegeben habe … ich bin ganz einfach dumm<br />

gewesen. Morgen ist Onkel Moritz wieder da, er könnte uns<br />

helfen.“<br />

„Aber nein, bereue nichts! Ich hätte genauso wie du gehandelt.“<br />

„Als ich sie so verzweifelt sah, hatte ich nicht das Herz, um ihr zu<br />

sagen, sie solle noch länger warten.“<br />

60


Diebe!<br />

„Guten Abend, Anni!“, ruft Billy, als er die Vorhalle der<br />

Türmchenvilla beritt.<br />

Die junge Hausangestellte, die aus dem Speisesaal kommt,<br />

schaut die beiden Jungen erstaunt an.<br />

„Seid ihr schon zurück?“<br />

„Wir sind nicht hingegangen.“<br />

„Was für eine Idee! Warum denn? War es zu heiß? War der Weg<br />

zu lang?“<br />

„Nein, nichts davon“, antwortet Hugo, „wir werden es Ihnen<br />

erzählen.“<br />

Und Billy ergänzt: „Versprechen Sie uns das Geheimnis, Anni …<br />

und wir werden Ihnen alles sagen.“<br />

„Ich schwöre es“, antwortet die Hausangestellte mit einem Ton,<br />

der zum Aussehen ihrer boshaften Augen ganz im Gegensatz<br />

steht, „also sagt es mir schnell! Welche Dummheit habt ihr euch<br />

ausgedacht, dass man das Geheimnis bewahren muss?“<br />

„Nichts Schwerwiegendes, seien Sie versichert!“, antwortet Billy,<br />

„aber es ist spannend - ich warne Sie - und ziemlich lang zu<br />

erzählen!“<br />

„In diesem Fall müsst ihr warten, bis ich das Abendessen<br />

zubereitet habe; es ist noch nicht ganz fertig. Wie konnte ich<br />

denn eure Rückkehr voraussehen? Und trotzdem müsst ihr<br />

Hunger haben. Geht euch unter der Dusche erfrischen! In einer<br />

halben Stunde wird das Essen serviert. Ich werde bis dahin<br />

warten, um euch zu hören.“<br />

Die Kinder fügen sich den Anordnungen der Hausangestellten<br />

und sitzen ein wenig später im Speisesaal an einem sehr<br />

61


garnierten Tisch. Dann unterbreiten sie Anni eine<br />

ausgeschmückte und bewegenden Bericht über die Tätigkeit<br />

dieses Tages. Sie zeigen den geheimnisvollen Brief, der das<br />

SOS von Floria enthält, und beschreiben den gefährlichen<br />

Aufstieg auf das Dach und die Entdeckung des kleinen blonden<br />

Mädchens.<br />

Die Hausangestellte wird vom Drama ergriffen; das Mädchen,<br />

das weit oben eingesperrt ist, zieht ihre große Sympathie auf<br />

sich.<br />

Wie soll man vorgehen, um ihr zu helfen?<br />

Sie wäre zu allem bereit, um den beiden Jungen bei ihrer Rettung<br />

zu helfen, und beeilt sich, um ihnen zu sagen: „Kehrt heute<br />

Abend zurück, aber seid vorsichtig! Wartet die Nacht ab! …<br />

während dieser Zeit bereite ich für sie ein Zimmer und ein gutes<br />

Bett vor. Ich backe einen Kuchen und wenn ihr zurück seid,<br />

machen wir für sie ein kleines Fest. Arme Kleine! Wir werden uns<br />

gut um sie kümmern.“<br />

„Danke, Anni!“, ruft Billy anerkennend, „ich habe gewusst, dass<br />

wir in Ihnen eine Verbündete finden.“<br />

„Und ihre Eltern - wo sind sie, wie heißen sie?“, setzt die junge<br />

Frau sehr bewegt fort, „warum ist sie eingeschlossen? Sowas ist<br />

nicht zu akzeptieren! Wir müssten die Polizei darüber<br />

informieren!“<br />

„Nein!“, ruft Billy, „nie im Leben! Wir sind es, die sie befreien<br />

werden!“<br />

„Was werden Herr und Frau Dubeler darüber denken?“, fragt<br />

Anni nachdenklich.<br />

„Wenn sie keine Eltern mehr hat, werden sie sie sicher<br />

adoptieren“, sagt Billy überzeugt.<br />

62


Aber plötzlich wird die gute Frau nachdenklich; sie überlegt und<br />

wendet ein: „Dieser Abstieg vom Dach - ist das nicht gefährlich?<br />

Wenn sie Angst vor der Leere hat … so dass sie schreit … so<br />

dass sie fällt … was werdet ihr dann tun? Ihre Gefängniswärter<br />

werden euch hören und das Spiel wird verloren sein. Sie werden<br />

euch zum Polizeiposten führen - wie Diebe!“<br />

Hugo beruhigt sie: „Wir werden vorsichtig sein, wir werden<br />

behutsam vorgehen … sie wird so glücklich sein, dass sie ihren<br />

Dachboden verlassen kann, dass sie nichts fürchten wird …<br />

übrigens sollten wir aus Vorsicht noch ein Seil mitnehmen, das<br />

könnte uns vielleicht nützlich sein.“<br />

„Ich freue mich auf eure Rückkehr … aber ich bin besorgt … wäre<br />

es nicht besser, bis morgen zu warten?“<br />

„Unmöglich“, protestiert Hugo, „Billy hat ihr versprochen, dass wir<br />

sie noch heute Abend holen. Sie bereitet sich vor, sie wartet auf<br />

uns; wir können sie nicht enttäuschen. Ich glaubte, Sie würden<br />

sich darauf freuen, sie zu sehen …“<br />

„Aber sicher! Armes Kind! Ich werde ihr das Zimmer vorbreiten.<br />

Also geht! Ich wünsche euch guten Erfolg.“<br />

Und die Hausangestellte geht schnell hinauf, um ihre Gefühle zu<br />

verbergen, während die beiden Jungen ihre Abreise<br />

organisieren.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

In der Abenddämmerung sind sie auf der Hauptstraße, leise<br />

bewegen sie sich auf Herrn Gerbers Haus zu. Da ist das Dorf,<br />

das in der einbrechenden Nacht verblasst.<br />

Sie sind sehr bewegt - eine schwere Stunde hat geschlagen!<br />

Mit unruhigem Blick inspiziert Billy das Umfeld. Eine Gruppe von<br />

Männern unterhält sich am Wegrand gegenüber dem Haus<br />

genau an dem Platz, wo sie ihre Fahrräder hinstellen wollten.<br />

63


Wie viel Zeit werden diese Leute dortbleiben und sie daran<br />

hindern, ihren Plan fortzusetzen?<br />

Sie verlangsamen ihre Fahrt - was sollen sie tun?<br />

„Machen wir weiter!“, sagt Hugo, „wir kommen später zurück,<br />

wenn sie weg sind.“<br />

Sie fahren an den Dorfbewohnern vorbei und setzen ihren Weg<br />

bis zur nächsten Umleitung fort.<br />

„Halten wir hier an!“, schlägt Billy vor, während er einen Fuß auf<br />

den Boden setzt, „wir sehen das Haus ja gerade noch.“<br />

„Die Fenster sind beleuchtet, sie schlafen nicht.“<br />

„Wir müssen vielleicht noch lange warten. Es ist unmöglich, sich<br />

zu nähern, solange sie noch nicht im Bett sind.“<br />

„Es wäre zu wünschen, dass sie sich Watte in die Ohren<br />

stopfen.“<br />

„Oder dass sie von Schlaftabletten betäubt sind.“<br />

Noch im vollen Gespräch stellen die beiden Jungen ihre<br />

Fahrräder hin und lehnen sich an die Mauer an - fest<br />

entschlossen, den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten, um Floria<br />

zu befreien.<br />

„Wie schade!“, seufzt Billy, „von dieser Seite aus sehen wir das<br />

Dachfenster nicht. Floria wird denken, wir zögern es hinaus, um<br />

zu kommen.“<br />

„Sofern sie nicht einschläft“, ergänzt Hugo.<br />

„Sie wird glauben, wir haben sie vergessen.“<br />

„Aber nein! Sie weiß sehr wohl, dass es für uns unmöglich ist,<br />

uns zu nähern, solange die beiden Alten noch wach sind.“<br />

„Ein Licht geht aus!“, sagt Billy glücklich.<br />

„Und ein anderes geht an!“, entgegnet Hugo, „wie nervig sie sind!<br />

64


In ihrem Alter sollten sie nicht so spät noch aufbleiben … das ist<br />

schlecht für ihre Gesundheit.“<br />

„Von den Stromrechnungen gar nicht zu reden! Arme Leute! Das<br />

wird sie ruinieren!“<br />

„Warum haben sie dieses kleine Mädchen eingeschlossen?“<br />

„Eine Geldfrage, natürlich.“<br />

„Wir werden bald wissen, ob du Recht hast. Floria wird uns alles<br />

erzählen.“<br />

Sie bleiben noch einen Moment am Straßenrand und die<br />

einbrechende Nacht gleitet über sie hinweg. Die Stille, die nur<br />

das Plätschern der Wellen durchbricht, dringt mit ihrem<br />

Geheimnis in sie ein. Der Himmel ist sternenklar und der<br />

Mondschein widerspiegelt sich im See.<br />

„Ich hätte es vorgezogen, dass es dunkler ist“, bemerkt Billy und<br />

sagt weiter, indem er zum hell beleuchteten Mond aufblickt,<br />

„diese herrliche Lampe könnte uns noch Streiche spielen.“<br />

„Im Gegenteil, sie wird uns nützen! Du wirst auf dem Dach besser<br />

sehen. Ohne den Mond wäre eine Taschenlampe<br />

unausweichlich.“<br />

„Ich akzeptiere deinen Standpunkt“, schlussfolgert Billy, „ah,<br />

endlich! Alles ist jetzt abgelöscht.“<br />

„Es wird Zeit, sich anzunähern.“<br />

Hugo und Billy schauen einander an, ihre Augen sind voller<br />

Emotionen; jetzt ist nicht der Moment, um zurückzuschrecken.<br />

Ein kleines Mädchen, das auf einem dunklen Dachboden<br />

eingeschlossen ist, wartet auf ihre Hilfe, zählt die Minuten, das<br />

Herz verängstigt, hört auf jeden Lärm …<br />

Es gibt nichts mehr zu verzögern!<br />

„Komm, gehen wir!“, drängt Hugo.<br />

65


Alles ist ruhig, die Straße ist verlassen. Sie kommen vor Herrn<br />

Gerbers Haus an. Eine schwarze Katze huscht vor ihnen wie ein<br />

Blitz vorbei.<br />

„Das ist vielleicht das arme Kätzchen, das in der Küche die<br />

Ölflasche zerbrochen hat!“<br />

„Schade, dass sie nicht sprechen kann!“, entgegnet Hugo, „wir<br />

würden sie fragen, ob ihre Herren endlich schlafen.“<br />

„Schau darauf, dass es kein einziges Licht mehr hat, weder von<br />

der einen noch von der anderen Seite!“, bemerkt Billy.<br />

Hugo setzt fort: „Eine schwarze Katze! Ist das nicht ein<br />

schlechtes Vorzeichen?“<br />

Billy ist empört: „Hugo! Welche Torheit! Bist du wohl<br />

abergläubisch?“<br />

„Sei ohne Furcht! … ich glaube weder an Vorzeichen noch an<br />

Glücksbringer noch an Amulette! Ich wollte dir einfach einen<br />

Blödsinn erzählen. Hast du etwa schon ein eisernes Pferd<br />

gesehen, das an der Tür meines Zimmers hängt?“<br />

„Nein, bis jetzt nicht.“<br />

„Und ich schlage nicht jedes Mal auf Holz, wenn ich mir wünsche,<br />

etwas zu vermeiden …“<br />

„Alles zu seiner Zeit! Du machst mir Spaß! Es ist besser, unser<br />

Vertrauen auf Gott zu setzen, welcher der Herr über alle Dinge<br />

ist. Der Aberglaube sollte in einem christianisierten Land nicht<br />

bestehen; das ist gut für die Heiden …“<br />

„Wenn wir zu unseren Schafen kommen würden!“<br />

„Du hast Recht. Stellen wir unsere Fahrräder also auf diesem<br />

Pfad ab, der hinunterführt, und verlieren wir keine Zeit mehr!“<br />

Vorsichtig lehnen sie ihre Fahrräder gegen eine Mauer. Mit<br />

klopfenden Herzen überqueren sie die Straße und nähern sich<br />

66


dem Haus.<br />

„Unmöglich zu sehen, ob das Dachfenster offen ist“, bemerkt<br />

Billy und sagt weiter: „Wird die kleine Gartentür wohl Lärm<br />

machen, wenn wir sie öffnen?“<br />

Hugo legt seine Hand auf den Türgriff, zögert noch und flüstert<br />

dann: „Wenn wir wohl über die Mauer steigen würden?“<br />

Unter dem Druck seiner Hand öffnet sich die Tür plötzlich,<br />

während sie einen trockenen und metallischen Lärm verursacht,<br />

der sie mit Furcht erfüllt.<br />

Sie steigen die Treppe hinauf, treten in den Garten ein und<br />

schleichen bis zum Haus. Die Leiter steht immer noch dort, sie<br />

wartet auf sie!<br />

Billy fühlt, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bilden; die<br />

Gefühle überwältigen ihn …<br />

Werden sie wohl die Kraft haben, um noch einmal<br />

hochzusteigen? Sie halten nochmals einen Augenblick vor dem<br />

gewaltigen Sternenhimmel inne, schauen um sich und spitzen<br />

die Ohren.<br />

Die Stille ist vollkommen, sie haben niemanden geweckt. Das<br />

angenehme Gefühl, eine erste Etappe hinter sich gebracht zu<br />

haben, verleiht ihnen ein wenig Mut. Das Wichtigste gilt es aber<br />

immer noch zu tun!<br />

Elf Schläge erklingen vom Kirchturm und lässt sie beide<br />

zurückschrecken.<br />

Sie stehen wieder aufrecht. Also los, jetzt muss gehandelt<br />

werden! …<br />

Ihre weit offenen Augen gewöhnen sich allmählich an die<br />

Dunkelheit; sie verständigen sich mit Blicken und beide ergreifen<br />

die Leiter, um sie auseinanderzuziehen und dann so sachte wie<br />

möglich an die Dachrinne zu lehnen.<br />

67


Endlich ist es getan! Ein wenig erleichtert atmen sie tiefer; dann<br />

setzt Billy seinen Fuß auf die erste Sprosse, um seinen<br />

nächtlichen Aufstieg zu beginnen.<br />

Ein langer Blick rund herum - was für ein Glück! Nichts hat sich<br />

bewegt, sie sind sachte vorgegangen!<br />

Aber … welch ein Schrecken!<br />

Man hört Schritte auf der Straße!<br />

Der Lärm kommt näher. Ist es vielleicht der Polizist, der seinen<br />

Rundgang macht? Man wird sie für Diebe halten!<br />

„Verstecken wir uns hinter den Bäumen!“, flüstert Hugo.<br />

„Und die Leiter?“, ruft Billy außer sich.<br />

Mit den gleichen Handbewegungen ergreifen sie diese und<br />

lassen sie brüsk auf die Erde gleiten. Ihr Fall auf dem Gras<br />

verursacht einen dunklen Lärm in der nächtlichen Stille und lässt<br />

die Herzen der beiden Abenteurer vor Schreck erstarren.<br />

Wortlos und wie gejagte Füchse verstecken sie sich im Laub<br />

eines Hains und bleiben keuchend dort.<br />

Die Schritte schwingen in der Nacht. Jemand nähert sich und<br />

geht ganz nahe bei ihnen auf dem Weg vorbei. Nur die Mauer<br />

trennt sie von der schrecklichen Person, die mitten in der Nacht<br />

umhergeht.<br />

Sie gewinnen ihren Atem zurück …<br />

Der Spaziergänger befindet sich jetzt gegenüber der offenen<br />

Gartentür …<br />

Er setzt seinen Weg ohne anzuhalten fort, während die beiden<br />

Jungen es wagen, allmählich das Dickicht zu verlassen - der Hals<br />

gebückt und mit unruhigen Blicken.<br />

Was ist denn nur geschehen?<br />

„Das ist ein einfacher verspäteter Spaziergänger“, murrt Hugo,<br />

68


„und jetzt müssen wir unsere unglückliche Leiter wieder<br />

zusammensetzen.“<br />

Billy ist besorgt und erwidert: „Sofern die beiden Teile sich beim<br />

Fallen nicht getrennt haben.“<br />

„Gehen wir also nachschauen und versichern wir uns darüber!“,<br />

sagt Hugo, während er sein Versteck absichtlich verlässt, und<br />

dann folgt ihm sein Bruder.<br />

Billy wirft einen Blick auf die Fassade des Gebäudes. Hat nicht<br />

jemand gerade Licht gemacht?<br />

Aber nein, er hat geträumt!<br />

Alles ist abgelöscht, alles ist ruhig.<br />

Entschieden ergreifen sie die Leiter und bereiten sich darauf vor,<br />

um sie noch einmal auseinanderzuziehen …<br />

Genau in diesem Augenblick wird direkt über ihnen ein Fenster<br />

mit Gewalt geöffnet. Ein elektrisches Licht taucht seine Strahlen<br />

in den Garten und beleuchtet jeden Winkel, während eine<br />

Stimme donnert: „Diebe! … Banditen! … was treibt ihr hier?“<br />

Die Jungen erkennen die Schurkenstimme des Herrn Gerber.<br />

Die Leiter gleitet aus ihren Händen und fällt schwer gegen das<br />

offene Fenster, so dass es den alten Geizhals zwingt, den<br />

Rückzug anzutreten.<br />

Das können die beiden Brüder ausnützen, um wegzuhuschen.<br />

Sie lassen die Gartentür offen und rennen wie der Blitz zu ihren<br />

Fahrrädern. Sie stürzen sich darauf und während sie mit allen<br />

Kräften pedalen, verschwinden sie in der Nacht und stoppen ihre<br />

verrückte Fahrt erst dann, als sie die Gartentür der Türmchenvilla<br />

erreichen.<br />

Als er einen Fuß auf den Boden setzt, kommt sich Billy als ein<br />

Gescheiterter vor. Er lehnt sich an die Mauer, fährt sich mit einer<br />

69


Hand über die schweißgebadete Stirn und seufzt tief enttäuscht:<br />

„Arme Floria!“<br />

Anni, die bis jetzt aufgeblieben ist, hört Lärm und geht zur Straße<br />

vor. Sie erkennt die beiden Jungen und sieht, wie sie entmutigt<br />

keuchen und es eilig haben, ins Haus zurückzukehren.<br />

„Also, was ist denn geschehen?“, fragt sie sofort, „ist das kleine<br />

Mädchen nicht hier?“<br />

„Wir sind gescheitert“, antwortet Billy mit deutlich gedrückter<br />

Stimme.<br />

„Und wir mussten uns wie Diebe und Banditen behandeln<br />

lassen“, fügt Hugo mit Bitterkeit hinzu, während er fühlt, dass<br />

Tränen dabei sind, aus seinen Augen zu treten.<br />

„Kommt, gehen wir hinein!“, sagt die Hausangestellte, „ihr werdet<br />

mir euer Abenteuer erzählen. Aber tröstet euch! Euer Onkel<br />

kommt morgen … ich bin sicher, dass ihr es mit ihm schaffen<br />

werdet, Floria zu befreien - mit einfacheren und leichteren und<br />

vor allem weniger gefährlichen Mitteln. Obwohl es schon spät ist,<br />

werden wir jetzt doch noch den Kuchen essen, den ich gebacken<br />

habe; morgen wäre er nicht mehr frisch.“<br />

70


Ein wertvolles Gepäck<br />

Nach einer kurzen Nacht voller Alpträume wacht Billy mit einem<br />

einzigen Wunsch auf: So schnell wie möglich zum Dorf von Herrn<br />

Gerber zurückkehren, um das Fenster auf dem Dach wieder zu<br />

sehen.<br />

Hugo bringt Einwände vor: „Wenn wir auf diesen Straßen<br />

spazieren gehen, wird man uns bemerken … du vergisst den<br />

Alarm dieser Nacht! Der Alte hat sich bestimmt schon bei der<br />

Polizei beschwert … gehen wir also lieber baden und warten wir<br />

auf die Rückkehr deines Onkels!“<br />

„Er kommt erst am Nachmittag zurück“, antwortet Billy, „wir<br />

haben den ganzen Morgen für uns … und ich habe eine Idee:<br />

Um zu vermeiden, dass man uns im Dorf sieht, folgen wir dem<br />

Weg entlang dem Hügel. Nehmen wir die Straße, die an der<br />

Bäckerei vorbeiführt! Wenn wir dort aufsteigen, erreichen wir<br />

bald auch das Vorgebirge, unseren bevorzugten<br />

Beobachtungsposten. Floria muss sehr enttäuscht sein, dass wir<br />

sie nicht befreit haben …“<br />

„Sie hat den Lärm sicher gehört und verstanden, was geschehen<br />

ist! Wünschen wir uns also, dass Mutter Pick-Pick unseren<br />

Plänen nicht misstraut! Ich hätte es lieber, sie würde uns für<br />

Diebe halten.“<br />

Das Wetter ist herrlich - und die Kantonsstraße auf der<br />

Hügelpiste zerstreut das schwere Unglück, das auf den Herzen<br />

der beiden Jungen seit ihrer nächtlichen Flucht lastet.<br />

Die Luft, die immer noch frisch ist, streichelt ihre Stirn und erfüllt<br />

sie mit Freude und Hoffnung.<br />

Wie wird der Tag wohl enden?<br />

Sofern Onkel Moritz sich gern ohne Zögern um das Schicksal der<br />

71


armen Floria kümmern will … wie wird er sich ihrer annehmen?<br />

Es sind viele Fragen, die im Geist der Kinder zusammenstoßen.<br />

Was sie betrifft, sehen sie sich dazu gezwungen, auf einen<br />

weiteren Versuch zu verzichten, dem kleinen Mädchen zu Hilfe<br />

zu kommen. Wäre das Abenteuer nicht zu riskant? Übrigens,<br />

haben sie nicht alles versucht … und ohne Erfolg?<br />

---------------------------------------------------------------------------------<br />

Trotz so vieler Enttäuschungen richtet sich ihr erster Blick auf das<br />

Haus von Herrn Gerber, als sie auf dem Vorgebirge ankommen.<br />

Ohne es sich einzugestehen, bewahrt Billy im Herzen immer<br />

noch die Hoffnung, dass er selbst das kleine Mädchen retten<br />

kann …<br />

„Schau!“, sagt Hugo überrascht, „die Dekoration hat sich<br />

verändert! Die Fensterläden sind geschlossen! Was bedeutet<br />

das wohl?“<br />

„Sie haben Angst bekommen … sie fürchten, dass sich alles<br />

noch ausweitet; sie wollen sich wohl beschützen …“<br />

„Die Unglücklichen! Sie werden nicht mehr klarsehen! Sie haben<br />

die Leiter wieder an ihren Platz gestellt, nehme ich wahr.“<br />

„Wir beunruhigen uns nicht, das zu wissen, welchen Schaden sie<br />

anrichten konnte, als sie gegen das Fenster fiel“, bemerkt Billy.<br />

„Wenn sie eine Fensterscheibe zerschlagen hätte … man hätte<br />

den Lärm gehört. Die Tür öffnet sich! Beobachten wir, was jetzt<br />

geschieht …“<br />

„Ein Koffer! …“<br />

„<strong>Zwei</strong> Koffer … drei Koffer …“, setzt Hugo fort.<br />

„Sie gehen für eine große Reise weg.“<br />

„Es sieht ganz danach aus … ich verstehe, ich verstehe … sie<br />

schließen das Haus und gehen für den Sommer in die Berge,<br />

72


darum sind die Fensterläden geschlossen.“<br />

„Und werden sie Floria mitnehmen?“<br />

„Wir werden sehen … der gute Alte bringt ein viertes ‚Bündel‘!<br />

Werden sie das alles mitnehmen? Nein, also wirklich! Sie tun mir<br />

leid! Gehen wir ihnen helfen!“<br />

„Da ist ja Frau Gerber! … sie schließt die Tür, dreht den<br />

Schlüssel um und … keine Floria! Das ist unannehmbar! Lassen<br />

sie sie allein in diesem Haus? Sie wird verhungern … und wenn<br />

sie im Herbst zurückkommen, wird man nur noch einen<br />

Leichnam finden“, stöhnt Billy.<br />

„Oh, dramatisiere nicht so weit! Wir werden sie befreien, noch<br />

bevor sie zugrunde gegangen ist. Für den Moment sind sie es,<br />

die mir Sorgen machen. Gehen sie mit dieser Ladung bis zum<br />

Bahnhof?“<br />

„Sicher, sie schlagen ja diese Richtung ein. Die arme Mutter<br />

Pick-Pick muss ihrem Mann ja wohl oder übel folgen. Die Koffer<br />

scheinen schwer zu sein. Werden sie keinen Dorfbewohner<br />

finden, der ihnen hilft? Man würde sagen, sie stolpert bei jedem<br />

Schritt.“<br />

„Die Dorfleute beunruhigen sich nicht wegen ihnen …“<br />

Die Jungen verfolgen mit klopfenden Herzen und voller<br />

Leidenschaft die Abreise des Ehepaars, das langsam und immer<br />

wieder mit kleinen Pausen dazwischen gegen den Bahnhof<br />

zugeht. Sie schlagen einen entgegengesetzten Weg ein und<br />

verschwinden vor ihren Augen, während Billy seufzt: „Ich freue<br />

mich darauf, dass der Zug kommt und sie weit mitnimmt ...“<br />

„Ja, hurra! Wir werden das Feld frei haben! Es wird nur noch ein<br />

Kinderspiel ein, Floria aus ihrem Gefängnis zu befreien.“<br />

Während ihre Blicke nach unten zum Dorf gerichtet sind, das sich<br />

vor ihren Füssen ausbreitet, sagt Hugo mit einem Schmollmund:<br />

„Welche Herrlichkeit heute Morgen! Es ist unmöglich, das nicht<br />

73


zu bemerken! Es hat viele Leute beim Brunnen, man ist bei der<br />

Wäsche …“<br />

„Und die Kinder vergnügen sich auf der Straße“, ergänzt Billy.<br />

„Ist Paulette wohl auch dabei?“, fragt Hugo, während er genauer<br />

darauf schaut, was dort geschieht, „siehst du sie?“<br />

„Diese schwarzhaarige, die dort rennt, könnte sie sein ...“<br />

Die jungen Leute schauen ruhig genau auf das Kommen und<br />

Gehen der Dorfbewohner. Sie sind beide besorgt; sie denken mit<br />

gerunzelten Augenbrauen und einem dunklen Blick nach.<br />

Plötzlich fährt Billy von seiner Stummheit hoch und sagt: „Ich<br />

kann bei der Sicht all dieser Leute nicht auf meine Leiter steigen!<br />

Das ist unmöglich … wir müssen auf die Rückkehr von Onkel<br />

Moritz warten. Du hast Recht, gehen wir baden! Deine Idee war<br />

gut. Wir haben unsere Zeit verloren.“<br />

„Einverstanden! Gehen wir also baden! Aber wir haben unsere<br />

Zeit nicht verloren, weil wir festgesellt und beobachtet haben,<br />

dass das Ehepaar Gerber abgereist ist.“<br />

„Das stimmt, ich habe das vergessen. Aber wenn ich daran<br />

denke … sie sind immer noch am Bahnhof und warten auf ihren<br />

Zug! Sie verreisen nicht oft, deshalb sind sie eine Viertelstunde<br />

zu früh auf dem Bahnsteig angekommen! Das Dachfenster ist<br />

geschlossen, gerade vorher schien es mir aber offen zu sein …“<br />

„Du sagst also, es war offen … warum hat Floria es zugemacht?<br />

Und ihr Stock, ihr Gürtel und ihr weißes Taschentuch … sie hat<br />

sie völlig vergessen, man sieht sie nicht mehr! Schläft sie? Oder<br />

ist sie wohl nicht mehr dort?“<br />

„Wo würdest du wollen, dass sie gegangen ist? Sie wartet auf<br />

uns; sie weiß, dass wir kommen werden, und schickt darum<br />

keinen Hilferuf mehr … die Zeit muss ihr sehr lange vorkommen<br />

…“<br />

74


„Ah, endlich! Der Zug fährt ab … und nimmt dabei diese sehr<br />

sympathischen Leute mit!“<br />

„Ich würde gern wissen, wohin sie gehen!“<br />

„Komm, gehen wir zum Dorf hinunter, da sie jetzt nicht mehr da<br />

sind!“, sagt Hugo, während er aufsteht.<br />

Ein paar Augenblicke später kommen sie auf dem Dorfplatz vor<br />

der Kirche an. Weiter unten auf der Straße, vor dem Haus von<br />

Mutter Pick-Pick, diskutiert eine Gruppe von Kindern lebhaft, und<br />

Frauen, die vom Lärm der Stimmen angezogen werden,<br />

schließen sich ihnen an.<br />

„Was geschieht dort gerade?“, fragt Billy verwundert.<br />

„Gehen wir schauen!“, entgegnet Hugo, während er sich von der<br />

Seite zur Menge hinwendet.<br />

Als sie dort immer näherkommen, bemerken sie, wie eine Bande<br />

von Kindern um ein kleines Mädchen herumsteht und wie diese<br />

sie sehr erstaunt und interessiert anstarren.<br />

Das kleine Mädchen ist blond und hat immergrüne Augen …<br />

Billy hält an, mit den Füssen wie auf den Boden genietet - und<br />

mit festem Blick und heftig schlagendem Herzen.<br />

Hugo fragt ihn überrascht: „Du wirst wohl nicht ohnmächtig<br />

werden?“<br />

„Ich glaube, sie ist es“, flüstert der ältere.<br />

„Wie? Was willst du sagen?“, fragt Hugo, der vom verwirrten<br />

Blick seines Bruders genervt ist.<br />

Billy hat sich nicht bewegt; seine deutlich geweiteten Augen<br />

richten sich immer noch auf das kleine Mädchen, dieses goldene<br />

Vlies, das im Zentrum der Menge steht.<br />

Er legt eine Hand auf die Schulter seines jüngeren Bruders.<br />

75


„Siehst du das denn nicht?“, fragt er mit heiserer Stimme, „warum<br />

sind wir bis hierhergekommen? Komm, gehen wir! Sie braucht<br />

uns nicht mehr.“<br />

Und mit Tränen in den Augen wirft der große Junge einen<br />

verzweifelten Blick auf seinen Bruder - schon macht er sich zur<br />

Umkehr bereit.<br />

„Billy!“, ruft Hugo auf dem Gipfel des Staunens, „hat die Sonne<br />

dir ins Hirn gebrannt? Gehen wir näher hin, ich will es wissen …<br />

wenn du nicht kommst, gehe ich allein. Bist du dir wirklich sicher,<br />

dass sie es ist? Das erstaunt mich.“<br />

Und fest entschlossen geht er von der Seite zu den Kindern, die<br />

immer noch lebhaft schwatzen.<br />

Billy folgt ihm mit schlurfenden Schritten - der Tod in seiner<br />

Seele. So viele Tage lang haben sie sich darauf gefreut, den<br />

erhabenen Augenblick zu erleben, in dem sie Floria befreien<br />

würden, den spannenden Moment, der es ihm ermöglichen<br />

würde, sie mit der Kraft des Mutes von den Händen dieser alten<br />

Geizhälse wegzuziehen. Welche Freude und welche stechende<br />

Rache wäre es für ihn nach der schlechten Behandlung, die er<br />

im letzten Jahr über sich ergehen lassen musste!<br />

All dies ist jetzt in einem Augenblick verschwunden …<br />

Das kleine Mädchen befindet sich auf der Straße … frei und<br />

glücklich!<br />

Wer hat sie denn nur aus ihrem Gefängnis herausgeholt?<br />

Wenn er es nicht war … da ist er sich sicher - deshalb wird sein<br />

Herz auch von einer unendlichen Trauer erfüllt.<br />

Hugo kehrt keuchend zurück und fragt Billy: „Kommst du jetzt?“<br />

Während sie näherkommen, dringen ein paar Gesprächsfetzen<br />

bis zu ihnen durch: „Ich habe geglaubt, du seiest abgereist“, sagt<br />

ein kleines Mädchen.<br />

76


„Du hast ja gar nicht zugenommen“, ergänzt eine Mutter.<br />

„Sie haben mir gesagt, der Arzt habe eine Ruhepause<br />

verordnet“, antwortet das blonde Mädchen.<br />

Die beiden Jungen sind jetzt nur noch ein paar Schritte von der<br />

Gruppe entfernt, aber niemand nimmt sie wahr. Große und<br />

Kleine beachten nur das Kind, das sie mit einer wohlwollenden<br />

Neugier anschauen.<br />

Wie gut sie redet! Wie hübsch sie ist mit ihrem unordentlichen<br />

lockigen Haar und mit ihren Augen, die glücklich über das Leben<br />

in Freiheit sind!<br />

Eine Frau nähert sich und während sie sie an der Hand nimmt,<br />

sagt sie: „Komm zu uns! Ich bin sicher, dass du Hunger hast …“<br />

Aber Flora protestiert: „Ich erwarte sie, sie werden noch kommen<br />

… wenn ich nicht hier bleibe, werden sie mich nicht finden.“<br />

Ein Strahlen leuchtet in Billys Augen auf; dieser Satz klopft ihm<br />

ans Herz. Wen erwartet sie wohl? Das können nur sie sein!<br />

Diesmal zögert er nicht mehr, fest entschlossen kommt er näher.<br />

Während sie redet, lässt das kleine Mädchen ihre Blicke um sich<br />

herumschweifen, und sieht die beiden Jungen, die sich unter die<br />

Leute gemischt haben, die um sie herumstehen.<br />

Hugo ruft als Erster: „Guten Tag, Floria!“<br />

„Guten Tag!“, antwortet das kleine Mädchen mit sicherem Blick.<br />

„Erkennst du mich wieder?“, fragt jetzt Billy.<br />

„Aber sicher! Ich habe gestern Abend für dich Angst gehabt! Du<br />

bist sehr tapfer gewesen und dank dir bin ich jetzt nicht mehr auf<br />

meinem Dachboden!“<br />

Was sagt sie da?<br />

Billy fühlt, wie sein Herz heißer wird, doch er versteht den Sinn<br />

dieser Worte nicht. Es wird nötig sein, dass Flora sie erklärt.<br />

77


Allerdings sind all diese Kinder auf der Straße wirklich ein zu<br />

großes Publikum, um so viele Dinge zu hören …<br />

Hugo wird ebenfalls ungeduldig und deutet mit einem einzigen<br />

Blick auf diese Aufdringlichen, als würde er ihnen sagen: „Geht<br />

wieder spielen!“<br />

Eine brennende Frage klebt auf ihren Lippen und sie können<br />

nicht länger warten, um sie auszudrücken: „Wie bist du<br />

herausgekommen?“<br />

„Durch die Tür, es war leicht!“, antwortet das kleine Mädchen<br />

lachend, „sie haben vergessen, dass ich im Badezimmer<br />

geblieben bin! Ich habe mich nicht bewegt, bis sie nach draußen<br />

gegangen sind! Sie hatten den Kopf an diesem Morgen dank<br />

euch verkehrt herum …“<br />

Und sie bricht in lautes Gelächter aus, als sie noch ergänzt: „Sie<br />

haben meinen Dachboden mit dem Schlüssel abgeschlossen …<br />

und ich war gar nicht mehr dort! Sie hatten solche Angst, ihren<br />

Zug zu verpassen!“<br />

Und sie klatscht in die Hände, während sie vor Freude<br />

hochspringt.<br />

Billy und Hugo sind ein wenig eingeschüchtert von all diesen<br />

Gesichtern, die sie rund herum einkreisen und anstarren.<br />

Wie können sie denen entrinnen?<br />

„Ich bin bereit“, sagt Floria, „ich habe alles vorbereitet … ich will<br />

von hier abreisen.“<br />

Dann zeigt sie einen abweisenden Schmollmund und schaut<br />

angewidert von der Seite zum Haus und zum Garten, und fügt<br />

noch hinzu: „Ich will weit weg sein, wenn sie zurückkommen …“<br />

„Werden sie denn bald zurück sein?“, fragt Billy erstaunt.<br />

„Ich weiß nicht“, antwortet das Kind, „vielleicht … sie haben ihre<br />

Schätze weggebracht …“<br />

78


„Also dann … gehen wir so schnell wie möglich weg!“, sagt Hugo,<br />

der über diesen Ausgang glücklich ist.<br />

„Wohin bringt ihr sie?“, fragt eine Dorfbewohnerin, indem sie die<br />

beiden Jungen mit neugierigem Blick mustert.<br />

„Zu meinem Onkel in Dorleben, zur Türmchenvilla“, antwortet<br />

Billy ohne Zögern.<br />

„Ah, zu Herrn Dubeler? Dort wird es ihr gut gehen, da bin ich<br />

beruhigt. Und ihre Mutter … wo ist sie? Geht es ihr wieder<br />

besser?“<br />

„Wir wissen nichts von ihr, aber mein Onkel wird sich darum<br />

kümmern.“<br />

Da fügt die Frau mit einem Lächeln hinzu: „Floria ist in guten<br />

Händen, wir können sie ohne Angst ziehen lassen. Das ist sehr<br />

glücklich für diese arme Kleine.“<br />

Während dieser Zeit hat das kleine Mädchen ein kleines weißes<br />

Paket geholt - in einem Stoff, der mit einem Knoten zugeschnürt<br />

ist.<br />

Sie bringt es triumphierend: „Da ist mein Gepäck! Sie haben alle<br />

Koffer weggebracht, nur meinen nicht! Ich habe mein Nachthemd<br />

gebraucht, um meine Sachen einzupacken und auch … die<br />

Bibel, die wunderbare Bibel.“<br />

Das sagt sie mit besonderem Druck auf ihren letzten Worten und<br />

ergänzt: „Sie ist da drinnen, ich habe sie mitgenommen! Das<br />

habe ich doch gut gemacht, nicht wahr?“<br />

Billy beeilt sich, um zu antworten: „Natürlich! Du hast gut daran<br />

getan, deine Bibel mitzunehmen. Das ist das wertvollste Gepäck,<br />

das man mit sich führen kann.“<br />

„Es ist nicht meine!“, korrigiert Flora sofort, „ich habe sie auf dem<br />

Dachboden gefunden … gehört sie nicht etwa dir? Da steht auf<br />

der ersten Seite: ‚Billy Duval in Wiesfeld. Von Seiten des<br />

79


Großpapas zu seinem zehnten Geburtstag.‘ Bist du etwa in<br />

diesem Haus zur Pension gewesen? Hast du sie vergessen?“<br />

Der junge Mann springt auf und sagt laut: „Meine Bibel … meine<br />

schöne Lederbibel! Sie haben sie mir gestohlen!“<br />

Hugo spricht dazwischen: „Wenn wir alles hier auf dem Weg<br />

klarstellen wollen, sind wir noch am Abend hier …“<br />

„Das ist wahr!“, entgegnet Billy, „komm, Floria! Gib mir dein<br />

‚Gepäck‘! Auf Wiedersehen, meine Damen, und auf<br />

Wiedersehen, Kinder!“<br />

„Auf Wiedersehen, alle zusammen!“, ergänzt Floria, indem sie<br />

mit ihrer kleinen Hand winkt.<br />

Und während die Dorfbewohner unbewegt auf ihren Plätzen sie<br />

mit Augen voller Interesse, Bedauern und fast Neid weggehen<br />

sehen, entfernen sich die drei Kinder schnell in Richtung<br />

Dorleben.<br />

80


Eine kleine Blume schläft!<br />

Die beiden Jungen sind glücklich; Floria ist nicht mehr auf ihrem<br />

Dachboden. Sie geht auf der Straße, direkt neben ihnen! Sie<br />

haben an sie so viele Fragen zu richten! Aber wo kann man<br />

beginnen?<br />

Es ist Hugo, der als Erster fragt: „Warum haben sie dich auf dem<br />

Dachboden eingeschlossen, statt dich im Garten rennen zu<br />

lassen? Und was machst du bei diesen Leuten? Sind sie deine<br />

Eltern?“<br />

„Und deine Mutter - warum ist sie nicht hier? Und warum hast du<br />

die Idee gehabt, mir zu schreiben?“, setzt Billy fort, ohne dem<br />

kleinen Mädchen Zeit zum Antworten zu lassen.<br />

Sie schaut die beiden mit vergnügten Augen an, doch plötzlich<br />

werden sie von Trauer erfüllt, während zwei Tränen unter ihren<br />

flatternden Augenbrauen zu flimmern beginnen.<br />

Sie hält an - und plötzlich sagt sie ängstlich: „Ich würde gern<br />

meine Mutti sehen … ich bin müde …“<br />

Billy antwortet in ermutigendem Ton: „Wir sind bald bei meinem<br />

Onkel; du wirst sehen, es ist dort schön. Anni hat für dich ein<br />

schönes Zimmer vorbereitet und du wirst gut schlafen. Wo ist<br />

denn deine Mutti? Wir gehen sie suchen …“<br />

„Sie ist im Auto weggefahren … sie ist krank, man hat sie ins<br />

Krankenhaus gebracht.“<br />

„In welches Krankenhaus?“<br />

„Ich weiß nicht“, antwortet Flora in bedauernswertem Ton.<br />

„Weißt du nicht, wo deine Mutti ist?“, ruft Hugo sehr erstaunt,<br />

„kennst du ihre Adresse nicht?“<br />

„Nein.“<br />

81


„Die Mutter Pick-Pick hat sie bestimmt“, schlägt Billy vor, „aber<br />

jetzt ist sie mit ihrem Mann ja weggegangen. Gehen sie weit? Ich<br />

denke, sie haben dir das nicht gesagt.“<br />

„Die Mutter Pick-Pick …“, wiederholt Floria mit einem<br />

Stirnrunzeln.<br />

„Ich wollte eigentlich ‚Frau Gerber‘ sagen“, entgegnet Billy, „um<br />

genauer zu sein und damit du besser verstehst! Dieser Name<br />

Pick-Pick ist ein Spitzname, den ich ihr gegeben habe … ich<br />

habe mich schon so sehr an ihn gewöhnt! Ich vergesse<br />

manchmal, dass sie nicht so heißt.“<br />

Das kleine Mädchen, das für einen Augenblick von ihrem<br />

Kummer abgelenkt wird, scheint sich zu amüsieren.<br />

„Oh!“, ruft sie aus, „was für ein hübscher Name! Sie trägt ihn<br />

wunderbar!“<br />

Und um Billys Frage zu beantworten, fügt sie hinzu: „Sie sind<br />

gegangen … ich weiß nicht wohin … um all ihre Schätze<br />

wegzuschaffen! All ihre schönen Schätze … und das ist wegen<br />

euch … die Räuber, die Diebe!“<br />

Während sie darauf mit Augen voller Bewunderung für die beiden<br />

Jungen lacht, sagt sie weiter: „Ihr seid tapfer! Wäre ich ein<br />

General, würde ich euch auszeichnen!“<br />

Die jungen Leute richten sich auf, sehr stolz auf sich selbst.<br />

Allerdings genügen ihnen diese Erklärungen noch nicht. Wird es<br />

wohl gelingen, seine Geschichte noch besser kennen zu lernen,<br />

wenn sie dem kleinen Mädchen noch mehr Fragen stellen? Was<br />

für eine Geduld es braucht, um diesen verwirrten Strang zu<br />

entwirren!<br />

Nach einer kurzen Stille und während sie weitergehen, fährt Billy<br />

fort: „Sind Herr und Frau Gerber etwa deine Großeltern?“<br />

„Nein!“, ruft das Kind, das sich über diese Frage sehr amüsiert.<br />

82


„Also, warum bist du bei ihnen?“, drängt Billy weiter.<br />

„Wir sind von Frankreich gekommen, weil es in der Schweiz so<br />

schön ist! Meine Mutti war müde und wollte ausruhen, und ich<br />

hatte Lust, im See zu baden …“<br />

„Und seid ihr hierher auf einen Besuch gekommen?“, unterbricht<br />

Hugo, während Billy ihm einen schiefen Blick zuwirft, als wollte<br />

er ihm sagen: „Sei glücklich, dass sie redet - also hindere sie<br />

nicht daran!“<br />

„Wir waren hier zur Pension“, berichtigt Flora, „in der gleichen<br />

Wohnung, die unter dem Dach ist. Man steigt hinter dem Haus<br />

über die Eisentreppe hoch. Aber als meine Mutti mit dem Auto<br />

weggefahren war, hat Frau Gerber zu mir gesagt: ‚Floria, du<br />

kannst nicht mehr hierbleiben. Es kommen andere Leute in diese<br />

Zimmer, es hat keinen Platz für dich, aber ich will dich trotzdem<br />

behalten …“<br />

Das kleine Mädchen schließt mit einem Seufzen: „Sie hat mich<br />

auf den Dachboden geführt und die Tür mit dem Schlüssel<br />

geschlossen!“<br />

„Und sind diese Leute gekommen?“<br />

„Nein, ich glaube nicht … ich habe nichts gehört.“<br />

„Das waren vielleicht die Leute im Auto, das gestern vor dem<br />

Haus gehalten hat“, schlägt Hugo vor, „der Ort hat ihnen nicht<br />

gepasst und so sind sie sofort wieder weggefahren …“<br />

Flora ist müde … sie sagt nichts mehr … sie scheint schläfrig zu<br />

sein. Sie senkt den Kopf und verlangsamt den Schritt.<br />

„Wir kommen näher“, sagt Billy, „siehst du dieses Haus mit den<br />

Türmchen? Dort wohnt mein Onkel.“<br />

„Glaubst du, er wird wissen, wo meine Mutter ist?“<br />

„Er wird sich informieren und wir werden sie sicher wieder<br />

finden.“<br />

83


Das Kind ist zufrieden; das ist alles, was es zu wissen wünschte.<br />

Es fällt wieder in sein Schweigen - und um es nicht zu verärgern,<br />

bleiben die beiden Jungen ebenfalls still.<br />

Sie erreichen das Tor und gehen die Hortensienallee hoch. Anni<br />

taucht am Fenster des Speisesaals auf und ruft: „Oh! Was für<br />

eine schöne Überraschung!“<br />

Sie eilt zum Vorbau, nimmt das kleine Mädchen in ihre Arme,<br />

drückt ihr einen Kuss auf die Stirn und ruft: „Wie hübsch sie ist!<br />

Wie niedlich sie ist! Hast du keine Angst gehabt, die Leiter<br />

herunterzusteigen?“<br />

Flora schaut die Hausangestellte ganz überrascht an, während<br />

Billy klarstellt: „Wir haben keine Leiter gebraucht! Sie ist durch<br />

die Tür herausgekommen!“<br />

Und in wenigen Worten erzählt er Anni, was geschehen ist, und<br />

schließt: „Ich glaube, Flora ist sehr müde. Ich habe den Eindruck,<br />

sie hat in dieser Nacht nicht gut geschlafen - und das aus gutem<br />

Grund!“<br />

Das Kind, das plötzlich so glücklich ist, hängt sich an Annis Arm<br />

und sagt: „Ich habe gewartet … und um nicht einzuschlafen,<br />

zählte ich die Sterne, die ich am Himmel sah. Als ich den Lärm<br />

der Gartentür hörte, dachte ich: Das sind jetzt die Jungen! Und<br />

ich begann, Angst zu haben … echte Angst … so habe ich für<br />

euch zu Gott gebetet - und auch für mich! Und dann hat der alte<br />

Herr plötzlich ‚Diebe!‘ geschrien. Ich habe gehört, wie ihr schnell<br />

gerannt seid, sehr schnell. Nachher habe ich mich ins Bett gelegt<br />

und geweint. Ich habe gefürchtet, Herr Gerber würde zu meinem<br />

Dachboden hochsteigen. Er war zornig, er sprach sehr laut, er<br />

machte einen solchen Lärm; so konnte ich nicht einschlafen“,<br />

schließt das kleine Mädchen mit einem Gähnen.<br />

„Das Einfachste ist, jetzt ins Bett zu gehen“, erklärt Anni,<br />

während sie das Kind hochträgt, „ich habe für dich ein hübsches<br />

Bett vorbereitet.“<br />

84


Aber Hugo ist noch nicht zufrieden. Er würde gern noch mehr<br />

wissen und drängt, indem er den Satz des kleinen Mädchens<br />

wiederholt: „Du konntest also nicht einschlafen?“<br />

„Nein … die ganze Nacht sind sie herumgelaufen und haben<br />

geredet! Sie waren sicher, dass ihr Diebe wart, und haben<br />

beschlossen, all ihre Reichtümer und ihr Geld sowieso<br />

wegzuschaffen … ich weiß nicht wohin, in ein anderes Haus. Sie<br />

waren in Panik und dachten überhaupt nicht mehr an mich. Ich<br />

musste heute Morgen besonders stark an die Tür hämmern,<br />

damit sie diese öffnete und ich mich im Badezimmer waschen<br />

konnte. Es war nicht mehr so wie an den anderen Tagen; sie<br />

ließen mich alles machen, ohne mich zu überwachen. Und beim<br />

Frühstück war ich ganz allein in der Küche! Ich habe das<br />

ausgenützt und einen schönen Toast gegessen - umso<br />

schlimmer für meine Diät!“<br />

Und das kleine Mädchen bricht in lautes Lachen aus.<br />

„Was für eine Diät?“, fragt Anni erstaunt.<br />

„Ja, Frau Gerber hat gesagt, ich müsse eine Diät machen und<br />

kein Fleisch essen, aber auch keine Schokolade und keine<br />

Patisserie und vor allem keine Milch trinken.“<br />

„Und was gaben sie dir?“<br />

„Am Morgen Brot und Wasser, am Mittag Früchte und Pudding,<br />

am Abend Haferbrei … und alle Tage das gleiche Menü! Das war<br />

nicht lustig für mich, die doch so viele gute Sachen liebt! Aber<br />

das Schlimmste“, schlussfolgert Floria, „war eindeutig, dass sie<br />

mir verboten, aus dem Haus zu gehen, und ich hätte mich so<br />

gern wieder mit meiner Mutti vereinigt …“<br />

Erneut scheint ein Licht der Hoffnungslosigkeit in den Augen des<br />

kleinen Mädchens.<br />

„Komm!“, drängt die Hausangestellte, „du musst jetzt ausruhen.<br />

Ich bin sicher, dass du in wenigen Tagen wieder bei deiner Mutti<br />

85


sein wirst.“<br />

„Während Flora schläft, gehen wir baden“, schlägt Hugo vor, „wir<br />

hatten diese Absicht schon heute Morgen früh …“<br />

„Und wir haben es gut gemacht, dass wir von dieser Absicht<br />

wieder abgerückt sind!“, erwidert Billy, „wären wir sofort zum See<br />

gegangen, wäre Flora jetzt nicht hier.“<br />

„Das ist wahr, so gesehen wird uns das Baden noch mehr Spaß<br />

machen“, schließt der jüngere und geht mit seinem Bruder weg,<br />

während Anni das kleine Mädchen in ihr Zimmer trägt.<br />

Nach einem guten Bad und einem ausgezeichneten Essen<br />

spielen Billy und Hugo vor dem Haus eine Partie Mini-Golf auf<br />

dem Rasen.<br />

Und Flora schläft immer noch!<br />

Schon dreimal hat Anni vorsichtig die Tür des Zimmers geöffnet,<br />

wo sie das kleine Mädchen untergebracht hat, aber das Kind hat<br />

sich nicht bewegt. Ihr gleichmäßiger Atem, ihre Ruhe und der<br />

rosige Ausdruck ihrer Wangen - alles sagt aus, dass sie gut<br />

schläft, mit einem glücklichen und tiefen Schlaf.<br />

Die beiden Jungen werden ungeduldig. Wird sie wohl nicht bald<br />

aufwachen?<br />

-----------------------------------------------------------------------------------<br />

Während die Holzbällchen, die sie mit einem trockenen und<br />

unerschütterlichen Lärm anspielen, auf dem Gras rollen und<br />

gleichsam wie fern auf ihren Wegen spazieren gehen, ist zu<br />

hören, wie ein Auto beim Gartentor hält.<br />

Anni beeilt sich, um auf der Veranda das Tor zu öffnen, und der<br />

Wagen fährt auf dem Kies langsam vor.<br />

„Onkel Moritz!“, ruft Billy, während er sein Spiel verlässt.<br />

Hugo folgt ihm und die beiden erreichen das Auto genau dann,<br />

86


als die Reisenden aussteigen.<br />

Sie sind glücklich darüber, dass sie sich wiedersehen, und Billy<br />

ist stolz darauf, dass er seinen Bruder Herrn und Frau Dubeler,<br />

die ihn noch nicht kennen, vorstellen kann.<br />

„Wir haben es sehr bedauert, dass wir für eure Ankunft nicht da<br />

waren“, sagt Tante Lilian, „ich hoffe, ihr habt euch nicht allzu<br />

stark gelangweilt.“<br />

„Oh, überhaupt nicht!“, antwortet Billy, „wir haben genug<br />

Abenteuer gehabt, um uns zu zerstreuen. Aber wir sind<br />

zufrieden, dass ihr jetzt zurück seid; wir brauchen eure Hilfe und<br />

eure Ratschläge …“<br />

Die Ankommenden schauen die Kinder mit leicht überraschtem<br />

Blick an.<br />

„Abenteuer?“, wiederholt Onkel Moritz, „was ist denn<br />

geschehen? Es ist wahr, Billy, dass du diese Gewohnheit hast.<br />

Aber dieses Jahr bist du doch nicht weggereist, um deine Eltern<br />

zu entdecken! Was anderes hast du also erfunden?“<br />

„Das ist eine lange Geschichte“, sagt der junge Mann mit sehr<br />

ernstem Gesicht.<br />

„Also gut! Spielt eure Partie Mini-Golf zu Ende, während wir<br />

hochgehen, um einen Moment auszuruhen!“, entgegnet Tante<br />

Lilian, „wir schließen uns euch dann an und wir werden den Rest<br />

des Nachmittags haben, um euch zuzuhören.“<br />

Während Herr Dubeler eine Hand auf Hugos Schulter legt, erklärt<br />

er: „Wenn du schon Billys Bruder bist, bin ich auch dein Onkel!“<br />

„Oh, Danke!“, ruft der große Junge erfreut, „danke, Onkel Moritz!“<br />

„Psst, ihr müsst euch im Haus sachte bewegen!“, flüstert Billy,<br />

während die Hausherren die Veranda hochgehen.<br />

Die beiden schauen sich erstaunt an und fragen ihn: „Warum?<br />

Denkst du, die Mäuse sind während unserer Abwesenheit<br />

87


eingeschlafen?“<br />

„Nein!“, antwortet Billy, „es sind nicht die Mäuse, die schlafen,<br />

sondern es ist eine kleine Blume … weckt sie nicht!“<br />

„Was für eine rätselhafte Sprache!“, sagt Onkel Moritz.<br />

„Und poetisch!“, fügt Tante Lilian amüsiert hinzu, „aber ich<br />

verstehe! Anni hat das Haus für eure Rückkehr mit Blumen<br />

geschmückt und ihr habt ihr bei dieser Arbeit geholfen. Beruhige<br />

dich, Billy! Am helllichten Tag schlafen die Blumen nicht.“<br />

Der Junge schüttelt den Kopf, aber er sagt nichts und geht wieder<br />

zum Rasen, während der Onkel und die Tante das Haus<br />

betreten.<br />

Eine Stunde später kommen Herr und Frau Dubeler zurück, um<br />

sich im Garten einzurichten. Die Jungen schließen sich ihnen an<br />

und setzen sich in den Schatten unter die Frische der Bäume.<br />

Billy fragt sie beunruhigt sofort: „Und die kleine Blume - ist sie<br />

aufgewacht?“<br />

„Ja, ja“, antwortet Tante Lilian mit schelmischem Blick in den<br />

Augen.<br />

„Ich gratuliere euch“, fügt Herr Dubeler hinzu.<br />

„Habt ihr sie gesehen?“, unterbricht Hugo.<br />

Tante Lilian und Onkel Moritz schauen die Kinder an, ohne den<br />

Sinn dieser Fragen richtig zu verstehen.<br />

„Wir haben sie alle gesehen“, antwortet die ältere Dame, „der<br />

Blumenstrauß im Wohnzimmer ist besonders gut geraten. Ich<br />

gratuliere euch ebenfalls …“<br />

Billy und Hugo schauen sich verlegen an und lachen dann auf<br />

einmal.<br />

„Billy!“, beeilt sich Hugo zu sagen, „es ist Zeit geworden! Erzähl<br />

also! Sie wird aufwachen, noch bevor du alles gesagt hast.“<br />

88


Auf diese Weise herausgefordert macht der junge Mann sofort<br />

ein besorgtes und ernstes Gesicht. Wie soll er nur beginnen?<br />

Was werden die beiden älteren Leute sagen? Werden sie ihnen<br />

nicht eine Schuld aufhalsen?<br />

Wäre es nicht besser gewesen, auf ihre Rückkehr und ihre<br />

Ratschläge zu warten, bevor sie etwas taten?<br />

Billy ist verwirrt und es ist ihm nicht wohl; er zögert noch, zu<br />

sprechen, und trotzdem gibt es keine Zeit zu verlieren. Von<br />

einem Augenblick auf den anderen kann Floria aufwachen und<br />

bis dahin muss alles erklärt werden, bevor sie herunterkommt.<br />

Er holt aus seiner Hosentasche den geheimnisvollen Brief, den<br />

er vor zehn Tagen erhalten hat, legt ihn auf die Knie seiner Tante<br />

und beginnt seine Erzählung. Hugo kommt ihm zu Hilfe, wenn er<br />

eine wertvolle Einzelheit vergisst, und der interessierte Blick<br />

seines Onkels und die leuchtenden Augen ermutigen die beiden,<br />

ihre Erzählung fortzusetzen.<br />

„Ihr seid mutige Jungs!“, sagt der ältere Herr, „was mich betrifft,<br />

hätte ich sicher anders gehandelt, aber das Ergebnis wäre<br />

vielleicht weniger glücklich ausgefallen. Die unüberlegte<br />

Kühnheit der jungen Leute ist nicht zu verachten … sie kommt<br />

oft besser zum Ziel als die Weisheit des reifen Alters. Nehmt<br />

meine Ratschläge trotzdem an!“<br />

„Oh, gern!“, ruft Billy heiß.<br />

Die Haltung seines Onkels tut ihm gut; sie gibt ihm Vertrauen und<br />

erfüllt ihn mit Freude und Hoffnung.<br />

„Als Erstes müssen wir über das kleine Mädchen so viele<br />

Erkundigungen wie möglich einholen“, sagt er weiter, „morgen<br />

werde ich mit dem alten Herrn Gerber telefonieren.“<br />

Hugo springt auf und fragt: „Werden Sie etwa Herrn Gerber<br />

anrufen?“<br />

„Aber sicher! Und ich werde ihn dazu bringen, mir die Adresse<br />

89


von Florias Mutter zu geben.“<br />

Ein schwerer Stein fällt Billy vom Herzen; sie sind nicht mehr<br />

allein, um ihr Abenteuer weiter zu verfolgen. Jetzt haben sie<br />

einen starken Verbündeten: Herr Dubeler wird keine Ruhe<br />

geben, bis er die Mutter der kleinen Blume wiederfindet, die<br />

friedlich im Vergessen ihrer Sorgen schläft.<br />

90


Ein schönes weißes Kleid<br />

Während Herr und Frau Dubeler mit den Jungen noch plaudern,<br />

öffnet sich eine Tür, und Anni, die ein kleines Mädchen stolz an<br />

der Hand hält, nähert sich der Gruppe auf dem Rasen.<br />

Tante Lilian zieht Floria, die nahe bei ihr steht, zu sich und sagt<br />

mit einem verständnisvollen Blick zu den beiden Brüdern: „Sie ist<br />

endlich aufgewacht, die kleine Blume! Guten Tag, große<br />

Tochter!“<br />

„Guten Tag, meine Dame!“, sagt Flora mit einem strahlenden<br />

Lächeln, „ich habe so gut geschlafen! Es ist hier sehr hübsch …“<br />

Und sie schaut um sich, in dem sie jeden Einzelnen mit einem<br />

entzückten Blick anschaut. Als sie jedoch auf den Knien von Frau<br />

Dubeler den Brief sieht, ruft sie: „Oh la la! Ich habe schlecht<br />

geschrieben! Und die anderen - wo sind sie?“<br />

„Die anderen?“, ruft Billy erstaunt.<br />

„Die anderen Briefe, die ich dir geschickt habe …“<br />

„Ich habe nur einen erhalten - diesen hier und keinen anderen.“<br />

„Aber“, unterbricht Hugo brüsk, „dieser weiße Umschlag, den wir<br />

auf dem Dach gesehen haben, das war vielleicht ein Brief an<br />

deine Adresse …“<br />

„Ich habe vier davon gemacht“, erklärt das kleine Mädchen, „aber<br />

ich weiß nicht, ob alle bis zur Straße gelangt sind. Ich habe sie<br />

in einem Schlitz meines langen Stocks gleiten lassen, ich bin auf<br />

meinen Stuhl gestiegen und dann … und dann habe ich es so<br />

gemacht …“<br />

Und sie hebt ihre kleinen Hände kräftig, um die Bewegung beim<br />

Holzhacken zu zeigen.<br />

Lachend setzt sie fort: „Das war schwierig; der Umschlag wollte<br />

91


einfach nicht hinunterfallen und ich glaube, er ist in der Dachrinne<br />

hängen geblieben.“<br />

„Warum hast du an Billy Duval geschrieben?“, fragt Frau<br />

Dubeler, während sie das Kind mit Interesse und Zuneigung<br />

anschaut.<br />

„Weil ich auf dem Dachboden seine Bibel gefunden habe! Ich<br />

wusste nicht, was ich machen sollte; ich war den ganzen Tag<br />

lang allein, ohne Spielzeuge, ohne Mutti, ohne irgendetwas …<br />

um zu beginnen, habe ich geweint, ich habe sehr laut geschrien<br />

und Frau Gerber hat mich geschlagen …“<br />

Hier senkt Floria ihre Stimme traurig und ergriffen, und dann setzt<br />

sie fort: „Es ging mir schlecht … so schlecht, dass ich die ganze<br />

Nacht nicht geschlafen habe … und dann, um es zu beenden,<br />

habe ich trotzdem geschlafen. Darauf habe ich nicht mehr<br />

geweint und nicht mehr geschrien, um nicht geschlagen zu<br />

werden. Als der Schornsteinfeger kam, sperrte man mich auf den<br />

anderen Dachboden, und ich habe gesungen, damit er wusste,<br />

dass ich da war. Aber … er hat mich nicht gehört und mir die Tür<br />

nicht geöffnet …“<br />

„Aber sicher hat er dich gehört!“, wendet Billy ein, „er hat es uns<br />

gesagt!“<br />

„Also ist er nett! Ich denke, er liest die Bibel ebenfalls. Sie ist so<br />

schön, die Geschichte von Jesus. Ich habe sie ganz gelesen, als<br />

ich auf dem Dachboden war. Ich war traurig … ich weinte leise,<br />

damit man mich nicht hörte, aber der Herr Jesus hat mich<br />

getröstet, und es ist, als hätte er mich in seine Arme genommen“,<br />

sagt sie mit einem überzeugten Blick und setzt dann fort: „Billy!<br />

Als ich deinen Namen auf der Bibel sah, dachte ich: Dieser<br />

Junge, er muss wohl ein guter Junge sein. Ich werde ihm<br />

schreiben … er wird dafür sorgen, dass ich aus meinem<br />

Gefängnis herauskomme. Ich hatte Papier in meinem Koffer und<br />

hätte gern einen Brief an meine Mutti geschickt, aber ich kannte<br />

92


ihre Adresse nicht. In der Schweiz kannte ich niemanden und<br />

Frankreich … ist zu weit weg. Du siehst also, ich habe es gut<br />

gemacht! Ich war sicher, dass du kommen wirst; darum habe ich<br />

den Stock mit dem roten Gürtel so gehalten, damit du wusstest,<br />

wo ich war …“<br />

„Ein Stock mit einem Gürtel“, sagt Tante Lilian überrascht.<br />

„Ein roter Gürtel“, korrigiert Flora, „als deutlicher Ausdruck habe<br />

ich den roten Gürtel meines Kleids genommen - dieses dort!“<br />

Und sie zeigt ihr Kleid.<br />

„Warum?“, fragt Hugo neugierig.<br />

„Verstehst du nicht?“, fragt das kleine Mädchen erstaunt, „liest<br />

du denn nicht die Bibel?“<br />

Und sie fügt hinzu: „Weißt du nicht, was rot ist? Schau auf deine<br />

Venen! Sie sind blau, aber was drinnen rinnt, ist rot, wie mein<br />

Gürtel! Das Blut ist das Leben und das, was rettet - nicht wahr,<br />

Billy? Du musst es ja wissen, gerade du, weil du eine Bibel<br />

hattest.“<br />

Billy schaut Flora mit Bewunderung an und sagt: „Was du sagst,<br />

ist wahr, und wir hätten daran denken müssen, als du uns dein<br />

Signal gezeigt hast.“<br />

„Das ist ein auffallendes Bild zur purpurroten Schnur, die Rahab<br />

an ihrem Fenster befestigt hat, als Jericho eingenommen wurde“,<br />

bemerkt Frau Dubeler, „es ist zweifellos diese Geschichte aus<br />

dem Alten Testament, die dir diese Idee eingegeben hat …“<br />

Das kleine Mädchen runzelt die Stirn, denkt nach und antwortet:<br />

„Nein … ich habe diese Geschichte nicht gelesen, aber ich kenne<br />

eine andere, die auch in der Bibel steht. In Paris kam ich eines<br />

Tages von der Schule nach Hause und ein Herr kam, um mich<br />

mit meinen Kameraden einzuladen, einen großen Konferenzsaal<br />

zu betreten. Ganz hinten im Saal gab es eine Tür und ein anderer<br />

93


Herr trat ein: Er hatte einen Farbtopf und einen Pinsel. Er bestrich<br />

den Türrahmen mit Farbe und sagte uns, dass die Juden, die in<br />

Ägypten Gefangene waren, bei ihrer Flucht das gleiche Zeichen<br />

mit dem Blut eines Lammes angebracht hatten … es ist das Blut,<br />

das sie gerettet hat … der Engel Gottes sah das Rote und<br />

deshalb starben sie nicht wie die Erstgeborenen der Ägypter. Als<br />

ich auf meinem Dachboden war, sagte ich mir: Das ist es! Mein<br />

Dachboden ist Ägypten! Die Ägypter sind Herr und Frau Gerber<br />

- und das Tor zu meiner Flucht ist das Dachfenster! Wenn ich auf<br />

rot setze, wird Gott es sehen und mich retten. Das war sehr<br />

einfach und durchaus erfolgreich. Zum Glück war mein Gürtel<br />

nicht schwarz!“<br />

„Tatsächlich“, bemerkt Tante Lilian, „man hätte ihn nicht gut<br />

gesehen.“<br />

„Wenn er schwarz gewesen wäre! …“, ruft das kleine Mädchen<br />

wie gelehrt, „ich war verloren! Das ist wie mein Herz … vorher<br />

war es schwarz, aber schwarz, weil ich manchmal schlecht war<br />

und meiner Mutti viel Kummer bereitet habe. Ich musste also<br />

auch rot aufsetzen und es ist der Herr Jesus, der gestorben ist,<br />

und sein Blut hat mich gerettet.“<br />

Während sie sich Hugo zuwendet, sagt sie weiter: „Dein Herz ist<br />

vielleicht auch schwarz. Ich rate dir, dem Herrn Jesus zu sagen,<br />

dass er sein Blut obenauf setze. Es wird ganz weiß und wenn du<br />

in den Himmel gehst, wird dir Gott ein weißes Kleid ohne Flecken<br />

geben, weil die schwarzen Kleider … es ist verboten, dass diese<br />

dort eintreten.“<br />

Der junge Mann, an den sich dieser Satz richtet, schaut das Kind<br />

mit verlegenem Gesicht an. Alles, was sie gerade gesagt hat,<br />

weiß er schon seit langem … auch er besitzt eine Bibel, die er<br />

manchmal am Abend liest, bevor er einschläft, und die Worte des<br />

Evangeliums sind ihm vertraut. Er geht regelmäßig zur<br />

Sonntagsschule, er singt die Lieder mit Vergnügen und er schläft<br />

94


nicht ein, ohne jeden Tag zu beten. Und trotzdem klingen die<br />

Worte des kleinen Mädchens in seinen Ohren und machen ihn<br />

unruhig: „Dein Herz ist vielleicht auch schwarz.“<br />

Er antwortet nichts und es scheint ihm, er würde von einem<br />

Traum herauskommen, als Frau Dubeler das Schweigen bricht,<br />

indem sie sagt: „Kleine Flora, ich bin glücklich darüber, was du<br />

sagst. Du hast das Wort Gottes so gut verstanden. Du hast<br />

Recht, das Blut Jesu reinigt uns von aller Sünde.“ (1. Johannes<br />

1, 7)<br />

Hugo hat nur noch eine Lust: Das Thema zu wechseln. Deshalb<br />

fragt er: „Und was ist mit dem weißen Tuch, das wir gesehen<br />

haben?“<br />

„Oh! Ich war auf meinen Stuhl gestiegen, um mich dem<br />

Dachfenster anzunähern und die gute Luft der Schweiz<br />

einzuatmen … aber ich habe nur den blauen Himmel und nichts<br />

anderes gesehen. So habe ich begonnen, leise zu weinen, und<br />

habe mein Tuch herausgezogen, um mir die Augen zu trocknen.<br />

In diesem Moment habe ich gehört, wie jemand auf der Straße<br />

sprach, und ich habe es genommen, um denen, die<br />

vorbeigingen, ‚guten Tag‘ zu sagen. Und plötzlich hat man mir<br />

laut zugerufen: ‚Floria! … Floria!‘ Ich war zufrieden, sehr<br />

zufrieden, und habe mein Tuch noch mehr hin- und herbewegt.<br />

Und dann … habe ich mir gesagt: Es ist Billy Duval, der mich<br />

befreien kommt! Ich bin schnell von meinem Stuhl<br />

heruntergesprungen, ich habe den Stock genommen, ich bin<br />

wieder aufgestiegen und habe mit ihm auf dem Dach gewunken,<br />

damit ihr ihn sehen konntet.“<br />

Frau Dubeler, die bis jetzt schweigend zugehört hat, zieht das<br />

kleine Mädchen zu sich und fragt sie: „Wohnst du mit deinem<br />

Vater und deiner Mutter etwa in Paris?“<br />

„Papa ist tot“, antwortet Floria, „schon vor langer Zeit, als ich<br />

noch ein so kleines Mädchen war …“<br />

95


Sie macht mit einer Hand eine pummelige und anmutige<br />

Bewegung, indem sie sich gegen den Boden bückt - so tief, dass<br />

Billy zu lachen beginnt und sagt: „Du warst ja nicht grösser als<br />

ein Stiefel!“<br />

Während sie noch plaudern, taucht Anni am Fenster des<br />

Speisesaals auf; sie läutet mit einer kleinen Glocke und ihr Ruf<br />

ist ein Willkommensgruß. Sie hat für die Rückkehr ihrer<br />

Hausherren und auch für die Ankunft des Kindes mit dem roten<br />

Gürtel ein Festessen vorbereitet.<br />

------------------------------------------------------------------------------<br />

Am Ende dieses schönen Tages, als die Stille der Nacht sich<br />

über die Türmchenvilla legt und alle sich von den Mühsalen und<br />

den erlebten Emotionen während der heißen Tagesstunden<br />

erholen, schläft Flora mit dem köstlichen Gefühl ein, nicht mehr<br />

auf einem garstigen und dunklen Dachboden zu sein, sondern<br />

im Gegenteil in einem hübschen Bett - und umgeben von Leuten,<br />

die sie lieben und beschützen wollen.<br />

Im obersten Stockwerk, im Zimmer der beiden Jungen, ist alles<br />

ruhig, die Augen sind geschlossen; es scheint so, dass jeder<br />

schläft. Trotzdem dringt aus Hugos Bett ein tiefes Seufzen,<br />

darauf hört man den jungen Mann zurückkehren und noch einmal<br />

seufzen.<br />

Er ist immer noch hellwach, weil ein Satz in seinem Gehirn<br />

hämmert und ihn am Einschlafen hindert. Die kleine Stimme von<br />

Flora klingt immer noch in seinen Ohren: „Dein Herz ist vielleicht<br />

auch schwarz …“<br />

Hugo seufzt - ist es nicht dumm, sich so durcheinanderbringen<br />

zu lassen?<br />

Also dann! Am besten schlafen und nicht mehr daran denken!<br />

Er hat seine Bibel gelesen, sein Gebet wurde nicht vergessen …<br />

übrigens ist er sehr zufrieden und sogar stolz darüber, was er<br />

96


heute alles getan hat. Hat er nicht geholfen, ein armes kleines<br />

Mädchen zu befreien? Er hat sich nichts vorzuwerfen …<br />

Warum hat sie sich mehr an ihn als an die anderen gewandt, als<br />

sie diese Worte ausgesprochen hat? Sein Herz ist nicht so<br />

schwarz! …<br />

Aber … ist es wirklich weiß, völlig weiß? Hat er schon Gott<br />

gebeten, ihn zu waschen?<br />

Hugo ist aufrichtig; während er sich selbst prüft, muss er<br />

zugeben, dass viele Dinge dunkle Punkte in sein Herz werfen -<br />

und so gut, dass ihm das selbst dunkel vorkommt.<br />

Ist er nicht ein krasser Spötter? Oft brüsk, sehr stolz und von sich<br />

eingenommen … manchmal wenig geeignet in der Schule und<br />

gegen jede Ordnung. Hat man ihn für seinen Egoismus nicht<br />

schon zurechtgewiesen?<br />

Er hält inne … verstört!<br />

Die Liste seiner Fehler und seiner Vergehen ist schon so lange -<br />

es ist besser, nicht fortzufahren.<br />

Der junge Mann staunt über sich selbst: Tränen rinnen über<br />

seine Wangen und werden sein Kopfkissen benetzen. Eine tiefe<br />

Not überwältigt ihn … er hat oft den Eindruck, mit schmutzigen<br />

und zerrissenen Kleidern angezogen zu sein.<br />

Er erstickt daran … er ist unglücklich!<br />

Und ohne dass er daran denkt und ohne dass er sich darum<br />

bemüht hat, um sich daran zu erinnern, schwingt ein Refrain in<br />

seinem Herzen mit - er hört wieder die Worte:<br />

Weiß, weißer als Schnee,<br />

Weiß, weißer als Schnee,<br />

Gewaschen im Blut des Lammes,<br />

Mein Herz ist weißer als der Schnee.<br />

97


Das ist es … das ist das Heilmittel für seine Verzweiflung - und<br />

er stammelt: „Herr Jesus, wasch mich, damit ich weiß bin!<br />

Bedeck mich mit deinem Blut!“<br />

Diese paar Worte, die er vom Grund seines Herzens ausgedrückt<br />

hat, steigen zum Himmel auf - und als Antwort auf seine Bitte<br />

erfüllen eine große Süßigkeit und ein tiefer Friede sein ganzes<br />

Wesen. Es gibt keinen <strong>Zwei</strong>fel mehr daran, dass Gott ihn erhört<br />

hat. Es ist ihm vergeben worden, er ist gerettet; seine<br />

abgewetzten Kleider sind durch das schöne weiße Kleid ersetzt<br />

worden, von dem Floria gesprochen hat - das einzige Gewand,<br />

das man in der himmlischen Stadt sehen wird.<br />

Plötzlich scheint es ihm, dass eine ganze Kohorte von Engeln<br />

schöne Melodien singt. Wie glücklich er ist! Er ist überwältigt vor<br />

Freude und springt aus seinem Bett.<br />

Ohne sich darüber zu sorgen, dass er den Schlaf seines Bruders<br />

unterbrechen könnte, tastet er sich an ihn heran, und während er<br />

seinen trägen Arm auf der Decke ergreift, schüttelt er ihn und<br />

sagt laut: „Billy! Billy!“<br />

Der ältere, der von einem Traum aussteigt, öffnet sachte die<br />

Augen und sagt dabei mit ängstlicher Stimme: „Ich habe den<br />

Alten gesehen … er rennt! er rennt! Er wird uns erwischen …<br />

Hugo! Retten wir uns! … lass mich! Lass mich! …“<br />

Hugo schüttelt die Schulter seines Bruders stärker und ruft<br />

fröhlich: „Wach endlich auf, Billy!“<br />

Der Schläfer, der plötzlich ruhig und erstaunt ist, schaut ihn an<br />

und fragt: „Warum denn? Es ist noch nicht Morgen … was geht<br />

vor?“<br />

„Ich bin so glücklich!“, ruft Hugo, „ich muss es dir sagen! …“<br />

In der Nacht sieht Billy das Gesicht seines jüngeren Bruders nicht<br />

genau, aber das Schwingen in seiner Stimme lässt ihn<br />

verstehen, dass soeben etwas sehr Schönes und Feierliches<br />

98


geschehen ist …<br />

„Ich rate“, sagt der große Bruder einfach, „ich habe gesehen,<br />

dass die Frage von Floria dich traurig gemacht hat.“<br />

„Sie hat es richtig gemacht, dass sie so mit mir gesprochen hat.“<br />

„Hugo“, erwidert Billy mit ein wenig Bedauern in der Stimme, „ich<br />

bin fast eifersüchtig - und das ist mein Fehler.“<br />

„Drück dich deutlich aus! Ich verstehe nicht.“<br />

„Es ist schon ein Jahr, dass wir zusammen sind, und ich habe dir<br />

nichts davon gesagt … mit Flora ist es nicht einmal ein Tag, dass<br />

sie uns kennt, und sie hat es schon besser gemacht als ein<br />

Prediger.“<br />

„Oh, Billy! Sei bitte glücklich mit mir! Du hast viel für das gemacht,<br />

was ich an diesem Abend empfinde, denn wir haben dank dir<br />

Flora kennen gelernt. Übrigens hat deine Lebensweise seit<br />

einem Jahr, in dem ich mit dir lebe, mich mehr beeinflusst als<br />

eine schöne Predigt.“<br />

„Danke, Hugo!“, sagt Billy beruhigt, „ich bin auch so zufrieden wie<br />

du.“<br />

„Und du wirst es noch mehr sein, wenn ich dich schlafen lasse.“<br />

„Vielleicht“, entgegnet der junge Mann kurz nickend und schließt<br />

wieder seine Augen, während sein Bruder zu seinem eigenen<br />

Bett zurückkehrt.<br />

Die Stille regiert wieder im Zimmer und die Frische der Nacht<br />

bringt einen beruhigenden Atem bis zu den Kopfkissen der<br />

beiden Kinder, die endlich einschlafen.<br />

99


Vor der Abreise<br />

Nach einer guten Nacht sind alle im Speisesaal beim<br />

Mittagsmahl vereint. Floria lässt sich eine Tasse Schokolade<br />

schmecken.<br />

Mit strahlenden Augen vor Freude sagt sie laut: „Was für eine<br />

Diät! Frau Gerber wäre wütend, wenn sie mich sehen würde.“<br />

„Ich werde mit ihr telefonieren“, erklärt Herr Dubeler und sagt<br />

dann, während er das kleine Mädchen anschaut: „Aber zuerst<br />

muss ich noch den Namen deiner Mutter wissen.“<br />

„Das ist wahr!“, entgegnet Billy, „wir wissen noch nicht einmal,<br />

wie du heißt. Dein Brief war einfach adressiert: Floria.“<br />

„Aber, aber!“, ruft das Kind fast erstaunt darüber, dass man ihren<br />

Namen nicht kennt, „ich bin Flora Janin und meine Mutti heißt<br />

Yvonne. Kann ich sie schon heute sehen?“<br />

„Vielleicht“, sagt Herr Dubeler, während er vom Tisch aufsteht,<br />

„ich werde sofort telefonieren …“<br />

Und er geht aus dem Zimmer, während Billy in einem<br />

ermutigenden Ton bestätigt: „Ich bin sicher, dass du deine Mutti<br />

bald sehen wirst. Du weißt … ich verstehe dich! Im letzten Jahr<br />

habe ich meine gesucht und das war viel schwieriger … ich<br />

wusste nicht einmal ihren Namen.“<br />

Floria schaut den großen Jungen mit voll überraschten Augen<br />

an: „Du hast ihren Namen nicht gewusst?“<br />

Und sie bricht in Lachen aus, während sie ergänzt: „Das ist nicht<br />

möglich! Sie heißt wie du: Duval! Du erzählst Blödsinn!“<br />

„Aber nein!“, erwidert der junge Mann, dem der verwirrte Blick<br />

des kleinen Mädchens Spaß bereitet, „ich war ein verlorenes<br />

Kind. Und jetzt ist mein Name Billy von Löwen; ich habe meine<br />

Eltern wieder gefunden.“<br />

100


„Was erzählst du da?“, sagt das kleine Mädchen, während es mit<br />

der Hand über die Stirn fährt, „oh la la! Was für eine Geschichte!<br />

Warum warst du verloren? Hier gibt es nur Dörfer, man kann sich<br />

also gar nicht verlieren. Das ist zu klein. Wenn du nach Paris<br />

kommen würdest … dort hat es Häuser und Straßen! Dort<br />

würdest du dich verlieren - und schon am ersten Tag…“<br />

Billy und Hugo brechen in schallendes Gelächter aus.<br />

Das Kind scheint darüber beleidigt zu sein: „Das ist wahr! Meine<br />

Mutti fährt immer mit der U-Bahn, um zu arbeiten … sie macht<br />

Löcher in die Fahrkarten, welche die Leute ihr geben. Aber sie<br />

will nicht, dass ich dorthin gehe, um sie zu sehen, und hat mir<br />

gesagt: ‚Floria, wenn du aus der Schule kommst, musst du nach<br />

Hause zurückkehren, sonst wirst du deinen Weg nicht mehr<br />

zurückfinden.‘ - Ich gehorchte ihr und habe mich nie verloren …“<br />

„Billy war noch ein ganz kleines Kind, als er verloren ging“, beeilt<br />

sich Hugo, um das aufzuklären.<br />

Die Tür öffnet sich; Onkel Moritz erscheint und unterbricht das<br />

Gespräch - jeder schaut ihn von der Seite an.<br />

„Es ist unmöglich, von diesem jähzornigen Blödmann auch nur<br />

die geringste Auskunft zu bekommen“, sagt Herr Dubeler<br />

verärgert.<br />

„Hat er dir geantwortet?“, fragt Billy, „war er also schon zurück?“<br />

„Ja, aber er war wütend, weil man ihn störte. Er wollte wissen,<br />

aus welchem Grund ich wünschte, die Adresse von Frau Janin<br />

zu erfahren. Er hat behauptet, es sei unnötig, sie mir zu geben,<br />

weil Besuche bei der Kranken untersagt seien, und als ich darauf<br />

bestand, hat er das Telefon aufgehängt …“<br />

„Oh!“, ruft Billy empört, „weiß er, dass Flora hier ist?“<br />

„Nein! Ich habe es vermieden, ihn darüber zu informieren. Wenn<br />

es mir aber nicht gelingt, Auskünfte zu bekommen, muss ich ihm<br />

wohl sagen, warum ich auf diesen Schritten bestehe.“<br />

101


Flora macht ein ängstliches Gesicht und stöhnt: „Nun denn … ich<br />

werde mich im Keller verstecken. Wenn er davon erfährt, dass<br />

ich bei euch bin, wird er mich holen und mir Schläge geben, weil<br />

ich mich davongemacht habe …“<br />

„Und wenn er in uns die Diebe und Räuber von vorgestern Abend<br />

wieder erkennt“, fügt Hugo hinzu, „werden wir kein heißeres<br />

Willkommen haben.“<br />

Herr Dubeler scheint nachzudenken.<br />

„Ich denke“, sagt er dann langsam und wie mit Bedauern, „es<br />

wäre vorzuziehen, dass ihr alle drei verreist. Ich kann leichter<br />

vorgehen, wenn ich weiß, dass ihr weit weg von hier seid. Ich<br />

sehe nicht voraus, wie das Ergebnis sein wird. Ich gehe ins Dorf<br />

zu den Nachbarn, zum Alten und wenn nötig zum Polizeiposten.“<br />

„Gehen wir nach Monterau zu Billys Freund!“, schlägt Hugo vor,<br />

„wir hatten diese Absicht schon gestern.“<br />

„Nein“, sagt Herr Dubeler, „es ist mir lieber, ihr kehrt nach Hause<br />

zurück und nehmt Floria mit euch. Ich bringe euch diesen<br />

Nachmittag mit dem Auto hin. Ich sehe bereits die Freude meiner<br />

Schwester, die Bekanntschaft mit diesem kleinen Mädchen zu<br />

machen.“<br />

„Das ist wahr, Großmutter wird glücklich sein“, entgegnet Billy.<br />

Und während er sich dem Mädchen zudreht, das schweigend<br />

den Entscheidungen zuhört, die über sie gefällt werden, fügt er<br />

noch hinzu: „Ich habe eine so gute Großmutter! Du wirst sie<br />

sehen und du wirst sie lieben … sie war es, die sich um mich<br />

gekümmert hat, als ich noch klein war. Ich werde dir meine ganze<br />

Geschichte erzählen und du wirst verstehen, warum man sich<br />

auch ohne in Paris zu leben verlieren kann.“<br />

„Aber“, wendet Hugo ein, der nicht davon begeistert ist, so<br />

schnell nach Hossfeld zurückzukehren, „wir sind mit dem<br />

Fahrrad gekommen …“<br />

102


„Es wird im Auto weniger heiß sein“, bemerkt Billy, „unsere zwei<br />

Fahrräder können ganz einfach mit dem Zug nach Hause<br />

zurückkehren.“<br />

„Wenn du willst“, antwortet Hugo ohne Begeisterung, „ich hoffte,<br />

ich könnte noch einmal an der hübschen Villa vorbeifahren …“<br />

„Das ist wahr! Ich dachte überhaupt nicht mehr ans Alte Dreieck<br />

…“<br />

Herr Dubeler schaut seine Neffen fragend an: „Was gibt es<br />

noch?“<br />

„Oh!“, erklärt Hugo, „als wir kamen, sahen wir ein so schönes<br />

Haus; es hat uns beiden gefallen. Vor dieses Haus kam eine<br />

Dame, die uns rief, um uns zu fragen, ob wir nach Sankt Martin<br />

gehen und einen Arzt holen könnten; die Mutter war sehr krank.<br />

Wir hätten es geliebt, bei der Rückkehr dem gleichen Weg zu<br />

folgen und diesen Ort noch einmal zu sehen.“<br />

„Nichts hindert uns daran“, antwortet Onkel Moritz.<br />

„Das ist nicht auf der Kantonsstraße“, präzisiert Hugo, „wir hatten<br />

die Landwege eingeschlagen …“<br />

„Und du denkst, mein Wagen ist nicht stark genug, um euch<br />

dorthin zu führen?“, fragt Herr Dubeler.<br />

„Wenn dich das nicht zu sehr langweilt, diesen Umweg zu<br />

machen, wären wir darüber sehr entzückt“, schlussfolgert Billy.<br />

„Und ich?“, fragt Flora, „komme ich auch mit euch? Werde ich<br />

das schöne Haus sehen? Werde ich im Auto fahren?“<br />

„Aber sicher!“, bestätigt Tante Lilian.<br />

Das kleine Mädchen springt auf vor Freude, aber ihr Schwung<br />

hält plötzlich inne; sie wird ernsthaft und drückt mit einem<br />

Schluchzen in der Stimme aus: „Ich würde lieber Mutti sehen als<br />

dieses schöne Haus … wo ist sie denn, meine Mutti?“<br />

103


„Beruhige dich, Floria!“, sagt Herr Dubeler fürsorglich, „morgen<br />

setze ich alles daran, um sie wieder zu finden, und sobald ich<br />

kann, telefoniere ich den Eltern von Billy, die dich zu ihr führen<br />

werden. Vielleicht wirst du diese gute Nachricht schon morgen<br />

bekommen. Und jetzt eilt ihr alle drei zum Garten!“<br />

„Komm, Flora!“, sagt Billy, indem er das kleine Mädchen an die<br />

Hand nimmt, „du wirst mir von Paris erzählen und ich werde dir<br />

meine Geschichte erzählen.“<br />

„Und ich?“, fragt Hugo enttäuscht, „habe ich nichts zu sagen?“<br />

„Ihr werdet über Dorothea plaudern, damit sie diese kennen lernt,<br />

bevor sie sie gesehen hat. Übrigens hat sich gestern Abend<br />

etwas sehr Wichtiges ereignet; das ist es, was du ihr erzählen<br />

wirst.“<br />

„Das ist wahr“, sagt Hugo mit einem Nicken.<br />

Und während er sich dem Kind zuwendet, fügt er hinzu: „Ich bin<br />

deinem Rat gefolgt … Flora!“<br />

Sie steigen von der Veranda herunter, begeben sich zu den<br />

Gartenwegen und gehen plaudernd zu einem kleinen Pavillon,<br />

der von Grünzeug bedeckt ist.<br />

Der ganze Vormittag verstreicht in den Erzählungen, die jeder<br />

vorbringt, und als die Mittagsglocke läutet, springen sie auf -<br />

erstaunt darüber, dass die Zeit so schnell vorbeigegangen ist.<br />

Jetzt liegt eine klare Rennbahn vor ihnen und es gibt ein Rennen,<br />

wer zuerst im Speisesaal ankommt - und natürlich haben sich die<br />

Jungen das Wort gegeben, dass Flora gewinnen soll. Sie erreicht<br />

das Ziel triumphierend, als die beiden Brüder erst unten an der<br />

Veranda ankommen - außer Atem und mit müdem<br />

Gesichtsausdruck!<br />

„Uff!“, ruft Hugo, „welche Geschwindigkeit! Flora, du rennst<br />

schneller als die U-Bahn!“<br />

104


Das kleine Mädchen strahlt und ruft: „Die Luft ist so leicht in der<br />

Schweiz! Das ist nicht schwer!“<br />

Das Mahl wird froh eingenommen; jeder ist hungrig und ehrt das<br />

Menü, das von Anni sorgfältig zubereitet worden ist, die es so<br />

bedauert, dass die exklusive kleine Parfümblume schon wieder<br />

weggeht.<br />

„Du wirst zurückkehren“, flüstert sie ihr ins Ohr, „und ich werde<br />

für dich gute Dinge machen.“<br />

Flora bricht in Gelächter aus, indem sie sagt: „Unmöglich! Ich bin<br />

auf Diät!“<br />

Tante Lilian, die Annis Satz gehört hat, fügt hinzu: „Wir rechnen<br />

sehr damit, dass wir dich wiedersehen. Wenn deine Mutti wieder<br />

gesund ist, wirst du mit ihr zu den Ferien zurückkehren.“<br />

Der Vorschlag gefällt Flora, die glücklich abreist mit der<br />

Hoffnung, in die hübsche Türmchenvilla zurückzukehren.<br />

105


Autostopp!<br />

Das Auto von Herrn Dubeler fährt auf der Hauptstraße in<br />

Richtung Hossfeld.<br />

Die beiden Jungen haben sich im Auto hinten eingerichtet,<br />

während Floria sich vorn neben den Fahrer gesetzt hat. Das<br />

kleine Mädchen bewundert die Landschaft, die vor seinen Augen<br />

vorbeizieht. Was für ein angenehmes Gefühl, so viele Kilometer<br />

mit solcher Leichtigkeit und ohne irgendwelche Anstrengung<br />

zurückzulegen!<br />

Eine einzige Wolke schwebt auf dem blauen Himmel. Ob sie sich<br />

wohl von ihrer Mutter entfernt oder sich ihr nähert, während sie<br />

die Entfernungen so leicht überwinden?<br />

Träumerisch schaut sie die Landschaft an, die vor ihr flieht, und<br />

plötzlich springt sie auf: Das Auto hat eine brüske Kurve<br />

eingeschlagen und die Hauptstraße verlassen, um in eine kleine<br />

Landstraße einzubiegen, die auf jeder Seite von Kirschbäumen<br />

umsäumt wird.<br />

Herr Dubeler ruft den Kindern zu: „Ist es genau dort, wo ihr<br />

vorbeigefahren seid?“<br />

„Ja.“<br />

Die Straße ist verlassen und das Auto kommt ohne Hindernisse<br />

voran; es fährt durch ruhige Dörfer, die ganz in der Sonne liegen,<br />

und unterbricht die Stille der Bauernhäuser, die sich dem Weg<br />

entlang verteilen.<br />

Am Ende eines Weilers treffen sie auf einen alten Mann, der auf<br />

einem Hydranten sitzt und seinen Stock schwingt.<br />

„Was soll das bedeuten?“, fragt Herr Dubeler, während er die<br />

Fahrt verlangsamt.<br />

Der Mann nähert sich mit einigen Schritten und pflanzt sich<br />

106


ungeniert mitten auf der Straße auf, und damit zwingt er das Auto<br />

zum Anhalten.<br />

„Er möchte wohl, dass wir ihn im Auto mitnehmen“, meint Billy,<br />

„wenn wir näher zusammenrücken, wird es für drei genug Platz<br />

haben.“<br />

„Steigen Sie hinten ein!“, sagt Herr Dubeler zum Fremden,<br />

während das Auto stillsteht und die Jungen die Tür öffnen. Dann<br />

fragt er ihn: „Fahren Sie weit?“<br />

„Nein, nur bis zum Nachbardorf“, antwortet dieser, „aber es ist so<br />

heiß und der Bus kommt nicht oft vorbei. Es ist schon eine halbe<br />

Stunde, dass ich warte und dabei in der Sonne brate! Wären<br />

meine Beine nicht so alt, wäre ich zu Fuß gegangen.“<br />

Dann sagt er weiter, während er neben den jungen Leuten Platz<br />

nimmt: „Danke, Sie sind sehr gütig!“<br />

Flora hat sich umgedreht und betrachtet den Neuen mit viel<br />

Neugier. Sie findet ihn sympathisch mit seinem eingefallenen<br />

Körper, seinem gebräunten Gesicht, seinem zerzausten Haar,<br />

seiner besonders großen Nase und seinen kleinen grauen<br />

Augen, die vor lauter Leben funkeln.<br />

Seine Kleider haben ihre Farbe verloren und seine Schuhe sind<br />

abgenutzt.<br />

Er legt sein Gepäck neben sich: Ein kleiner Koffer und eine<br />

Staffelei. Dann hebt er den Kopf gegen das Gesicht, das ihn<br />

immer noch in allen Einzelheiten mustert.<br />

Ein breites Lächeln beleuchtet sein eingefallenes Gesicht.<br />

„Was für ein hübsches Tablar habe ich vor mir!“, ruft er, während<br />

er das Kind anschaut, „würde das Auto anhalten, würde ich sofort<br />

meine Pinsel herausnehmen …“<br />

„Sind Sie ein Maler?“, fragt Hugo.<br />

„Ja, das ist mein Leben“, antwortet er, „ich mache nur das. Nicht<br />

107


weit von hier gibt es einen hübschen Platz mit schönen Ruinen,<br />

darum bin ich auf diesem Weg. Mein Tag ist nicht vorbei, ich<br />

habe noch Arbeit vor mir. Ich liebe die Landschaft sehr, aber was<br />

ich vorziehe, ist das Porträt.“<br />

Flora hört mit angespannten Ohren zu. Sie hat nicht gut<br />

verstanden.<br />

Ist es wohl sie, von welcher der alte Mann sprach, als er sagte,<br />

er habe ein hübsches Tablar vor sich? Sicher, weil er die Porträts<br />

liebt. Wie schade, dass das Auto gerade fährt und er nicht mit<br />

einer Skizze beginnen kann! Wie glücklich wäre sie, ihrer Mutter<br />

eine solche anzubieten, wenn sie diese sieht!<br />

Könnte man also nicht für einen Moment anhalten?<br />

Man befindet sich gerade bei einer Waldecke - ein kleiner Halt<br />

würde so guttun!<br />

Der alte Herr ist vielleicht sehr geschickt, weil er ja nur das macht.<br />

Ein Porträt ist schnell fertig.<br />

Flora schaut Herrn Dubeler beharrlich und mit einem Flehen in<br />

den Augen an; dabei wagt sie es sogar, ihre Hand auf den Arm<br />

von Onkel Moritz zu legen, der sie fragt: „Bist du müde?“<br />

„Er ist so hübsch, dieser Wald“, antwortet sie mutig, „wir wollten<br />

aussteigen! …“<br />

Aber Herr Dubeler sieht keine Notwendigkeit für einen Halt; er<br />

wünscht, seinen Weg fortzusetzen, und es eilt ihm, den Zielort<br />

bald zu erreichen. Muss er nicht noch heute Abend zur<br />

Türmchenvilla zurückkehren?<br />

Er antwortet nichts und Flora dreht sich zu den beiden Jungen<br />

um und schaut sie mit einem Flehen an, aber weder der eine<br />

noch der andere scheint zu verstehen, was sie sagen will. Nur<br />

der alte Mann verliert sie nicht aus den Augen; er beobachtet sie<br />

und scheint jeden Gesichtszug des hübschen kleinen Mädchens<br />

in sein Gedächtnis einprägen zu wollen.<br />

108


Das Auto fährt also weiter; man hat den Wald verlassen und<br />

nähert sich einem Dorf. Auf einem kleinen Hügel erheben sich<br />

nicht weit von dort alte Ruinen, die majestätisch und fast<br />

furchteinflößend wirken.<br />

Der alte Mann sagt, indem er eine Schulter des Fahrers antippt:<br />

„Sie wären sehr freundlich, wenn Sie Ihren Wagen jetzt anhalten<br />

würden. Ich werde hier aussteigen.“<br />

Das Auto wird langsamer und hält, und der alte Herr dankt heiß:<br />

„Sie haben mir wirklich sehr geholfen; ich habe mich gut<br />

ausgeruht und jetzt kann ich mich mit neuem Mut ans Werk<br />

machen.“<br />

Das sagt er, indem einen Blick auf das malerische Dorf wirft.<br />

Und während er seine Hand zum kleinen Mädchen hin<br />

ausstreckt, fragt er sie: „Wie heißt du?“<br />

„Flora“, antwortet das Kind mit seinen immergrünen Augen.<br />

„Du trägst deinen Namen gut!“<br />

Während er sich Herrn Dubeler zuwendet, fügt er hinzu: „Wäre<br />

es zu indiskret, nach Ihrer Adresse zu fragen?“<br />

Dann schließt er mit einem rätselhaften Ton, während sich sein<br />

Gesicht mit einem Strahlen erhellt: „Vielleicht werde ich eines<br />

Tages ein Lebenszeichen von mir geben. … es ist nicht sicher …<br />

ich hoffe es.“<br />

Hugo und Billy sind entzückt - was soll diese Anspielung<br />

bedeuten?<br />

Auch Herr Dubeler ist überrascht; er ahnt, dass der alte Mann<br />

ihnen aus lauter Willen, einen Gefallen zu erweisen, ein<br />

Geschenk senden wird.<br />

Er zögert noch …<br />

Schließlich fragt er doch noch: „Welche Adresse soll ich geben?<br />

109


Etwa meine oder die der Kinder? Ich bin ihr Onkel und fahre sie<br />

nach Hause.“<br />

„Die der Kinder“, antwortet der Maler mit heißer Stimme, „die der<br />

Kleinen.“<br />

Floras Augen nehmen die Farbe eines Sturms an und sie ruft<br />

trotzig: „Ich wohne in Paris … das ist viel zu weit weg!“<br />

Diese Antwort erfüllt den alten Künstler mit Bewunderung: „Du<br />

wohnst in Paris? Oh! … ich bin dorthin gegangen, als ich jung<br />

war … ich habe eine unvergessliche Erinnerung daran<br />

aufbewahrt … so viele schöne Dinge gibt es dort!“<br />

Da Herr Dubeler wünscht, auf seinem Weg weiterzufahren, und<br />

das Gespräch beenden möchte, schlussfolgert er: „Glauben Sie<br />

bloß nicht, Sie seien uns etwas schuldig! Wir sind einfach<br />

vorbeigefahren und es war leicht, Sie im Auto mitzunehmen.“<br />

Ohne auf diesen Satz von Herrn Dubeler zu antworten, setzt der<br />

alte Mann fort und fragt das kleine Mädchen: „Und du reist noch<br />

heute weiter nach Paris?“<br />

„Nein!“, erklärt das Mädchen.<br />

„Wir fahren nach Hossfeld - zu Herrn von Löwen“, beeilt sich<br />

Hugo, das anzufügen, während er aus seinem Geldbeutel eine<br />

Visitenkarte zieht und diese dem Maler überreicht, und zugleich<br />

schaut er zu seinem Bruder, der ihm mit seinem<br />

Gesichtsausdruck zu sagen scheint: „Ich glaube, du machst es<br />

so richtig …“<br />

Herr Dubeler grüßt, das Auto startet und fährt schnell, während<br />

er alte Herr an seinem Stock angelehnt gewissenhaft die<br />

Adresse liest, die auf der kleinen weißen Karte angegeben ist.<br />

110


Das „Alte Dreieck“<br />

Mitten durch die Landschaft setzt das Auto seine Fahrt fort.<br />

Herr Dubeler fragt Flora: „Weißt du, warum deine Mutti in die<br />

Schweiz gekommen ist, um ihre Ferien hier zu verbringen? Es<br />

gibt in Frankreich ja so viele schöne Orte und wie du es auch<br />

sagst, ist Paris sehr weit weg von hier.“<br />

„Oh! Weil meine Großmutter in der Schweiz gewohnt hat. Als sie<br />

klein war, wohnte sie ganz nah beim See. Sie ist jetzt tot und<br />

Mutti hat mir eines Tages gesagt: Ich will das Land sehen, wo<br />

meine Mutter geboren ist.“<br />

„Ich verstehe“, antwortet Onkel Moritz und fragt dann: „Habt ihr<br />

vielleicht noch Verwandte in der Schweiz? War deine Großmutter<br />

ursprünglich von unserem Land?“<br />

„Ja, ja … und Mutti hat gesagt, sie habe noch ein paar Onkel …<br />

aber sie weiß nicht wo. Sie wollte sie suchen … und wir haben<br />

jeden Tag zu Gott gebetet, dass wir sie finden … und dann ist<br />

sie krank geworden …“<br />

„Und man hat sie ins Krankenhaus gebracht?“<br />

„Ja … als sie ging, sagte sie mir noch: ‚Du wirst weise sein, ich<br />

komme bald zurück.‘ Sie war ohne Farbe, mit traurigen Augen,<br />

und sprach langsam …“<br />

Der Blick von Flora verfinstert sich, genau wie der ihrer Mutter an<br />

jenem Tag. Sie schaut auf das umliegende Land und fragt: „Gibt<br />

es denn hier in der Nähe kein Krankenhaus?“<br />

„Es gibt sogar mehrere“, antwortet Herr Dubeler, „hab Geduld,<br />

kleine Flora! Morgen werde ich telefonieren.“<br />

„Onkel Moritz!“, ruft Hugo, „ich glaube, wir nähern uns der<br />

hübschen Villa!“<br />

111


„Ja, du hast Recht“, bestätigt Billy, „genau hier haben wir<br />

gepicknickt.“<br />

Herr Dubeler verlangsamt …<br />

„Es ist nach der Kurve“, präzisiert Hugo und setzt fort: „Dort nach<br />

rechts, in dieser Baumgruppe … Onkel Moritz, ich bitte dich, fahr<br />

langsamer! … wir fahren daran vorbei.“<br />

„Es steht jemand beim Tor“, sagt dann Billy, „das ist … erinnerst<br />

du dich an den Namen? Der Bauer hat ihn uns gesagt.“<br />

„Mariette … glaube ich.“<br />

„Du hast Recht: Mariette Lagner … erwartet sie wohl noch<br />

einmal, dass wir kommen, um ihr Hilfe zu bringen?“<br />

„Man könnte es glauben! Aber nein, weil sie ja mit einem Herrn<br />

plaudert.“<br />

Langsam fährt das Auto vor dem „Alten Dreieck“ vorbei; jeder<br />

schaut seitlich zur schönen Villa hinüber und Flora ruft begeistert:<br />

„Das ist das Schloss, wo das Dornröschen schläft!“<br />

„Ich teile euren Geschmack“, sagt Herr Dubeler, „nur schade,<br />

dass wir nicht die Adresse des alten Malers haben, der uns<br />

gerade verlassen hat! Er wäre sicher ein Liebhaber eines<br />

solchen Objekts.“<br />

Die jungen Leute haben nur Augen für die beiden Personen, die<br />

sich beim Tor unterhalten und mit einem gleichgültigen Blick auf<br />

das Auto schauen.<br />

„Sie hat uns nicht erkannt“, sagt Hugo trotzig, „ob wir wohl<br />

hingehen, um sie zu fragen, wie es ihrer Mutter geht?“<br />

Billy scheint zerstreut zu sein.<br />

„Was hast du nur?“, fragt Hugo, „woran denkst du?“<br />

Der ältere wacht von seiner Träumerei auf und antwortet:<br />

„Ich habe diesen Herrn schon einmal gesehen … da bin ich mir<br />

112


sicher … wer ist es denn nur? … kennst du ihn?“<br />

„Ich? Überhaupt nicht.“<br />

„Onkel Moritz!“, ruft Billy, „halt bitte das Auto für einen Augenblick<br />

an!“<br />

„Gern!“, antwortet Herr Dubeler, während er das Fahrzeug<br />

anhält.<br />

Dann dreht er sich zu den Kindern um und fragt: „Was gibt es<br />

denn?“<br />

„Ich kenne den Herrn sehr gut, der beim Tor steht.“<br />

„Ach ja? Willst du ihn begrüßen?“<br />

„Ja … nein …“, antwortet der junge Mann unentschlossen, „ich<br />

kenne ihn … aber ich weiß nicht, wer er ist.“<br />

Hugo kichert: „Du bist gut!“<br />

Die beiden Personen, die gesehen haben, dass das Auto wenige<br />

Meter vom Eingang angehalten hat, schauen in die Richtung des<br />

Fahrzeugs und scheinen dabei zu sagen: „Wer sind denn diese<br />

Leute? Was wollen sie von uns? Verweilen sie wohl wegen uns<br />

hier?“<br />

Plötzlich erhebt sich Billy mit einem Freudestrahlen in den<br />

Augen. Er geht auf die Straße zum großen Erstaunen seines<br />

Bruders.<br />

„Guten Tag, mein Herr!“, sagt er dann fröhlich, „erkennen Sie<br />

mich nicht?“<br />

Der Gefragte schaut den jungen Mann mit erstauntem Gesicht<br />

an, antwortet aber freundlich: „Nein … ich sehe so viele Leute!“<br />

Mariette mischt sich ein: „Bist es nicht du, der nach Sankt Martin<br />

gegangen ist, um den Arzt zu holen?“<br />

Billy bestätigt das mit einem entsprechenden Kopfnicken.<br />

113


Beim Hören dieser Worte steigt jetzt Hugo aus dem Auto, darauf<br />

folgt ihm Flora.<br />

Mariette fährt fort, während sie auf Hugo schaut, der sich ihr<br />

nähert: „Dank euch ist der Arzt sofort gekommen. Es geht meiner<br />

Mutter schon viel besser … ich glaube, sie ist jetzt außer Gefahr.<br />

Ich bin euch sehr verbunden.“<br />

Dann fügt sie hinzu, während sie auf die Person zeigt, die neben<br />

ihr steht: „Und auch mein Bruder. Wollt ihr nicht für einen Moment<br />

hereinkommen?“<br />

Billy macht eine Bewegung in Richtung Auto und antwortet<br />

unbestimmt: „Wir sind dabei, mit meinem Onkel nach Hause zu<br />

fahren.“<br />

Dann dreht er sich wieder dem Herrn zu und wiederholt seine<br />

Frage: „Erkennen Sie mich wirklich nicht?“¨<br />

„Nein“, antwortet Mariettes Bruder, „und das macht mich ehrlich<br />

wütend.“<br />

„Sie sind zu mir so gut gewesen! Ich werde mich mein Leben<br />

lang daran erinnern.“<br />

„Wie denn?“, entgegnet Herr Lagner überrascht, „im Gegenteil,<br />

du bist es, der uns einen großen Dienst erwiesen hat; also liegt<br />

es an mir, sich daran zu erinnern.“<br />

„Ich bin glücklich, dass ich das tun konnte, und vor allem für<br />

euch“, sagt Billy etwas verwirrt.<br />

Hugo wird ungeduldig: „Ob du dich bitte erklären würdest? Wir<br />

würden es alle zu schätzen wissen.“<br />

Billy antwortet, während er dabei errötet: „Vor einem Jahr … im<br />

Zug, als ich weinend reiste, waren Sie es, die mich ermutigt<br />

haben, indem Sie mir ein Geldstück in die Hand gaben und mir<br />

sagten: Wer weiß, vielleicht wirst du deine Eltern wieder finden!“<br />

Dann fügt er hinzu, wobei sein Gesicht strahlt und er lächelt:<br />

114


„Und Sie haben mir versichert, Sie würden oft an mich denken!“<br />

„Und du vermutest wohl, ich habe dich vergessen! Ich sehe zwar<br />

tatsächlich so aus, aber das ist trotzdem nicht der Fall, da kannst<br />

du sicher sein… aber du bist grösser geworden, du hast dich<br />

verändert … heute scheinst du glücklicher als bei unserer ersten<br />

Begegnung.“<br />

„Und mit gutem Grund!“, ruft der junge Mann triumphierend, „hier<br />

ist mein Bruder, den ich kurze Zeit, nachdem ich Sie gesehen<br />

habe, wiedergefunden habe! Ich lebe jetzt mit meinem Vater und<br />

mit meiner Mutter zu Hause. Wir kehren gerade nach Hause<br />

zurück mit meinem Onkel, der im Auto sitzt.“<br />

Herr Dubeler hört schweigend und mit großem Interesse dem<br />

ganzen Gespräch zu. Er nähert sich der Gruppe und grüßt<br />

freundlich, indem er sagt: „Ich nehme wahr, Billy, dass es dir<br />

gefällt, einen alten Freund wieder zu sehen. Es ist schade, dass<br />

wir keine Zeit haben, um noch hier zu verweilen …“<br />

„Sie werden wiederkommen“, schlägt Herr Lagner vor, „und wir<br />

werden dann Bekanntschaft schließen.“<br />

„Und wenn Sie in Hossfeld vorbeikommen“, erwidert Billy,<br />

„kommen Sie meine Eltern begrüßen!“<br />

„In Hossfeld?“, fragt Mariette.<br />

„Ja“, antwortet Billy.<br />

Dann wendet er sich Hugo zu und fragt ihn: „Hast du noch eine<br />

Karte mit unserer Adresse?“<br />

Schnell zieht der jüngere Bruder aus seinem Geldbeutel eine<br />

weitere kleine weiße Karte hervor und sagt: „Hier sind alle<br />

nötigen Angaben, um uns zu finden … die Telefonnummer …“<br />

Und er beendet seine Rede nicht, auf seinem Gesicht zeigt sich<br />

ein breites Lachen. Er schaut die hübsche Villa an und danach<br />

seinen Bruder, der mit leuchtenden Augen den Anschein macht,<br />

115


sprechen zu wollen, und trotzdem nichts sagt.<br />

Herr Lagner, der diese stumme Sprache versteht, bringt die<br />

Lösung, indem er lächelnd, aber auch etwas verwirrt sagt: „Ich<br />

habe diese Damen endlich davon überzeugen können, dass sie<br />

ein Telefon installieren lassen. Die Leitung steht bereits; man<br />

muss nur noch den Apparat anbringen, aber das wird schnell<br />

gemacht sein. So werden sie nicht mehr darauf angewiesen sein,<br />

hinter dem guten Willen von jungen Fahrradfahrern<br />

hinterherzurennen, um ihre Besorgungen zu erledigen.“<br />

„Es ist glücklich, dass diese Entscheidung nicht vorher getroffen<br />

worden ist“, bemerkt Herr Dubeler, „in diesem Fall hätten wir Ihre<br />

Bekanntschaft nicht gemacht.“<br />

„Und ich hätte Sie vielleicht nie mehr wieder gesehen“, ergänzt<br />

Billy.<br />

„Das ist wahr“, sagt Herr Lagner, „wir kennen ja das Sprichwort:<br />

Hinter jedem Unglück taucht ein Silberstreifen auf.“<br />

„Und jetzt ab ins Auto!“, schließt Onkel Moritz, „es ist Zeit, dass<br />

wir gehen.“<br />

Man verabschiedet sich freundschaftlich, indem man wünscht,<br />

sich bald wieder zu sehen, und während Mariette und ihr Bruder<br />

zu ihrer Mutter zurückkehren, kehren die Reisenden zu ihrem<br />

Auto zurück, das abfährt und beschleunigt, um die verlorene Zeit<br />

vor dem Tor des „Alten Dreiecks“ wieder aufzuholen.<br />

Die Ankunft in Hossfeld wird überwältigend freudevoll sein.<br />

Die kleine Kohorte wird ungeduldig erwartet; Onkel Moritz hat<br />

telefonisch die Rückkehr der Kinder bereits angekündigt und<br />

dabei ein paar Einzelheiten über die Ereignisse der letzten Tage<br />

mitgegeben.<br />

Dorothea hält es nicht mehr an ihrem Platz. Schon seit einer<br />

Stunde geht sie immer auf ihr Zimmer, öffnet das Fenster,<br />

116


verlässt es wieder, geht zu Frau Duval hinunter, geht zum Hof<br />

hinaus und dann auf die Straße, steigt wieder hinauf zum Zimmer<br />

für Flora, macht wieder den gleichen Rundgang und geht wieder<br />

zu ihrer Mutter hinunter und ruft ganz nervös: „Wie lang es<br />

dauert, bis sie kommen! Haben sie auf dem Weg etwa einen<br />

Unfall gehabt?“<br />

Frau von Löwen beruhigt ihre Tochter: „Herr Dubeler hat uns<br />

mitgeteilt, dass sie nicht vor fünf Uhr hier sind.“<br />

Beschwichtigt steigt Dorothea wieder zu ihrem Zimmer hinauf,<br />

um abzuwarten, dass die Zeit verstreicht … aber einen<br />

Augenblick später steht sie schon wieder am Fenster und<br />

überprüft die Straße.<br />

Endlich! Da kommen sie!<br />

Im Hof des Schlosses steigt die kleine Truppe aus dem Auto.<br />

Flora schaut um sich, deutlich sichtbar eingeschüchtert und<br />

unruhig.<br />

Dorothea eilt zu ihr hin, nimmt sie in ihre Arme und ruft: „Guten<br />

Tag, Floria! Bist du von der Reise nicht zu müde? Ich habe mich<br />

so gefreut, als ich dich kommen sah!“<br />

Was für ein heißer und herzlicher Empfang!<br />

Die Augen des kleinen Mädchens leuchten auf; ein frisches<br />

Lächeln huscht über ihre Lippen und die Angst entflieht.<br />

Das kleine Mädchen betritt das Haus und dann das Zimmer,<br />

während die Jungen ihre Kleider in Ordnung bringen und Herr<br />

Dubeler zu Frau Duval, seiner Schwester, geführt wird.<br />

Das Ende des Tages verbringt man damit, mit der Familie und<br />

den Lokalitäten Bekanntschaft zu schließen.<br />

Die beiden Brüder haben ihren Eltern so viele Dinge zu erzählen!<br />

Die Stunde des Abendessens vereint alle im Speisesaal und die<br />

Gespräche sind sehr lebhaft.<br />

117


Billy und Hugo werden nicht müde, um über Floras Flucht so<br />

viele Einzelheiten wie möglich zu erzählen.<br />

Dann geht Herr Dubeler wieder weg, um nach Dorleben und zur<br />

Türmchenvilla zurückzukehren. Er verlässt das kleine Mädchen,<br />

indem er ihm verspricht, dass er schon morgen telefonieren wird,<br />

um ihr Neuigkeiten über ihre Mutter zu geben.<br />

Von dieser Hoffnung ermutigt schläft das kleine Mädchen im<br />

hübschen Zimmer ein, das Dorothea mit viel Liebe eingerichtet<br />

hat. Sie ist glücklich und alle Bewohner des alten Hauses sind es<br />

mit ihr.<br />

118


Im Hospiz<br />

Kehren wir ein paar Stunden zurück:<br />

Auf der von der Sonne beleuchteten Straße sieht der alte Maler,<br />

wie das Auto sich entfernt. Noch einmal überprüft er die kleine<br />

weiße Karte, die er in der Hand hält. Sein Koffer steht neben ihm<br />

auf der Wiese. Er bückt sich, um ihn zu öffnen, und lässt die<br />

Karte, die Hugo ihm gerade gegeben hat, dort hineingleiten, und<br />

dann schlendert er gemächlich dem Dorf zu, wo er wohnt.<br />

Sein Blick verliert sich in der Ferne, um das so frische und zarte<br />

Profil wieder zu finden, das er während der ganzen Fahrt im Auto<br />

so bewundert hat.<br />

Die schönen blauen Augen von Flora wecken in ihm wieder<br />

schon längst begrabene Erinnerungen im Innersten seines<br />

Herzens; sie hat ihr sehr geglichen … seiner kleinen Maria-Rosa.<br />

Sie musste etwa das gleiche Alter haben … als sie nicht weit von<br />

hier in einer Waldhütte wohnten.<br />

Seine Frau erledigte die Hausarbeiten, seine Tochter rannte im<br />

Garten …<br />

Sie waren jung, sie waren glücklich …<br />

Dann kam eine Grippewelle über das Land und alle Freude ging<br />

dahin.<br />

Das kleine Mädchen mit den immergrünen Augen und dem<br />

goldenen Vlies lieh sich Engelsflügel aus und flog bis zum<br />

Himmel, um nicht mehr zurückzukehren …<br />

Die Zeit ging vorüber und heilte die Wunde, aber das kleine<br />

Gesicht, das er im Auto bewunderte, hat es wieder zum Leben<br />

erweckt.<br />

Jetzt ist er alt, seine Frau ebenfalls; sie leben allein … wenn<br />

119


Maria-Rosa noch gelebt hätte, wäre sie sicher eine schöne junge<br />

Frau geworden.<br />

Wer weiß? Vielleicht wäre sie verheiratet? Ein Zwitschern von<br />

Kinderstimmen würde die Eintönigkeit des zu ruhigen Waldes<br />

immer wieder unterbrechen …<br />

Und der alte Maler, dessen Herz von der Trauer zermartert ist,<br />

hat vor sich das hübsche Gesicht und das strahlende Lächeln<br />

von Flora gesehen.<br />

Immer noch träumend und nicht darauf schauend, was rund um<br />

ihn geschieht, kommt er bei den ersten Häusern des Dorfes an.<br />

Die Straße wird eng, es hat hier keinen Gehsteig, und der alte<br />

Mann geht mitten auf dem Weg, als wäre er ganz allein.<br />

Er hört nicht den Lärm eines Autos, das bei einer Querstraße<br />

plötzlich vor ihm auftaucht. Er macht eine brüske<br />

Seitenbewegung, während der Fahrer des Autos heftig bremst,<br />

um ihn nicht zu zerquetschen.<br />

Er ist den Rädern des Autos zwar knapp entkommen, aber er<br />

verliert das Gleichgewicht und fällt auf die Pflastersteine am<br />

Straßenrand.<br />

Sofort will er wieder aufstehen …<br />

Unmöglich!<br />

Ein heftiger Schmerz hindert ihn daran, auf die Füße zu kommen,<br />

die ihn nicht mehr tragen.<br />

Was ist geschehen?<br />

Er fällt wieder auf den Straßenrand zurück.<br />

Der Autofahrer steigt selbstgefällig aus und nähert sich dem alten<br />

Mann, und mehrere Dorfbewohner, die vom scharfen Bremsen<br />

alarmiert worden sind, eilen ebenfalls herbei.<br />

Es bildet sich eine Menge; jeder will dem armen Mann helfen, der<br />

120


es mit der Unterstützung von starken Armen endlich schafft, sich<br />

zu erheben.<br />

„Sie müssen zu uns nach Hause kommen, meine Mutter wird<br />

sich um Sie kümmern“, sagen ein paar Kinder.<br />

„Treten Sie für einen Moment hier ein!“, ergänzt ein<br />

Lebensmittelhändler, während er auf seinen Laden zeigt, dessen<br />

Tür weit offensteht.<br />

„Es wäre besser, wenn ich Sie direkt zu einem Krankenhaus oder<br />

zu einem Arzt fahre“, schlägt der Fahrer des Wagens vor.<br />

„Sie haben Recht“, antwortet der alte Herr, „es ist zwar nicht<br />

schlimm, aber es ist mir unmöglich, noch weiterzugehen. Ich<br />

nehme Ihr Angebot gern an - aber wohin gehen wir?“<br />

„Zum Hospiz“, wirft eine Frau ein, „das ist nicht weit von hier.“<br />

„Ist es nicht weit?“<br />

„Nein, kaum fünf Minuten.“<br />

„Also gehen wir!“, sagt der Fahrer.<br />

Man hebt den alten Mann vorsichtig ins Auto, das ihn zum<br />

nächstgelegenen Krankenhaus führt.<br />

Was für eine Veränderung des Bildes!<br />

Der grüne Weg, das malerische Dorf, das kleine Mädchen mit<br />

den blauen Augen - alles ist nur noch ein Traum …<br />

Jetzt liegt er in einem großen und hellen Zimmer inmitten einer<br />

Reihe von Betten, von wo aus mehr oder weniger junge, mehr<br />

oder weniger lächelnde und mehr oder weniger schöne Köpfe zu<br />

sehen sind.<br />

Allerdings gleichen sie sich in einem Punkt: Ihre neugierigen<br />

Augen schauen alle in die gleiche Richtung - in die Richtung des<br />

alten Malers, den man soeben in seinem Bett untergebracht hat.<br />

Die Tage der Kranken sind lang; man muss sich zerstreuen, wie<br />

121


man kann: Ein neuer „Eintritt“ ist jedes Mal ein Ereignis!<br />

Ein Arzt untersucht den verletzten Knöchel, eine<br />

Krankenpflegerin kümmert sich um seine Bedürfnisse, sein<br />

Bettnachbar sendet ihm ein Willkommenslächeln - alle sind so<br />

charmant!<br />

Und trotzdem ist der arme Mann trotzig: Wie viel Zeit muss er<br />

wohl hier verbringen?<br />

„Dauert es lange, bis eine Verstauchung heilt?“, fragte er die<br />

Pflegerin, die sich um ihn kümmert.<br />

„Das kommt darauf an. Wenn Sie ruhig liegen bleiben, sind Sie<br />

schnell wieder auf den Beinen.“<br />

Was für eine klare und genaue Antwort!<br />

Nach einem Seufzen sagt er weiter: „Ich möchte gern, dass Sie<br />

meine Frau anrufen …“<br />

„Gern!“<br />

„Verlangen Sie die Post von Martilly! Diese werden den Auftrag<br />

ausführen …“<br />

„Für welche Frau?“<br />

„Frau Ennach, bitte. Beruhigen Sie sie, damit sie sich keine<br />

Sorgen macht! Sagen Sie ihr, wo ich bin! … sie wird kommen …“<br />

Die junge Pflegerin entfernt sich und man hört, wie jemand laut<br />

fragt: „Mein Fräulein! Wo haben Sie meinen Koffer hingestellt?“<br />

„In diesem Schrank!“, tönt es zurück.<br />

„Geben Sie ihn mir! Ich brauche meine Pinsel. Es ist<br />

unannehmbar, hier zu bleiben, ohne etwas zu tun … ich bin nicht<br />

krank … ohne diesen blöden Knöchel …“<br />

„Sie könnten rennen“, entgegnet die Pflegerin lachend.<br />

„Wenn ich es nur versuchen würde!“, sagt der alte Herr weiter mit<br />

122


einem boshaften Blick und tut so, als wollte er aufstehen.<br />

Die junge Person, die sich um ihn kümmert, protestiert<br />

entschieden: „Sie schütteln sich ja noch mehr als ein Kind! Da ist<br />

Ihr Koffer. Nehmen Sie, was Sie brauchen, und ich bitte Sie,<br />

Ihren Fuß nicht zu bewegen!“<br />

„Ich werde weise sein“, antwortet Herr Ennach mit einem<br />

komischen Gesichtsausdruck, „danke, mein Fräulein! Wenn Sie<br />

zurückkommen, werde ich Ihnen etwas Schönes zeigen.“<br />

Die Pflegerin entfernt sich amüsiert. Wie originell und<br />

sympathisch dieser Neuankömmling doch ist!<br />

Der Künstler ergreift gierig sein Arbeitsmaterial. Diese<br />

Unbeweglichkeit macht ihn zornig und steigert seine Energie. Er<br />

macht sich ans Werk und die Zeit wird schnell verstreichen ...<br />

Ein Blick rund herum zu seinen Leidensgefährten überzeugt ihn<br />

davon, wie nutzlos es ist, ihre Gesichtszüge auf der Maltafel zu<br />

zeichnen. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht und gelben<br />

Teint inspiriert ihn nicht mehr als der junge Bartlose, der extrem<br />

mager und mit müdem Ausdruck ständig einnickt.<br />

Neben ihm begnügt sich ein alter und schlecht rasierter Mann<br />

damit, die Utensilien des Malers zu betrachten. Auch dieser ist<br />

für ihn ein interessantes Subjekt. Die Landschaft durch das<br />

Fenster ist zu weit weg und zu undeutlich.<br />

Er würde viel dafür geben, um noch auf der Straße zu sein,<br />

gegenüber den Ruinen und dem malerischen Dorf.<br />

Warum ist er in diese Träume von einst abgetaucht und hat dabei<br />

vergessen, dass er direkt auf der Straße ging und riskierte,<br />

überfahren zu werden?<br />

Ist das kleine blonde Mädchen nicht zu einem großen Teil dafür<br />

mitverantwortlich?<br />

Vor seinen Augen wird das hübsche Gesicht wieder klar und er<br />

123


überrascht sich dabei selbst, wie er mit einem Bild beginnt, das<br />

schnell die bereits fest eingeprägten Konturen annimmt.<br />

Als die Pflegerin gegen die Mittagszeit ins Zimmer zurückkommt,<br />

bleibt sie überrascht vor Herrn Ennachs Bett stehen.<br />

Ein Kinderporträt verteilt sich auf dem ganzen weißen Blatt.<br />

„Oh, erlauben Sie?“, fragt sie lebhaft, während sie das Blatt<br />

ergreift.<br />

Voller Bewunderung betrachtet sie das Bild, ohne etwas zu<br />

sagen. Unten rechts steht die Unterschrift des Autors und links<br />

liest sie „Maria-Rosa“.<br />

„Ist das der Name dieses hübschen kleinen Mädchens?“<br />

„Ja.“<br />

„Ist sie in ihrer Fantasie geboren?“<br />

„Nein, sie hat in Fleisch und Blut existiert.“<br />

„Ah! Mein Kompliment, Ihr Gemälde ist wunderbar!“<br />

Und nachdem sie ihre Arbeiten im ganzen Zimmer erledigt hat,<br />

geht sie nachdenklich wieder hinaus.<br />

Sie betritt das nächste Zimmer, das nur von einer kranken<br />

Person besetzt ist; die drei anderen Betten sind leer.<br />

„Wie geht es Ihnen, meine Dame?“, fragt sie, während sie sich<br />

einer jungen Frau nähert, die auf ihrem weißen Kopfkissen ganz<br />

blass daliegt.<br />

<strong>Zwei</strong> mit Trauer erfüllte große Augen erheben sich gegen sie:<br />

„Die Direktorin hat mir eine schreckliche Nachricht mitgeteilt!“<br />

„Wirklich?“<br />

„Sie hat mir versprochen, dass meine Tochter mich besuchen<br />

wird, weil das Fieber gesunken ist. Sie hat in die Pension<br />

angerufen, wo ich sie gelassen habe … und stellen Sie sich vor:<br />

124


Sie ist abgereist, sie hat sich davongemacht - und man weiß<br />

nicht, wohin sie gegangen ist ...“<br />

„Wie?“, ruft die junge Frau erschüttert.<br />

Aber als die das weinende Gesicht der Kranken sieht, gibt sie<br />

sich einen Ruck, um ihren Ärger zu verbergen, und sagt mit<br />

aufmunternden Worten: „Machen Sie sich keine Sorgen! Man<br />

wird sie schnell wiederfinden. Sie ist wohl ein wenig weiter als<br />

sonst üblich spazieren gegangen und wird mit einer guten Seele<br />

zur Pension zurückkehren. Die Direktorin hätte Ihnen das nicht<br />

erzählen sollen, das wird das Fieber nur wieder ansteigen<br />

lassen.“<br />

„Ich habe darauf bestanden, von ihr zu erfahren, wann Flora<br />

kommt. Es war ihr unmöglich, vor mir die Wahrheit zu<br />

verstecken.“<br />

„Also gut! Ihr Besuch hat sich nur um einen Tag verzögert. Haben<br />

Sie Geduld, es wird nicht mehr lange dauern!“<br />

„Ich staune über ihre Haltung“, sagt die arme Mutter laut, „ich<br />

glaubte, sie sei weise und vernünftig.“<br />

Da die Pflegerin sie von ihrem Kummer ablenken will, sagt sie zu<br />

ihr neben dem Bett, während sie eine kleine Aufnahme anschaut,<br />

die auf dem Nachttischchen steht: „Sie haben nicht weit von sich<br />

im Nachbarzimmer einen guten alten Mann, der die Kinder sehr<br />

zu lieben scheint. Er ist ein sehr begabter Maler. Er ist hier<br />

soeben wegen einer unglücklichen Verstauchung eingetreten<br />

und hat im Gedächtnis bereits ein Porträt mit einem<br />

entzückenden kleinen Mädchen gemalt.“<br />

Dann ergänzt sie, während sie ihre Blicke auf die kleine<br />

Aufnahme im Holzrahmen richtet: „Sie hat das gleiche Gesicht<br />

wie Ihre niedliche Tochter. Ob ich ihm wohl sagen soll, dass Sie<br />

ein schönes Kind haben, das dem auf seinem Gemälde gleicht?<br />

Er wäre stolz und glücklich, dass ich Sie dazu bringe, sein Werk<br />

125


zu bewundern … er ist sympathisch, dieser alte Mann, doch er<br />

langweilt sich und würde gern arbeiten. Wenn Ihre Floria<br />

hierherkommt, bin ich sicher, dass er darüber entzückt ist, wenn<br />

sie für ihn posiert ...“<br />

Die Augen der jungen Frau leuchten auf und sie sagt: „Das wäre<br />

eine schöne Erinnerung, um sie mit nach Frankreich zu nehmen.“<br />

Dann fügt sie mit einem Seufzen hinzu: „Eine schöne Erinnerung<br />

an diese traurigen Tage.“<br />

„Die Idee ist gut“, entgegnet die Pflegerin in einem fröhlichen<br />

Ton, „wenn ich meine Arbeit erledigt habe, frage ich ihn noch<br />

heute Abend, ob er Ihnen das Porträt zeigen kann, und spreche<br />

mit ihm über Ihre Tochter.“<br />

Frau Janin wirft einen anerkennenden Blick auf die grazile<br />

Pflegerin, die ganz in Weiß mit leichter Hand die Kopfkissen<br />

zurechtschüttelt.<br />

Ihr Herz ist beruhigt; der morgige Tag wird wunderbare<br />

Nachrichten bringen. Da ist sie sicher - und Ihre Gedanken<br />

gehen zerstreut durch die Trennwand zum Nachbarzimmer<br />

hinüber.<br />

Sie wartet lange und hört auf den Lärm der Schritte im Flur, aber<br />

die junge Frau in Weiß kommt nicht wieder zurück. Eine ältere<br />

Kollegin hat sie ersetzt, die Nacht ist da; jetzt gilt es, einfach<br />

einzuschlafen …<br />

Das hübsche Porträt zu bewundern … das wird morgen sein.<br />

Gläubig vertraut sie ihr Kind Gott an, indem sie ihn bittet, sie zu<br />

segnen, zu beschützen und zu erlauben, dass sie bald wieder<br />

vereint sein werden.<br />

126


Mutter und Tochter finden sich wieder<br />

Ein neuer Morgen weckt alle Schlafenden. Im Hospiz sehnen<br />

sich die Kranken danach, dass die Türen ihrer Zimmer sich<br />

öffnen. Für mehrere von ihnen ist die Nacht lang gewesen und<br />

sie haben schlecht geträumt.<br />

Sehr früh ist Frau Janin aufgewacht - mit dieser brennenden<br />

Frage auf dem Herzen: Wird Flora heute wohl kommen?<br />

Als sie die Pflegerin ins Zimmer eintreten sieht, ist sie enttäuscht.<br />

Das Gesicht hat sich verändert, es ist nicht mehr die gleiche<br />

Person wie gestern.<br />

Die Pflegerin versteht ihren überraschten Blick und sagt:<br />

„Fräulein Ruth hat für heute Vormittag frei genommen, Sie<br />

werden sie diesen Nachmittag wiedersehen. Gestern Abend<br />

hatten wir Notfälle und damit einen Haufen Arbeit, darum hat sie<br />

ihren Dienst sehr spät beendet. Sie ist sicher nicht darüber<br />

verärgert, dass sie heute ein bisschen länger schläft.“<br />

„Ich fühle mich sehr wohl für sie“, entgegnet die Kranke, ohne<br />

sich aufzuregen, „Sie sagen also, sie wird ihren Dienst an diesem<br />

Nachmittag wieder aufnehmen?“<br />

„Ja“, antwortet die junge Pflegerin, während sie ihre Arbeiten<br />

erledigt.<br />

Frau Janin fragt mit einem tiefen Seufzen: „Gab es keinen Brief<br />

und keinen Anruf für mich?“<br />

„Nein, nicht dass ich wüsste.“<br />

Die Pflegerin geht wieder und die Stille befällt das Zimmer<br />

erneut, die Stunden gleiten eintönig dahin. Es ist ein Tag wie die<br />

anderen, stumpf und ohne irgendetwas, das die viel zu langen<br />

Minuten ausfüllen könnte.<br />

Die Mutter von Flora hat eine lange Zeit mit Bewusstlosigkeit und<br />

127


Fieber und ein Delirium erlebt, wo die Stunden und die Tage nicht<br />

mehr zählten … jetzt, da es ihr wieder besser geht, langweilt sie<br />

sich hier; es drängt sie darauf, wegzugehen und ihr Kind wieder<br />

zu sehen …<br />

Ob der Maler hinter der Wand wohl ein neues Porträt eines<br />

kleinen Mädchens malt?<br />

Sie versteht, warum die Pflegerin gestern Abend nicht<br />

zurückgekommen ist, um ihr sein Meisterwerk zu zeigen; sie<br />

hatte einfach zu viel Arbeit. So wartet sie geduldig …<br />

Der Vormittag geht vorüber und bringt nichts Neues. Am<br />

Nachmittag, als sie gerade eingenickt ist, öffnet sich jedoch die<br />

Tür: Eine graziöse und elegante Dame tritt ein. Ihr voran kommt<br />

eine Pflegerin, die mit einem Lächeln sagt: „Da ist ein Besuch für<br />

Sie.“<br />

Ein Besuch? Was für ein Ereignis! Es ist das erste Mal, dass sie<br />

einen solchen bekommt, seitdem sie hier ist. Wer will sie wohl<br />

sehen? Sie kennt in diesem Land doch so wenige Leute!<br />

Die junge Dame lehnt sich ans Bett und sagt: „Ich bin Frau von<br />

Löwen; seit gestern haben wir die Freude, in unserem Haus Ihre<br />

Tochter zu haben …“<br />

„Flora? Wie denn nur? Was sagen Sie da?“<br />

Die Kranke ist sehr aufgeregt.<br />

Die Besucherin beruhigt sie: „Sie benimmt sich wunderbar! Alles<br />

geht gut für sie! Machen Sie sich keine Sorgen!“<br />

„Warum ist sie nicht mehr in der Pension, wo ich sie<br />

zurückgelassen habe? Was macht sie bei euch? Ich verstehe<br />

nicht …“<br />

„Wir werden Ihnen das alles erklären, es ist ein bisschen lang…“<br />

Frau Janin unterbricht sie mit einem Flehen: „Wann werde ich<br />

128


sie sehen? Ich bitte Sie … bringen Sie sie mir! Ist sie weit von<br />

hier?“<br />

„Nein“, antwortet Billys Mutter.<br />

Und während sie sich der Tür zuwendet, öffnet sie diese …<br />

Ein kleiner Kopf riskiert es, ins Zimmer zu schauen; er sieht die<br />

Kranke … ohne weiter zu zögern verlässt das kleine Mädchen<br />

den Halbschatten und fragt, während es an Frau von Löwen<br />

vorbeigeht: „Ich kann doch eintreten, nicht wahr?“<br />

Einen Augenblick später stürzt sich das Kind in die Arme seiner<br />

Mutter, die schluchzend sagt: „Meine Flora, mein Liebstes! Was<br />

für ein Glück, dich wieder zu sehen! …“<br />

„Mutti! … Mutti! … bist du geheilt?“<br />

„Bald, mein Kind, bald!“<br />

Geräuschlos verlässt Frau von Löwen das Zimmer, damit Mutter<br />

und Kind ohne Zeugen allein sein können.<br />

Sie kehrt zum Auto zurück, das sie im Hof des Krankenhauses<br />

geparkt hat. Billy und Hugo, die auf sie gewartet haben,<br />

überfallen sie mit Fragen: „Hast du sie gesehen? Geht es ihr hier<br />

gut?“<br />

„Ja.“<br />

„Und Flora?“<br />

„Sie ist bei ihrer Mutter geblieben.“<br />

„Onkel Moritz hat sein Geschäft gut ausgeführt“, schlussfolgert<br />

Billy, „am Telefon sagte er mir, er habe mehr als zehn Anrufe mit<br />

allen Krankenhäusern der Gegend getätigt. So war er sicher,<br />

dass man entdecken würde, wo Frau Janin untergebracht war.<br />

Das war ja nicht kompliziert!“<br />

„Und der alte Gerber, der die Adresse nicht geben wollte, hat<br />

nicht daran gedacht, dass man das sehr gut auch ohne ihn<br />

129


herausfinden konnte“, schließt Hugo.<br />

„Ist sie noch sehr krank?“, fragt der ältere.<br />

„Nein, ich glaube nicht; sie braucht natürlich noch eine gewisse<br />

Erholungszeit.“<br />

„Wir sollten sie einladen, uns zu besuchen“, schlägt Hugo vor,<br />

„weil Flora sich in Hossfeld schon eingerichtet hat.“<br />

„Ich sehe sie nicht zu Herrn Gerber zurückkehren“, fügt Billy<br />

hinzu, „die Arme! In diesem Fall würde ich sie sehr bedauern.“<br />

„Übrigens wird Flora diese Leute nach einer solchen Behandlung<br />

nicht mehr wiedersehen wollen“, setzt Hugo fort.<br />

„Ganz sicher nicht“, antwortet Frau von Löwen, die über den<br />

Vorschlag der Kinder nachzudenken scheint.<br />

„Das Haus wird noch zu klein“, sagt sie lachend, „ich erwarte<br />

Besucher, die ich schon vor Monaten eingeladen habe; ich kann<br />

sie nicht einfach zurückschicken. Wie soll ich bloß vorgehen?“<br />

„Sie könnten nach Dorleben zu Onkel Moritz gehen“, schlägt Billy<br />

mit leichtem Zögern vor.<br />

„Nach meiner Meinung“, antwortet seine Mutter, „ist das zu nah<br />

beim Theater ihrer Abenteuer; es wäre ein anderer Rahmen<br />

nötig.“<br />

„Und das Rosenhaus!“, ruft Billy plötzlich, „die Fensterläden sind<br />

seit dem letzten Jahr immer noch verschlossen. Die Ratten und<br />

Mäuse langweilen sich dort sicher bereits und der Staub hat sich<br />

angehäuft …“<br />

„Wäre Herr Duval aber damit einverstanden, die Türen für<br />

Fremde zu öffnen, die wir kaum kennen?“, wendet Frau von<br />

Löwen verblüfft ein, „übrigens eilt es nicht, wir können das noch<br />

besprechen; Frau Janin kann nicht vor einigen Tagen schon von<br />

hier weggehen.“<br />

130


„Großvater wäre entzückt, sehen zu können, dass sein Haus<br />

jemandem dient - mehr, als wenn es unbewohnt ist.“<br />

„Vielleicht, aber Frau Janin, die noch so schwach ist, könnte sich<br />

nicht um ihre Tochter und dazu um den Haushalt kümmern.<br />

Unter diesen Bedingungen wären sie im Rosenhaus zu allein.“<br />

Billy ist enttäuscht; er sucht nach einer Lösung, dann fällt ihm<br />

etwas ein: „Wir könnten ihnen doch Franziska mitgeben. Sie<br />

würde ihnen helfen und mit Vergnügen nach Wiesberg<br />

zurückkehren.“<br />

„Großmutter und ich wären darüber aber weniger entzückt“,<br />

wendet Frau von Löwen ein, „Franziska ist uns sehr nützlich, um<br />

alle Arbeiten zu erledigen, die unsere große Familie mit sich<br />

bringt.“<br />

„Ich werde mit Großmutter darüber sprechen“, schließt Billy in<br />

entschiedenem Ton.<br />

Das Haupttor des Krankenhauses öffnet sich … Floras kleiner<br />

Lockenkopf taucht auf. Sie strahlt! Ihre Wangen haben einen<br />

rosigen Teint angenommen, den man bei ihr noch nie gesehen<br />

hat.<br />

„Mutti hat mir gesagt, ich soll so oft, wie ich will, wieder<br />

zurückkehren!“, ruft sie, „aber die Pflegerin ist nicht nett; sie<br />

wollte nicht, dass ich länger bleibe!“<br />

„Um deine Mutter nicht zu ermüden“, erklärt Frau von Löwen, „sie<br />

muss eben bald geheilt sein.“<br />

Diesmal ist das kleine Mädchen einverstanden.<br />

„Wir kommen morgen zurück“, schlussfolgert Frau von Löwen,<br />

„und jetzt ab ins Auto! Wir müssen nach Hause zurückkehren;<br />

Dorothea wartet sicher schon ungeduldig darauf, dass sie uns<br />

wieder sieht. Morgen ist sie dran, um dich zu begleiten.“<br />

131


Maria-Rosa<br />

Als die Pflegerin bei Frau Janin vorbeikommt, findet sie diese auf<br />

ihrem Bett sitzend - und mit Augen, die mit Licht und Freude<br />

erfüllt sind!<br />

„Was für eine Veränderung!“, ruft sie ihr zu, „Sie strahlen ja so!<br />

Bald können wir Sie aufheben!“<br />

„Erraten Sie es denn nicht?“<br />

„Aber ja doch! Sie haben den Besuch Ihres Kindes gehabt! Ich<br />

habe einen Lockenkopf wahrgenommen, der durch den Flur ging<br />

… ich hatte mich also nicht getäuscht, als ich Ihnen versicherte,<br />

sie würde bald kommen. Also ist es heute nicht mehr notwendig,<br />

dass sie sich mit den Gemälden meines alten Künstlers<br />

zerstreuen. Sie können jetzt Ihre eigenen Porträts machen,<br />

seitdem Sie ein lebendiges und sprechendes ‚Original‘ gesehen<br />

haben.“<br />

„Nein … das interessiert mich trotzdem! Gestern habe ich auf Sie<br />

gewartet, aber wie schade …“<br />

„Ja - ich bedaure das, wir hatten eben so viel zu tun.“<br />

„Ihre Vertreterin hat es mir gesagt … ich verstehe.“<br />

Und mit einem Flehen fügt sie hinzu: „Jetzt … hätten Sie keinen<br />

Moment, um mir dieses Gemälde zu bringen? Das Zimmer ist<br />

seit der Abreise von Flora so leer … wir müssen es mit einem<br />

anderen kleinen Mädchen wieder füllen.“<br />

Die Pflegerin gibt mit einem zustimmenden Lächeln der Laune<br />

der Kranken nach und sagt, während sie hinausgeht: „Ich komme<br />

sofort wieder.“<br />

Kurz darauf kehrt sie zurück und stellt das Porträt auf Frau Janins<br />

Bett.<br />

132


Diese wirft einen Blick darauf und stößt einen Schrei der<br />

Verwunderung aus: „Oh! Wie denn? Warum haben Sie mir nichts<br />

gesagt? Wann ist sie Modell gestanden? Was für eine<br />

Überraschung - was für eine Überraschung! Sie haben es<br />

gewusst … und haben mir nichts gesagt.“<br />

„Ich verstehe nicht“, stammelt die Pflegerin, die all diese Fragen<br />

ohne Antwort lassen, und dann fragt sie: „Was hätte ich Ihnen<br />

denn sagen sollen?“<br />

„Dass sie es war!“<br />

„Sie? Kennen Sie dieses kleine Mädchen?“<br />

„Sehen Sie! Haben Sie sie etwa nicht erkannt? Das ist Flora,<br />

mein Kind!“<br />

„Ich habe sie kaum gesehen! Gemäß dem Foto gibt es eine<br />

Ähnlichkeit; es ist wahr, dass dieses kleine Mädchen Maria-Rosa<br />

heißt …“<br />

Und die Pflegerin zeigt die Inschrift unten auf dem Bild.<br />

„Maria-Rosa“, flüstert Frau Janin erstaunt, „trotzdem ist das<br />

meine Flora, da gibt es keinen <strong>Zwei</strong>fel!“<br />

Dann fügt sie fragend hinzu - fest entschlossen, das Geheimnis<br />

zu lüften: „Wer hat dieses Gemälde gemacht?“<br />

„Es ist hier unterzeichnet …“<br />

„Hans Ennach! … das ist es wirklich, nicht wahr?“<br />

„Ja, ich glaube …“<br />

Frau Janin schaut ihre Pflegerin einen Augenblick schweigend<br />

an - mit Augen voll mit einem Ausdruck, in dem sich<br />

Überraschung, Zögern und Freude abwechslungsweise<br />

vermischen.<br />

„Das ist ja etwas so Glückliches und Unglaubliches - und am<br />

Ende habe ich viel Mühe, es zu verstehen …“<br />

133


Die Pflegerin hört schweigend zu, während die Kranke weiter<br />

spricht und sie fragt: „Ist dieser Herr Ennach noch lange hier?“<br />

„Ich weiß nicht, seine Frau kommt morgen. Ich habe den<br />

Eindruck, sie treffen bereits Vorbereitungen, um ihn so schnell<br />

wie möglich wieder nach Hause zu bringen.“<br />

Dann fügt sie besorgt hinzu: „Ich befürchte, Sie haben sich heute<br />

ein bisschen zu sehr ermüdet. All diese Emotionen werden Ihnen<br />

nicht helfen, um sich wieder zu erholen. Soll ich das Bild wieder<br />

mitnehmen?“<br />

„Ja - aber unter einer Bedingung!“<br />

„Welche denn?“<br />

„Versprechen Sie mir, dass Sie nicht vergessen, für ihn etwas zu<br />

besorgen!“<br />

„Für wen?“<br />

„Für Ihren Künstler.“<br />

„Gern!“<br />

„Sagen Sie ihm, dass ich morgen seine Frau zu sehen wünsche,<br />

wenn sie kommt, und wenn sie Sie fragt, warum denn, antworten<br />

Sie ihr, dass ich die Cousine von Maria-Rosa bin!“<br />

Die Pflegerin wirft einen unruhigen Blick auf Frau Janin. Hat sie<br />

sich vor lauter Reden zu stark angestrengt? Wird das Fieber sie<br />

wohl wieder packen?<br />

Aber nein - sie scheint ziemlich klar zu sein!<br />

Gerade eben hat sie auf dem Bild Flora gesehen, jetzt spricht sie<br />

von Maria-Rosa wie von einer Cousine!<br />

Der verwirrte Blick der Pflegerin zaubert auf Frau Janins Lippen<br />

ein Lächeln.<br />

„Sie sind wie ich!“, sagt sie darauf, „Sie verstehen nicht … es gibt<br />

134


ein Rätsel; wir werden es eines Tages wohl entdecken. Aber<br />

beruhigen Sie sich, ich sabbere nicht! Damit Sie überhaupt nicht<br />

daran zweifeln, werde ich mich erklären.“<br />

„Ermüden Sie sich nicht von vornherein, ich bitte Sie!“<br />

„Das dauert nicht lange … hier ist eine Zusammenfassung:<br />

Meine Mutter hieß Lucile Ennach, sie war eine Schweizerin. Als<br />

junge Frau reiste sie nach Paris und heiratete dort. Ihr Bruder<br />

kam sie eines Tages besuchen; ich war noch ein kleines<br />

Mädchen, aber ich erinnere mich noch daran … mein Onkel<br />

Hans war der Vater eines Kindes, das zwei Jahre jünger war als<br />

ich. Sie hieß Maria-Rosa und starb, bevor sie zehnjährig wurde.<br />

Das ist sehr einfach - mein Onkel ist auf der anderen Seite der<br />

Wand!“<br />

„Oh, was sagen Sie da? Gerade darum gleicht Ihre Tochter dem<br />

Bild so stark! Da haben wir die Erklärung!“<br />

„Ist das denn möglich - so ähnliche Porträts?“, ruft die Kranke<br />

aus.<br />

Dann fügt sie hinzu, als sie sieht, dass das Mädchen sich zur Tür<br />

hinwendet: „Vergessen Sie bitte nicht meine Besorgung!“<br />

„Nur keine Angst, ich werde es tun!“<br />

Und mit einem letzten Lächeln geht Fräulein Ruth aus dem<br />

Zimmer und lässt Frau Janin ergriffen und interessiert durch<br />

diese Entdeckung allein zurück.<br />

Das Herz der Kranken erfüllt sich mit Freude und Erkenntnissen.<br />

In ihrem Geist zieht die Erinnerung an die Tage, die ihrer Abreise<br />

von Paris vorausgingen, noch einmal genau an ihr vorbei. Sie<br />

sieht wieder ihre dunkle Wohnung in der engen Straße: Flora war<br />

bleich und ermüdet vom Schulalltag und vom unaufhörlichen<br />

Sturmwind, den sie auf den Straßen traf, und sie selbst<br />

schmachtete ebenfalls dahin. Es waren zwei Jahre, seitdem ihr<br />

Ehemann gestorben war, und sie hatte nicht aufgehört zu<br />

135


arbeiten. Ein wenig Entspannung schien nötig zu sein, sie<br />

lechzte nach der frischen Landluft. Sie brauchten ganz einfach<br />

Ferien, das war unvermeidlich ...<br />

Eine Freundin schlug ihr vor, in die Schweiz zu fahren. Sie<br />

sprang auf: Die Schweiz - ihre Mutter hatte so oft mit ihr darüber<br />

gesprochen und sie war nie dorthin gegangen! Hatte sie übrigens<br />

dort unten nicht noch Verwandte? Es stimmte, dass sie seit<br />

langem kein Lebenszeichen mehr bekommen hatte … waren sie<br />

vielleicht tot? Sie wusste nichts davon, absolut nichts … und sie<br />

kannte deren Adressen nicht einmal. Wie sollte sie diese also<br />

wieder finden?<br />

Trotzdem wäre es gut gewesen, die Familienbande wieder zu<br />

befestigen; sie fühlte sich nach dem Tod ihres Gatten in dieser<br />

großen Stadt so allein. Vorher lebte man glücklich, obwohl man<br />

sehr beschäftigt war, und man sorgte sich kaum um die<br />

Verwandtschaft, die auf der anderen Seite der Grenze wohnte.<br />

Aber alles hatte sich verändert und die Einsamkeit wog schwer<br />

auf ihrem Herzen; sie brauchte eine Zerstreuung, die auch ihrer<br />

Tochter guttun würde. Beim Hören solcher Pläne machte Flora<br />

Freudensprünge.<br />

Was die Verwandtschaft betrifft, die man um jeden Preis suchen<br />

wollte, plagte sich die kleine Tochter nicht mit Schwierigkeiten<br />

herum. Sie hatte für das Problem eine prompte Lösung<br />

gefunden, indem sie mit Sicherheit sagte: „Das ist ganz einfach,<br />

Mutti: Jeden Tag bitte ich Gott in meinen Gebeten, dass er uns<br />

hilft, unsere Onkel und Tanten zu entdecken. Und du wirst sehen,<br />

er wird es tun.“<br />

Die Mutter lächelte, während sie den Glauben des kleinen<br />

Mädchens bewunderte, das noch hinzufügte: „Und auch du wirst<br />

beten, Mutti, und es wird uns geholfen.“<br />

Mit dieser Hoffnung im Herzen suchte man in der Gegend, wo<br />

Frau Janins Mutter vor ihrer Abreise gewohnt hatte, eine<br />

136


escheidene Pension. So kam sie an einem schönen Tag vor<br />

dem Haus von Herrn Gerber an, der den Titel eines<br />

Pensionsinhabers erhalten hatte.<br />

Frau Janin, die vom Leben wenig verwöhnt war, genoss<br />

wunderbar die gute Luft, die Wetterveränderungen, das herrliche<br />

Panorama, den See und alles, was ihn umgab. Und obwohl die<br />

Pension einiges zu wünschen übrigließ, war sie glücklich über<br />

diese Ferien, die das genaue Gegenteil des Lebens in Paris<br />

waren.<br />

Unermüdlich wünschte Flora, jeden Tag baden zu gehen, und<br />

ihre Mutter folgte ihr … aber sie fühlte sich müde, die brennende<br />

Sonne setzte ihrem geschwächten Körper stark zu. Eines<br />

Morgens erschauderte es sie beim Aufstehen; da sie eine<br />

schreckliche Schwäche fühlte, ging sie ins Bett zurück. Flora ging<br />

zu Frau Gerber sagte ihr, dass ihre Mutter krank war.<br />

Diese sagte ihr dann mit großen erschrockenen Augen: „Das hier<br />

ist keine Klinik! Ich habe keine Zeit, um für die Kranken zu sorgen<br />

… ist es ansteckend? Was werden wir einfangen? Ich werde<br />

sofort den Arzt rufen!“<br />

Flora schaute die alte Dame an: Verblüfft hörte sie dieser Flut<br />

von Worten zu. Sie war so traurig … Mutti war krank!<br />

Der dringend herbeigerufene Arzt kam - und es setzte ein langes<br />

Gespräch zwischen den Inhabern der Pension und dem<br />

Praktizierenden ein, noch bevor man zur armen Frau hochstieg,<br />

um ihr ein wenig Betreuung zu leisten. Es wurde eine schnelle<br />

Entscheidung getroffen: Man musste diese Fremde sofort in ein<br />

Krankenhaus überführen.<br />

Was das kleine Mädchen betraf, würde sie bis zur Genesung der<br />

Mutter hierbleiben, und man würde sie erst dann zurückgeben,<br />

wenn Frau Gerber für alle Kosten und Mühen, die dieser kurze<br />

Aufenthalt verursacht hatte, eine Vergütung bekommen würde.<br />

137


Trotzdem rief diese wütend aus: „Was für ein Pech! Sie verreist,<br />

ohne etwas aufzuräumen und ohne zu putzen! Jetzt muss ich<br />

neue Mieter suchen! Werde ich überhaupt solche finden? Und<br />

als Höhepunkt ist die letzte Woche noch nicht ganz bezahlt! …“<br />

Und mit sich selbst sprechend murmelte sie: „Ich behalte die<br />

Göre … so ist es unmöglich, dass sie in ihr Land zurückkehrt,<br />

ohne mich zu bezahlen. Wir füttern sie nicht gratis - und um zu<br />

verhindern, dass sie sich bei den Nachbarn beklagt oder in<br />

unseren Sachen wühlt, schließen wir sie ganz einfach auf dem<br />

Dachboden ein … dort oben wird sie uns nicht zu stark stören.“<br />

Aber das alles sagte sie Frau Janin nicht - und zu ihrem Glück<br />

erfuhr die arme Mutter nichts von den qualvollen Tagen, die ihre<br />

kleine Flora erleiden musste.<br />

Der Arzt informierte sie darüber, dass man sie in ein<br />

Krankenhaus transportieren würde, wo sie besser umsorgt wäre.<br />

Es war vorzuziehen, sie sofort mitzunehmen, fügte er noch hinzu.<br />

Die Kranke protestierte heftig: „Und Flora, meine kleine Flora …<br />

wird man sie von mir trennen?“<br />

Man überzeugte sie davon, dass diese Entscheidung für das<br />

Wohl des Kindes sei, das sich diese Krankheit ebenfalls<br />

zuziehen könnte. Übrigens war es hier, in dieser schönen<br />

Gegend, sehr schön.<br />

Mit zerdrücktem Herzen hörte Frau Janin dem Urteil des Arztes<br />

zu … sollte sie noch etwas einwenden? Sie hatte dafür keine<br />

Kraft mehr … und sie ließ sich widerstandslos wegtransportieren.<br />

Warum hatte sie nur Paris und ihre Wohnung verlassen? Alles<br />

ging schief …<br />

Dann verwirrte sich alles in ihrem Geist und sie zitterte. Sie<br />

schaute noch einmal das traurige Gesicht von Flora an, die einen<br />

Augenblick vorher schluchzend noch gesagt hatte: „Ich will mit<br />

Mutti gehen!“<br />

138


Mit einer großen Anstrengung schickte sie ihr noch ein Lächeln<br />

zu, während sie sich selbst flüstern hörte: „Meine Flora, du wirst<br />

weise sein … ich werde bald geheilt sein …“<br />

Und das Auto, das die Kranke mitnahm, fuhr weg und schlug die<br />

Richtung des Krankenhauses ein.<br />

Von diesem Moment an waren es nur noch sehr undeutliche<br />

Erinnerungen. Weiße und ungenaue Formen flatterten rund um<br />

sie herum - und das dauerte; sie wusste nicht, wie lange.<br />

Eines Morgens sagte ihr eine süße Stimme: „Es scheint Ihnen<br />

heute viel besser zu gehen; wenn es so weitergeht, können wir<br />

Ihrer kleinen Tochter schon bald sagen, dass sie Sie besuchen<br />

kommt! …“<br />

Die kleine Tochter ist tatsächlich gekommen und hat die Freude<br />

von Frau Janins Herz überflutet.<br />

Und jetzt - was für eine Entdeckung!<br />

Ihr Onkel, der Bruder ihrer Mutter, ein Künstler mit viel Talent,<br />

befindet sich mit ihr in einem Bett liegend auf der anderen Seite<br />

der Wand! Was für ein Zufall! Ist das nicht einfach wunderbar?<br />

Wie sehr freute sie sich darüber, dass sie das alles Flora sagen<br />

konnte, die darüber natürlich nicht erstaunt war. Sie war ja so<br />

sicher gewesen, dass Gott ihre Gebete erhören und ihnen helfen<br />

würde, die Verwandten zu finden, die sie noch in der Schweiz<br />

hatten.<br />

„Manchmal muss man eben auf den dunklen Wegen gehen,<br />

damit Gott auf das antwortet, worum wir ihn bitten“, seufzt die<br />

Kranke nachdenklich.<br />

Es eilt ihr, bald den nächsten Morgen zu sehen, um die<br />

Ereignisse mitzuverfolgen, die sie jetzt so stark beschäftigen.<br />

Wie sehr wird ihr alter Onkel darüber zufrieden sein, Flora zu<br />

sehen, die Maria-Rosa so stark gleicht!<br />

139


Ein schönes Geschenk<br />

Während sie von einem Zimmer zum anderen gleitet, kehrt die<br />

Pflegerin mit seinem Bild in der Hand zum Maler zurück.<br />

Sie stellt das Gemälde auf das Bett des alten Mannes und sagt<br />

ihm, während sie ihn mit amüsierten Augen anschaut: „Herr<br />

Ennach, ich habe ihnen einen Auftrag zu überbringen, und ich<br />

muss das tun, bevor ich es vergesse …“<br />

Der alte Herr schaut seine Pflegerin mit fragenden Augen an.<br />

Diese fährt fort: „Die Kranke, der ich Ihr Meisterwerk zeigte, hat<br />

mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie die Cousine von Maria-<br />

Rosa ist.“<br />

„Wie?“<br />

„Ja - sie war ebenfalls überrascht, als ich dieses Porträt vor ihr<br />

aufgestellt habe. Es gibt eine solche Ähnlichkeit mit ihrer kleinen<br />

Flora, dass sie geglaubt hat - um damit zu beginnen -, dass man<br />

für sie eine Überraschung hatte bereiten wollen und ihr Kind<br />

während ihrer Krankheit Modell gestanden war, aber als sie Ihre<br />

Inschrift sah, hat sie verstanden. Es gibt eine<br />

Familienähnlichkeit: Sie sind ihr Onkel, ihre Mutter war ein<br />

Fräulein Ennach. Sie würde gern Ihre Frau sehen, wenn sie<br />

morgen kommt.“<br />

Der alte Mann versucht, seine Gedanken zu ordnen.<br />

Er schaut die Pflegerin erstaunt an - und plötzlich bricht es aus<br />

ihm heraus: „Was sagen Sie da? Die kleine Tochter dieser Dame<br />

heißt Flora?“<br />

„Ja - und sie gleicht Ihrem Bild erstaunlich.“<br />

„Ich zweifle nicht daran“, schlussfolgert der Maler mit einem<br />

verschmitzten Lächeln.<br />

140


Während die Pflegerin zu den anderen Kranken geht, bleibt Herr<br />

Ennach zerstreut, und er scheint gründlich nachzudenken - und<br />

als die Frau nah an seinem Bett vorbeigeht, stellt er eine brüske<br />

Frage: „Wie heißt jetzt wieder diese Dame, die von sich sagt, sie<br />

sei meine Nichte?“<br />

„Frau Janin.“<br />

„Danke! Aber ich kenne diesen Namen in meiner Verwandtschaft<br />

nicht.“<br />

„Ich glaube, sie kommt vom Ausland. Ihr Akzent lässt das<br />

vermuten …“<br />

„Ah!“<br />

Und Herr Ennach denkt wieder neu nach. Er zieht aus seiner<br />

Tasche die Visitenkarte, die ihm Hugo gestern Abend auf der<br />

Straße mitgegeben hat, und er liest: Hugo von Löwen, Hossfeld.<br />

Er denkt sich: Das wird immer sonderbarer. Ich verstehe nichts<br />

mehr und das nervt … schließlich wird es meine Frau mit ihr<br />

klären … und Flora? Das niedliche kleine Mädchen … kam sie<br />

ins Krankenhaus, als ich sie im Auto gesehen habe?<br />

Als er von seinen Träumen aufwacht, fragt er die Pflegerin noch<br />

einmal: „Fräulein Ruth, kommt die kleine Tochter dieser Dame<br />

sie manchmal besuchen?“<br />

„Sie war heute hier.“<br />

„Und morgen?“<br />

„Ich weiß nicht … vielleicht.“<br />

Der alte Maler sagt nichts mehr, doch er greift zum Pinsel und zu<br />

den Farbenbehältern und malt auf seinem Brett einen großen<br />

Strich - dann wischt er den Namen von Maria-Rosa fest<br />

entschlossen weg. An seiner Stelle setzt er mit schneller Hand<br />

andere Buchstaben hin und dann erscheint „Flora“ auf dem Blatt.<br />

141


„Na also“, flüstert er mit einem Seufzen, „es ist unnötig, sich zu<br />

täuschen … wir können die Wirklichkeit nicht verändern. Es führt<br />

zu nichts, sich von etwas zu überzeugen, das es nicht gibt.“<br />

Und er sagt weiter, indem er sich direkt an die Frau in Weiß<br />

wendet: „Morgen werden Sie ihr dieses Bild bringen und ihr<br />

sagen, es sei das versprochene Geschenk an ihr Kind.“<br />

„Wem genau soll ich dieses Gemälde bringen?“<br />

„Da schau her! Verstehen Sie nicht? Der Mutter von Flora!“<br />

Ohne zu antworten und ohne weiter danach zu forschen, das<br />

Warum von all dem besser zu verstehen, nimmt die Pflegerin das<br />

Meisterwerk mit sich - glücklich darüber, dass sie es bis morgen<br />

in ihrem Zimmer aufstellen und sich versprechen kann, es<br />

bequem zu bewundern, wenn sie sich nach diesem<br />

anstrengenden Tag ein wenig ausruhen kann.<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Was für ein Ereignis für Frau Janin, als die Pfllegerin ihr am<br />

nächsten Morgen beim Eintreten in ihr Zimmer sagt: „Hier ist das<br />

versprochene Geschenk von Herrn Ennach für Ihre Tochter!“<br />

„Was sagen Sie da?“<br />

Fräulein Ruth wiederholt: „Das ist das Geschenk, von dem Herr<br />

Ennach gesagt hat, er werde es Flora geben …“<br />

Frau Janin wird ungeduldig: „Erklären Sie sich!“<br />

„Ich kann darüber nicht mehr sagen … verstehen Sie nicht? Hat<br />

Ihr Kind Ihnen nichts darüber gesagt?“<br />

„Nein … und sehen Sie? Der Name hat sich geändert … das ist<br />

nicht mehr Maria-Rosa! Ich erkenne hier gut meine Flora! Ich war<br />

ja so sicher! Während meiner Krankheit wird sie wohl die<br />

Bekanntschaft mit meinem Onkel gemacht haben; daran gibt es<br />

keinen <strong>Zwei</strong>fel, sie wird mir das alles erzählen. Stellen Sie das<br />

Bild gut sichtbar auf den Tisch, so dass sie es sofort sieht, wenn<br />

142


sie kommt! Welche Idee hatte er da wohl, um Maria-Rosa zu<br />

schreiben? Flora hat in ihm zweifellos wieder die Erinnerung an<br />

seine Tochter wachgerufen; ich glaube, sie war ebenfalls blond<br />

…“<br />

Dann fragt sie: „Haben Sie gestern meinen Auftrag ausgeführt?“<br />

„Ja - er schien sehr überrascht und hat sich über Ihren Namen<br />

informiert.“<br />

„Haben Sie ihn ihm gesagt?“<br />

„Natürlich, doch er kennt niemandem mit dem Namen Janin in<br />

seiner Verwandtschaft.“<br />

„Wirklich? Dass er meinen neuen Namen nach der Heirat nicht<br />

kennt, überrascht mich nicht, aber es erstaunt mich, dass Flora<br />

es ihm nicht gesagt hat. Sie hat also nicht entdeckt, dass er ihr<br />

Onkel ist! Wie glücklich wird sie sein, wenn sie das erfährt! Ich<br />

brenne darauf, dass sie kommt.“<br />

Während dieses Gesprächs klopft jemand an die Tür. Ein<br />

Zimmermädchen kommt mit einem herrlichen Rosenbouquet<br />

herein, das ein Auslieferer soeben im Auftrag von Frau von<br />

Löwen gebracht hat.<br />

„Oh!“, ruft die Kranke aus, „alle sind so liebenswürdig! Während<br />

meines Aufenthalts im Krankenhaus hat Flora viele Freunde<br />

gewonnen und ich habe Nutzen davon.“<br />

Die Blumen werden direkt neben dem Bild auf den Tisch gestellt<br />

- und ihr Duft erfüllt das ganze Zimmer.<br />

Als Flora am Nachmittag das Zimmer in Begleitung von Dorothea<br />

betritt, richtet sich ihr erster Blick auf ihre Mutter, deren Augen<br />

vor Freude leuchten.<br />

„Danke, mein Liebling, für die schöne Überraschung!“, ruft die<br />

glückliche Mutter aus, „du hast eine solche Ähnlichkeit! Wie<br />

kommt es, dass du Herrn Ennach kennst?“<br />

143


„Was sagst du, Mutti?“<br />

„Das wird ein schönes Erinnerungsstück sein, um es nach Paris<br />

mitzubringen. Was für eine gute Idee du gehabt hast! Doch<br />

erzähl mir, wie es dazu gekommen ist! … weißt du, dass der<br />

Künstler dein Onkel ist?“<br />

Flora lässt ihre Mutter nicht aus den Augen. Sie schaut sie<br />

erstaunt an und versteht nichts von diesen Worten - und eine<br />

große Angst taucht in ihrem Herzen auf: Ist ihre Mutti wohl wieder<br />

sehr krank? Spricht man wohl so, wenn man im Delirium ist?<br />

Sie hat keine Zeit, um noch mehr nachzudenken. Dorothea<br />

schaut sich alles im Zimmer an und als sie das Bild wahrnimmt,<br />

ruft sie aus: „Oh! … Flora - wie gut du drauf bist!“<br />

Das kleine Mädchen fragt: „Wer hat das gemacht?“<br />

„Aber … Herr Ennach“, antwortet ihre Mutter lachend, „du kennst<br />

ihn, vermute ich. Du hast es anscheinend nicht gleich<br />

verstanden, als ich dir sagte, er sei dein Onkel.“<br />

Das Kind betrachtet das Porträt, stumm vor Erstaunen …<br />

Und plötzlich … eine Landschaft zieht vor ihren Augen vorbei:<br />

Sie sieht wieder die sonnige Straße, das Auto, das auf dem Land<br />

fährt, den ganz nahen Wald und die hübsche Stelle, wo es gut<br />

gewesen wäre, für einen Augenblick anzuhalten - genau die<br />

nötige Zeit, damit der Maler eine Zeichnung anfertigen konnte …<br />

Und trotzdem hielt man nicht an; dabei war das Porträt dort -<br />

noch besser als eine einfache Skizze.<br />

Was für ein Wunder hat er zustande gebracht, damit es so vor<br />

seinen Augen entstehen konnte!<br />

„Sagst du denn nichts?“, fragt Frau Janin, die über das<br />

Schweigen des Kindes erstaunt ist.<br />

Flora gibt ihre Stummheit auf und sagt laut: „Er hat meine Figur<br />

nicht gesehen! … wie hat er es gemacht? Warum hat er es dir<br />

144


geschickt? Hugo hat ihm seine Adresse gegeben …“<br />

Indem sie Dorothea anschaut, schließt sie: „Das ist der alte Herr,<br />

den wir im Auto mitgenommen haben; er hat es gemacht … da<br />

bin ich mir sicher. Er hat mir versprochen, mir ein Geschenk zu<br />

schicken. Warum hat er es Mutti gegeben?“<br />

„Weil er hier ist, im Nachbarzimmer; er leidet an einer<br />

Verstauchung … er hat erfahren, dass meine kleine Tochter<br />

Flora heißt. Wie hast du seine Bekanntschaft gemacht?“<br />

Jetzt mischt sich Dorothea ein und sagt: „Wir müssen Ihnen<br />

erzählen, was geschehen ist; ohne das wird es Ihnen nie<br />

gelingen, alles zu verstehen.“<br />

Das junge Mädchen, das Hugo und Billy über alle Vorfälle ihrer<br />

Reise auf dem Laufenden gehalten haben, erzählt der Kranken<br />

eine Kurzgeschichte über das Ereignis mit dem Autostopp.<br />

Sie schließt damit, dass sie vom rätselhaften Versprechen redet,<br />

das der alte Mann ausgedrückt hat, und das sich in einer<br />

prompten Antwort ausgedrückt hat. Der Beweis dafür ist das<br />

herrliche Bild, das den Tisch neben der Blumenvase schmückt.<br />

Flora ist glücklich; sie betrachtet ihr Gesicht - erstaunt darüber,<br />

dass es nur aus dem Gedächtnis gelungen ist, ein so genaues<br />

Werk zu vollbringen.<br />

„Das ist es, warum er mich während der ganzen Fahrt so<br />

angeschaut hat!“, ruft sie aus und fragt dann leiser: „Wie weißt<br />

du denn, dass er unser Onkel ist?“<br />

„Schau, mein Liebling!“, antwortet ihre Mutter, „der Maler hat sein<br />

Bild mit ‚Hans Ennach‘ unterzeichnet. Das ist der Name des<br />

Bruders meiner Mutter.“<br />

Flora schlägt ihre Hände zusammen - sie ist trunken vor Glück!<br />

„Ich war sicher, dass wir unsere Verwandten finden werden“,<br />

setzt sie dann ein, „der Herr Jesus hat doch gesagt: ‚Wenn ihr<br />

145


irgendetwas in meinem Namen erbittet, werde ich es tun.‘<br />

(Johannes 14, 14). Wenn ich erraten hätte, dass dieser<br />

freundliche Herr mein Großonkel ist, hätte ich ihn sofort umarmt!“<br />

Sie schließt fast flehend: „Ich würde ihm so gern ‚Guten Tag‘ und<br />

auch ‚Danke!‘ für sein schönes Geschenk sagen. Wo ist er? Etwa<br />

auf dieser Seite?“<br />

„Komm mit mir, ich führe dich zu ihm hin!“, sagt darauf die<br />

Pflegerin, die gerade das Zimmer betritt, und ergänzt mit einem<br />

fragenden seitlichen Blick zur Kranken: „Sie erlauben es doch,<br />

meine Dame?“<br />

„Aber sicher … unter der Bedingung, dass Flora dort nicht lange<br />

bleibt und unseren Onkel nicht ermüdet.“<br />

Während das Kind von Fräulein Ruth begleitet das Zimmer<br />

verlässt, setzt sich Dorothea neben Frau Janin und spricht ruhig<br />

mit ihr, ohne dass sie allzu sehr in die Einzelheiten der Ereignisse<br />

eingeht, die sich in den letzten paar Tagen abgespielt haben.<br />

Sie spricht mit ihr über Billy und Hugo und über den<br />

geheimnisvollen Brief, wobei sie ein paar Tatsachen weglässt,<br />

um die Kranke emotional nicht zu stark zu belasten.<br />

Frau Janins Augen beleuchten sich mit einer heißen Flamme und<br />

sie ruft, indem sie die vergangenen finsteren Tage vergisst: „Ich<br />

bin so glücklich und dankbar: Gott hat in seiner Güte gleichzeitig<br />

wie eine Prüfung die nötige Hilfe geschickt, damit wir trotzdem<br />

reich herauskommen. Flora konnte es nicht besser machen, als<br />

sich an die Wirksamkeit und an die beschützende Macht des<br />

Blutes Jesu, unseres Erlösers, zu halten. Was für ein Glück,<br />

wissen zu können, dass sie das so gut verstanden hat!“<br />

Während sie noch spricht, öffnet sich die Tür. Es erscheint Floria,<br />

die an der Hand eine ältere Dame hereinführt, die sich der<br />

Kranken mit strahlendem Gesicht nähert, obwohl sie wegen ihres<br />

Alters gewarnt worden ist.<br />

146


Das kleine Mädchen tritt sehr stolz zu seiner Mutter hin und sagt:<br />

„Mutti, ich stelle dir unsere Tante Katharina vor! Sie ist gerade<br />

gekommen, um Onkel Hans zu besuchen. Sie möchte das<br />

schöne Gemälde, das er gemacht hat, ebenfalls sehen.“<br />

Da steht Dorothea geräuschlos auf und geht schnell zur Tür<br />

hinaus, weil sie findet, dass sie bei diesem Familientreffen nicht<br />

dabei sein sollte.<br />

147


Das Rosenhaus öffnet wieder seine Türen<br />

Wiesberg, das hübsche Dorf, wo Billy seine ersten Schritte<br />

gegangen ist und wo er seine Kindheit erlebt hat, erwacht in der<br />

Stille eines schönen Sommertages.<br />

„Schau!“, ruft ein Morgenspaziergänger, „zieht jemand wohl<br />

wieder ins Rosenhaus ein? Die Fensterläden der Küche sind<br />

offen! Ob Herr Duval wohl wieder ins Dorf zurückkehrt? Wir<br />

wären glücklich darüber, sein sympathisches Gesicht wieder zu<br />

sehen!“<br />

Wenige Zeit später richten die Nachbarn, die von diesem<br />

Dorfbewohner in Kenntnis gesetzt worden sind, neugierige<br />

Blicke auf das unbewohnte Haus.<br />

Wer hat denn nur die Fensterläden geöffnet?<br />

Wir haben doch niemanden gesehen …<br />

Man beobachtet und schwatzt …<br />

Einen Moment später stehen alle Fenster weit offen und<br />

Franziska, die sehr beschäftigt ist, verlässt den Garten mit einem<br />

großen Einkaufskorb im Arm.<br />

Jetzt besteht kein <strong>Zwei</strong>fel mehr, denken sich die Leute, die<br />

Hausherren kommen wieder zurück!<br />

Wenig später, noch im Verlauf des Vormittags, hält ein Auto vor<br />

dem Haupteigang; daraus steigt ein großes Mädchen, dem ein<br />

kleines Mädchen und zwei Jungen folgen. Der Fahrer geht in<br />

seinem Wagen sofort weiter.<br />

Die Neugierigen erkennen sofort wieder das Antlitz von Billy; er<br />

hat sich nicht verändert, obwohl er grösser geworden ist.<br />

Aber wer sind denn nur diese jungen Leute, die ihn begleiten?<br />

„Oh!“, sagt ein Junge laut, „das ist seine Familie! Seit der<br />

148


Änderung seines Namens hat er einen Haufen von Brüdern und<br />

Schwestern!“<br />

Die Ankommenden, die nicht bemerken, dass sie von weitem<br />

beobachtet werden, treten in den Garten ein.<br />

Billy hält inne - mit Emotionen im Herzen …<br />

Er hat sich so darauf gefreut, sein Rosenhaus wieder zu sehen -<br />

und jetzt, da er durch seine Tür geht, wird er von einem<br />

seltsamen Gefühl überwältigt.<br />

Alles ist ruhig … derart ruhig.<br />

Die Gartenwege sind von Unkraut überwuchert; die Blumen sind<br />

gewachsen, wie es ihnen beliebte, und es herrscht ein<br />

unordentliches Gewirr auf dem ganzen Gelände.<br />

Eine Atmosphäre von Schlaf liegt rund herum über dem ganzen<br />

Anwesen, das viel Mühe zu haben scheint, um wieder<br />

aufzuwachen.<br />

Der junge Mann hatte nie eine solche Luft eingeatmet; als er hier<br />

wohnte, war alles voller Leben und Ordnung. Was für eine<br />

Veränderung!<br />

Er ist darüber enttäuscht und ruft: „Als wir abgereist sind - das<br />

war ganz anders!“<br />

Flora, Dorothea und Hugo sind ihm gefolgt und jeder nimmt an<br />

seinen Eindrücken teil.<br />

„Ich liebe dieses Haus!“, sagt die kleinste zuerst, „Mutti wird<br />

finden, es sei sehr hübsch!“<br />

„Es gibt Arbeit für euch“, fügt Dorothea hinzu, während sie sich<br />

an die beiden Jungen wendet, „ich werde euch helfen, überall<br />

alles wieder in Ordnung zu bringen.“<br />

„Nach einem Tag voll Arbeit wirst du sehen, Billy, wie alles<br />

149


verändert sein wird“, setzt dann noch Hugo fort, als er den<br />

niedergedrückten Gesichtsausdruck seines Bruders sieht.<br />

Der ältere ist immer noch unbeweglich und träumerisch … nach<br />

einem tiefen Seufzer sagt er schließlich laut: „Also gut! Es ist Zeit<br />

geworden, dass wir die Entscheidung fällen. Dieses Haus darf<br />

nicht verschlossen bleiben … das passt überhaupt nicht zu ihm.<br />

Es ist gemacht worden, um bewohnt zu werden. Floria, wir<br />

konnten uns nichts Besseres wünschen, als dich zu entdecken<br />

… und was für eine gute Idee du gehabt hast, mir zu schreiben!<br />

Dein Onkel und deine Tante Ennach, deine Mutter und du - ihr<br />

vier seid genau die gleiche Anzahl von Personen, als ich hier<br />

wohnte. Es wird dir gefallen, da bin ich mir sicher … wie es auch<br />

mir gefallen hat - und die Erholung deiner Mutti wird schnell<br />

geschehen.“<br />

Während Dorothea und Flora die Gartenwege durchstreifen,<br />

führt Billy Hugo zu seinem Zimmer - das Zimmer, das er zuletzt<br />

in seiner Verzweiflung darüber, ein verlorenes Kind zu sein,<br />

gesehen hat.<br />

„Es wird für Flora sein“, sagt er, als sie es wieder verlassen, „es<br />

ist bequemer als der Dachboden von Mutter Pick-Pick.“<br />

Und er fügt hinzu: „Es ist schade, dass sie bald nach Paris<br />

zurückkehren muss und nicht lange hierbleiben kann!“<br />

Während sie die Treppe hinuntersteigen, dringt Autolärm an ihre<br />

Ohren.<br />

Schnell eilen sie zum Eingang, wo Franziska ebenso in Eile ihre<br />

Reinigungsarbeiten vollendet, damit die Ankommenden ein<br />

sauberes und gastfreundliches Haus vorfinden.<br />

Sie sind beim Eingang, als Herr Ennach aus dem Auto steigt. Der<br />

alte Maler, dessen Bein es wieder viel besser geht, setzt seinen<br />

Fuß auf die Erde.<br />

Er hat mit Vergnügen den Vorschlag angenommen, während<br />

150


Frau Janins Genesung mit seiner Frau ins Rosenhaus zu<br />

kommen - glücklich darüber, dass er die Familienbande erneuern<br />

und eine Zeit lang in Begleitung der hübschen kleinen Blume<br />

leben kann, die ihn so stark an sein vor langer Zeit verlorenes<br />

Kind erinnert.<br />

Die beiden Jungen beeilen sich, ihn von jeder Seite zu stützen,<br />

während Dorothea und Flora vom Garten her angerannt<br />

kommen.<br />

„Mutti!“, ruft das kleine Mädchen seiner Mutter zu, die noch im<br />

Auto sitzt, „Mutti, wie schön es hier ist! Du kannst im Garten<br />

bleiben, in einem Sessel! Tante Katharina und ich werden uns<br />

um dich kümmern! … denk nur! Billy hat mir sein Zimmer<br />

gegeben!“<br />

Und in einem Atemzug fügt sie hinzu: „Ich würde gern immer<br />

hierbleiben! …“<br />

Dorothea hilft Frau Janin, aus dem Auto zu steigen. Man sucht<br />

im Lagerschuppen die Sessel, die brüsk von ihrem langen Schlaf<br />

geweckt den Garten von neuem möblieren.<br />

Man richtet sich auf dem Kies ein, wo das Gras noch nicht alles<br />

überwuchert hat, und Billy bemerkt mit Bedauern: „Es fehlen<br />

noch Großvater und Großmutter und unsere Eltern, damit das<br />

Fest vollkommen wird.“<br />

„Mama kann heute nicht kommen“, berichtet Dorothea, „sie<br />

erwartet Besuch und Papa hatte für diesen Tag schon andere<br />

Verpflichtungen.“<br />

Billy macht einen enttäuschten Schmollmund.<br />

„Tröste dich!“, fügt Franziska hinzu, „Herr und Frau Duval haben<br />

mir gestern versprochen, dass sie mit uns sein werden. Der<br />

Fahrer ist nach Hossfeld zurückgekehrt, sie haben nicht mehr<br />

lange.“<br />

Dann sagt sie weiter: „Also dann, während wir warten, werde ich<br />

151


die Gänge mit dem Rechen reinigen. Wer hilft mir dabei?“<br />

„Ich!“, rufen drei Stimmen gleichzeitig.<br />

Die Kinder machen sich mit Eifer an die Arbeit, jedes nach seinen<br />

Kräften und Fähigkeiten.<br />

Es ist angenehm, etwas zu reinigen, wenn es viel zu entfernen<br />

gibt! Wie schnell man die Veränderung sieht! Wie ermutigend ist<br />

das, um die Arbeiten weiterzuführen!<br />

Sie sind derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht das Auto<br />

hören, das zum dritten Mal kommt und diesmal Herrn und Frau<br />

Duval bis zum Eingangstor bringt.<br />

Als Franziska die Glocke läutet, um die Kinder einzuladen, sich<br />

an den großen Tisch im Garten zum Mittagessen zu setzen,<br />

erheben sie die Köpfe mit zufriedenen Blicken.<br />

Sie sind rot gebrannt, sie haben heiß, ihre Hände sind von der<br />

Erde schwarz geworden - aber sie sind glücklich.<br />

„Gehen wir oben im Badezimmer unsere Hände waschen!“,<br />

ordnet Billy an.<br />

Die fröhliche Bande stürzt sich ins Haus, ohne die Ankunft der<br />

Großeltern zu bemerken. Sie waschen sich gerade das Gesicht<br />

- dies hat jetzt die oberste Priorität.<br />

Während er die Treppe hinuntersteigt, schaut Billy auf die Wand<br />

und das vergilbte Bild, das immer noch dort hängt. Es hat sich<br />

nicht bewegt und ist noch nicht aufgefrischt, aber die Worte, die<br />

dort stehen, sind nicht älter geworden. Sie sind immer noch real<br />

existierend, genauso wahr wie im letzten Jahr: „Alle Dinge<br />

geschehen denen zum Besten, die Gott lieben.“ (Römer 8, 28)<br />

Als er seine Augen vom Bibeltext wieder abwendet, bemerkt der<br />

junge Mann an der Tür, die zum Garten hin offengeblieben ist,<br />

die Großmutter, die ihn kommen sieht. Sie hat am Ausdruck des<br />

Kindes die Gedanken verstanden, die seinen Geist erfüllen.<br />

152


Sie zieht ihn zu sich und fragt ihn: „Bist du glücklich, das<br />

Rosenhaus wieder zu sehen?“<br />

„Oh ja, Großmutter! So glücklich wie du - und was mir so viel<br />

Vergnügen bereitet, ist dies: Wenn wir es an diesem Abend<br />

wieder verlassen, werden wir die Fensterläden nicht mehr<br />

schließen. Es wird nicht mehr einsam und ohne Lärm bleiben -<br />

dank Flora.“<br />

„Und auch dank diesem geheimnisvollen Brief“, fügt Hugo hinzu.<br />

Floria, die sich ihnen angeschlossen hat, zeigt plötzlich ein<br />

missmutiges Gesicht und sagt laut: „Was für einen Blödsinn<br />

erzählt ihr da!“<br />

Und während sie den roten Gürtel von ihrem Kleid löst, ergänzt<br />

sie und schwingt diesen dabei: „Ihr irrt euch! Es ist nicht dank<br />

mir.“<br />

Alle verstehen diese Bewegung und Frau Duval stimmt zu:<br />

„Du hast Recht, Flora. Wie wertvoll ist es für alle, zu wissen, dass<br />

wir dank dem Blut des Herrn Jesus, der für uns gestorben ist,<br />

bewahrt und beschützt und von allen Dingen gerettet werden, für<br />

das Leben da unten und für die Ewigkeit!“<br />

Herr Duval stimmt mit dem Kopf zu und als er sich Billy zuwendet,<br />

bemerkt er: „Ich habe immer noch nicht erfahren, wie dieser Brief<br />

zu dir gelangt ist. Wer hat ihn zur Post gebracht?“<br />

Der Junge wirft einen verlegenen Blick zu seinem Bruder, der vor<br />

ihm antwortet: „Also das wissen wir überhaupt nicht.“<br />

„Er ist auf die Straße gefallen“, sagt Flora darauf.<br />

„Und ein wohlwollender Spaziergänger wird ihn in den<br />

Briefkasten geworfen haben“, schlussfolgert Billy.<br />

„Ohne eine Briefmarke draufzukleben?“, setzt Dorothea fort,<br />

„was für eine Idee!“<br />

153


„Das war vielleicht ein Kind“, meint Frau Janin, „oder ein<br />

Dorfbewohner, der gerade sein Portemonnaie nicht in der<br />

Tasche hatte.“<br />

„Diese Vermutungen können richtig sein“, setzt jetzt Herr Duval<br />

fort, „eine Sache ist aber sicher: Die liebenswürdige Person,<br />

welche die Geste machte, den Brief aufzuheben und ihn zur Post<br />

zu bringen, war sich bestimmt nicht über die Bedeutung und über<br />

die Folgen im Klaren, die dieser Dienst bewirkt hat.“<br />

„Ja“, erklärt die Großmutter - und dann sagt sie weiter, während<br />

sie die Kinder mit Wohlwollen anschaut: „Vergesst nicht die<br />

Lektion: Die Selbstzufriedenheit ist nicht zu vernachlässigen!“<br />

„Das ist wahr!“, ruft Hugo, „wenn der Brief statt den Weg zur Post<br />

zu nehmen in der Tasche der Person geblieben wäre, die ihn<br />

gefunden hat, oder wenn diese ihn ganz einfach in einen<br />

Mülleimer geworfen hätte, wäre Flora vielleicht immer noch auf<br />

ihrem Dachboden, und wir hätten sie nie kennen gelernt.“<br />

„Denken wir nicht mehr daran!“, schließt Frau Janin fröhlich.<br />

„Und setzt euch alle an den Tisch!“, fügt Franziska hinzu,<br />

während sie mit einer dampfenden Suppenschüssel kommt.<br />

Ende<br />

154


Am Schluss dieses Buches halte ich es für angebracht, die<br />

französischen Namen zu erwähnen, die ich für diese<br />

Übersetzung ebenfalls abgeändert habe. Hier sind sie in der<br />

chronologischen Reihenfolge:<br />

Villa zum Alten Dreieck (S. 12)<br />

Sankt Martin (S. 13)<br />

Frau Lagner (S. 16)<br />

Mariette, ihre Tochter (S. 16)<br />

Dorleben, wo Onkel<br />

Moritz wohnt (S.16)<br />

Heinrich (S. 17)<br />

Anni (S. 27)<br />

Flora (S. 42)<br />

Tante Lilian (S. 86),<br />

die Frau von Onkel Moritz<br />

Maria-Rosa (S. 119)<br />

Hans Ennach (S. 133)<br />

Tante Katharina (S. 147)<br />

Villa du Vieux Trianon<br />

Saint-Marvin<br />

Madame Lagnieu<br />

Mariette Lagnieu<br />

Dourlens<br />

Henri<br />

Annie<br />

Flore<br />

Tante Liliane<br />

Marie-Rose<br />

Jean Ennach<br />

Tante Catherine


Mario, das Kind aus dem Süden<br />

Dies ist die Übersetzung einer Geschichte, die schon im Jahr<br />

1961 veröffentlicht, aber noch bis heute nie ins Deutsche<br />

übersetzt worden ist. Das ist umso erstaunlicher, als die<br />

Waadtländer Autorin Madeleine Secrétan-Rollier (1908 - 1996),<br />

deren erstes Buch „Billy, la merveilleuse aventure d’un enfant<br />

perdu“ im Jahr 1954 erschien und ein Jahr später unter dem Titel<br />

„Billy bleibt immer Billy“ übersetzt wurde, zumindest im<br />

französischen Sprachraum noch heute bekannt ist, aber auch im<br />

deutschen Sprachraum und vor allem in der deutschsprachigen<br />

Schweiz ist sie nie ganz unbekannt gewesen.<br />

Was ich oben als Einleitung zu Madeleine Secrétan-Rolliers<br />

zweitem Roman „Hugo und Billy“ geschrieben habe, gilt auch<br />

hier. Heute wären solche Geschichten mit Kindern nicht mehr<br />

möglich, weil auch in Italien und selbst im äußersten Süden die<br />

Schulpflicht gilt, was ich bei einem mehrwöchigen Aufenthalt auf<br />

Sizilien selbst gesehen habe. Auch die rechtliche Stellung der<br />

Kinder hat sich gewaltig verbessert, diese Kurzgeschichte zeigt<br />

also ein Leben in einer zum Glück schon längst vergangenen<br />

Zeit.<br />

Zudem ist zu erwähnen, dass die Zeiten, in denen vor allem<br />

Italiener nur ein Jahr oder manchmal auch nur ein halbes Jahr<br />

lang in der Schweiz arbeiteten - deshalb sind auch die etwas<br />

bösen Wörter „Saisonnier“ und „Saisonnierstatus“ entstanden -,<br />

schon lange vorbei sind.


Inhaltsverzeichnis<br />

Seite<br />

Die Ohrfeige 1<br />

Kein Geld 10<br />

Aufbruch zu den Grotten 17<br />

Verloren 24<br />

Auf dem Weg nach Rom 31<br />

Allein auf den Straßen von Rom 37<br />

Mario klopft an die Tür 44<br />

Weine nicht mehr, Mario! 48<br />

Eine Zugfahrkarte 56<br />

Schließ die Augen, Mario! 65<br />

Mario trifft eine glückliche Wahl 70<br />

Das Geheimnis lüftet sich 77


Die Ohrfeige<br />

„Mario! Schau, schau!“<br />

„Wo?“<br />

„Dort, diese Ausländer … Amerikaner!“<br />

„Im Bus?“<br />

„Ja. Gib mir die Schachtel! Ich biete ihnen Süßigkeiten an; sie<br />

sind reich, sie werden kaufen …“<br />

Mario macht eine brüske Bewegung, stupst seinen Bruder und<br />

sagt: „Nein! Ich bin es, der geht!“<br />

Sie sind beide barfüßig. Mario ist neunjährig und Leonardo, der<br />

jüngere, wird bald seine acht Jahre feiern. Mager, mit<br />

zerknitterten Kleidern, die Gesichter grau wie der Staub und mit<br />

schwarzen Augen verbringen die beiden Jungen in Bari einen<br />

großen Teil ihrer Zeit auf der Straße.<br />

Flink rennt Mario zum Bus hin und macht sich bereit, um die<br />

Treppe zu besteigen. Es eilt ihm, seine Waren anzubieten. Er<br />

rechnet mit einem guten Verkauf und seine Augen strahlen<br />

Zufriedenheit aus; für einen Augenblick erhellt sich sein stumpfes<br />

Gesicht.<br />

Da erhebt sich harsch eine Hand, die ihn drückt und zum<br />

Stolpern bringt, während eine kräftige Ohrfeige ihn trifft.<br />

Das Kind rollt über das Kopfsteinpflaster … die Schachtel gleitet<br />

ihm aus den Händen und zerspringt. Die Süßigkeiten zerstreuen<br />

sich auf der Straße, sie rollen bis unter die Räder des Busses.<br />

Es ist der Fahrer, der zugeschlagen hat; empört schimpft und<br />

flucht er. Wird dieses Ungeziefer von Straßenkindern wohl damit<br />

aufhören, um seine Kundschaft herumzuschleichen?<br />

Verängstigt hat sich Leonardo wie der Blitz davongemacht; er<br />

1


hat sich in den Straßen der Stadt in Sicherheit gebracht, damit<br />

man seine Spur verliert.<br />

Mario selbst erhebt sich, als würde der Boden, der ihn so rau<br />

empfangen hat, ihn von sich weisen, ungeduldig darauf, ihn<br />

fliehen zu sehen.<br />

Das Kind hat nur einen Wunsch: Fliehen … so weit wie möglich<br />

fliehen. Er denkt an nichts, er wünscht sich nichts. Die Ohrfeige<br />

brennt noch auf seiner Wange, aber er fühlt sie kaum. Er ist an<br />

ähnliche Behandlungen gewöhnt - ist das nicht der Verdienst,<br />

den man ihm jedes Mal gibt, wenn er mit einer Schachtel nach<br />

Hause kommt, die immer noch voller Süßigkeiten ist, und mit<br />

wenig Geld in der Tasche?<br />

Mario sieht seine Hände leer und die Ware verloren …<br />

Wohin soll er gehen, um der Pein zu entgehen, die ihn umarmen<br />

wird? Die Süßigkeiten beenden ihren verrückten Lauf auf dem<br />

Asphalt; die Schachtel, die sie enthielt, ist auf dem Randstein<br />

zerstört - ein Fußgänger hat sie zertrampelt.<br />

Erschrocken lässt Mario alles liegen …<br />

Er rennt weg … und überquert den Bahnhofplatz. Er schlägt eine<br />

Straße ein, die zum Hafen führt.<br />

Keuchend eilt er immer schneller über die Straßen, seine<br />

mageren Füße berühren den Boden kaum. Ein kaltes Schaudern<br />

läuft ihm über den Rücken.<br />

Ist das nicht ein Katastrophentag? Es ist unmöglich, nach Hause<br />

zurückzukehren; man würde ihn schlagen.<br />

Und Leo - wo ist er jetzt?<br />

Oh, für ihn wird alles gut ausgehen! Sein Vater liebt ihn, er wird<br />

ihm keine Ohrfeige geben, er wird nachsichtig sein … Leonardo<br />

ist schließlich der wahrhaftige Sohn von Serafino Balutti.<br />

Aber Mario weiß, dass er selbst nur der Sohn seiner Mutter ist,<br />

2


also ein Halbbruder für Leo. „Mamma“ hat nach dem Tod seines<br />

Vaters wieder geheiratet, also liebt Serafino Mario nicht.<br />

Nein, heute wird er nicht nach Hause zurückkehren. Er wird<br />

verreisen … aber er weiß nicht, wohin er gehen soll.<br />

Die Idee zur Flucht beschwichtigt endlich seine Angst …<br />

Jetzt schlendert er dem Kai entlang, der ihn zur großen<br />

Seebrücke führt. Dort drüben ist die Luft leicht und das Meer blau<br />

… dunkelblau. Er wird den Fischern zuschauen, die ihre Netze<br />

flicken.<br />

Das kalte Schaudern, das ihm über den Rücken lief,<br />

verschwindet …<br />

Warum soll er noch erschrocken sein, da er ja nicht mehr zu<br />

seinen Eltern zurückkehrt?<br />

Der Tag schmückt sich mit Licht, die Sonne läuft sich warm. Sie<br />

graut, diese Sonne Süditaliens. Unter ihren Strahlen sind der<br />

Grundwasserspiegel, der Hafen und der Kai - erscheinen sie<br />

nicht mit ihrem Licht und mit ihren faszinierenden Farben?<br />

Das Herz hüpft, trotz des Elends und der Not an jedem Tag …<br />

Mario spaziert lange, er streift überall herum, er verweilt bei den<br />

Fischern.<br />

Und dann kommt ihm plötzlich ein Gedanke, der ihn wie ein<br />

Schwert durchbohrt: Wenn man ihn suchen würde? Wenn Leo<br />

oder sein Vater ihn wieder finden würden - was würde mit ihm<br />

geschehen?<br />

Und erneut erschrocken läuft er noch weiter - bis außerhalb der<br />

Stadt.<br />

Als die Nacht hereinbricht, werden Marios Schritte wieder<br />

langsamer. Die seltsame Einsamkeit der Landschaft beeindruckt<br />

ihn. Er zieht den höllischen Lärm der Stadt vor.<br />

3


Die Finsternis bedeckt den Hafen und der Himmel beleuchtet<br />

sich mit Sternen. Das Kind legt sich auf eine Kiesbank, wo die<br />

Seebrücke beginnt. Der nahe Straßenlärm dringt bis zu ihm hin,<br />

wie eine nötige Begleitung zu seinem Schlaf. Trotz der Schreie,<br />

der Lieder und des Stimmengewirrs, die anzeigen, dass es von<br />

Menschen wimmelt, schläft das Kind ein.<br />

Am nächsten Morgen weckt ihn eine schwere Last: Er hat<br />

Hunger. Aber sicher, er hat sich schlafen gelegt, ohne noch<br />

etwas zu essen!<br />

Mario bleibt noch auf dem Boden; er hat vergessen, dass sein<br />

Magen seine Rechte einfordern wird. Wird er ihn dazu zwingen,<br />

nach Hause zurückzukehren?<br />

Das Kind scheint für einen Augenblick verlegen; mit<br />

verschwommenen Augen sucht es die Lösung des Problems<br />

nicht.<br />

„Wir werden ja sehen“, flüstert Mario vor sich hin.<br />

Werden der Gemüsehändler ganz in der Nähe und die etwas<br />

weiter entfernten Fischer wohl nicht etwas geben, das die<br />

Forderungen seines mageren und trotzdem immer noch jungen<br />

Körpers beschwichtigen wird?<br />

Sein erbarmungswürdiges und hungriges Aussehen spricht für<br />

ihn … tatsächlich gibt ihm die Bananenhändlerin eine Banane.<br />

Ein Mann nähert sich auf dem Gehsteig; er trägt einen Koffer.<br />

Das Kind rennt auf ihn zu.<br />

Mit feurigen Augen und einem breiten Lächeln sagt er zu ihm:<br />

„Ich kann Ihnen helfen, mein Herr.“<br />

„Danke“, antwortet der Fremde, „aber dieser Koffer ist für dich zu<br />

schwer.“<br />

Und er schaut dieses arme zerbrechliche Wesen mitfühlend an.<br />

Das Kind besteht aber darauf; es legt seine Hand um den Henkel<br />

4


des schweren Gepäcks. Sein Lächeln wird noch grösser, als es<br />

sagt: „Ich bin stark, ich kann das. Lassen Sie mich machen! …“<br />

Der Reisende wird ungeduldig. Er zieht aus seiner Tasche eine<br />

Münze, wirft sie ihm hin und sagt: „Nimm sie und lass mich<br />

meinen Weg weitergehen!“<br />

Mario wendet sich nach der entgegengesetzten Richtung zu<br />

jener, die der Unbekannte eingeschlagen hat.<br />

Er ist zufriedengestellt; seine geschlossene Faust wärmt ein<br />

wenig Geld an.<br />

Er wird essen können …<br />

Der Tag geht vorbei mit Flanieren auf den Straßen des alten<br />

Bezirks, den er kaum kennt. Gegen den Abend kehrt er zum Kai<br />

zurück, er findet die Seebrücke wieder.<br />

Er sieht ebenso wieder die Kiesschicht, wo er in der vorherigen<br />

Nacht so gut geschlafen hat; er legt sich dort noch einmal hin.<br />

Bevor der Schlaf ihn überwältigt, hört er auf das Plätschern des<br />

Wassers. Er schaut um sich …<br />

Wie viele Male wird er wohl noch hierherkommen, um zu<br />

schlafen?<br />

Plötzlich denkt er an seine Mutter … ein inniger Wunsch<br />

bemächtigt sich seiner, er würde sie gern wiedersehen. Er würde<br />

auf seiner Wange gern den Kuss fühlen, den sie ihm an jedem<br />

Abend gibt, bevor er einschläft.<br />

Eine Träne kullert aus seinen Augen. Er steht auf - bereit, dem<br />

Zorn des Vaters entgegenzutreten, um die Stimme seiner Mutter<br />

zu hören.<br />

Die Angst vor der Nacht hält ihn aber zurück …<br />

Nein, er wagt es nicht, in dieser späten Stunde die Straßen zu<br />

überqueren und bis zu seinem Bezirk zu gehen.<br />

5


Mit schwerem Herzen vor lauter Trauer legt er sich wieder hin, er<br />

versteckt seinen Kopf in den Armen und die Dunkelheit vertieft<br />

sich. Zum Glück überwältigt ihn der Schlaf und stoppt seine<br />

Tränen.<br />

---------------------------------------------------------------------------------<br />

Als er am nächsten Morgen aufwacht, ist er entschlossen, nicht<br />

mehr zu zögern. Der Gedanke, hier eine weitere Nacht zu<br />

verbringen, lässt ihn gefrieren. Er will zu seiner Mutter<br />

zurückkehren …<br />

Der Zorn des Vaters wird sich vielleicht gelegt haben, übrigens<br />

nagt der Hunger an ihm …<br />

Fest entschlossen geht er also nach Hause. Er folgt den breiten<br />

Straßen der Stadt und erreicht bald den alten Bezirk mit den<br />

altersschwachen Häusern im orientalischen Stil.<br />

Er schaut nach allen Seiten; er würde gern Leonardo sehen,<br />

bevor er eintritt. Er will ihn fragen, wie Serafino Balutti die<br />

Nachricht vom Verlust seiner ganzen Ware aufgenommen hat.<br />

Mario starrt die Kinder an, die sich auf dem Platz vergnügen; er<br />

hält an …<br />

Nein, Leo ist nicht hier - wie schade!<br />

Er wird also wohl ganz allein ins einzige Zimmer eintreten, das<br />

der Familie als Wohnstätte dient. Zögernd nähert er sich …<br />

Vor der Tür hält ihn eine Nachbarin auf, die laut zu ihm sagt: „Ah,<br />

da bist du also! … woher kommst du? Herumtreiber! Was hast<br />

du nur gemacht? Sie haben dich überall gesucht … du hast deine<br />

Mutter zum Weinen gebracht. Sag mir, woher kommst du?“<br />

Wortlos schaut Mario die Frau an. Man könnte glauben, er sei<br />

stumm.<br />

„Woher kommst du?“, wiederholt die scharfe Stimme.<br />

6


Mit geschlossenem Mund und Augen, die nirgendwohin blicken,<br />

dreht das Kind den Kopf weg.<br />

Frau Gardali fährt fort: „Sie sind abgereist … sie sind abgereist<br />

… und du bleibst allein zurück! Eine gute Strafe! Du hättest nach<br />

Hause zurückkehren sollen.“<br />

Dann setzt sie etwas erweicht fort: „Du hast Angst gehabt …<br />

nicht wahr? Du hast dich in Sicherheit gebracht.“<br />

Ohne die Augenlider zu erheben, schüttelt der Junge sein<br />

zerzaustes Haar mit einem bejahenden Zeichen.<br />

Mit langsamer Stimme ohne Leben und ohne Wunsch in ihr fragt<br />

der Junge schließlich: „Sie sind abgereist?“<br />

„Ja - du hast gewusst, dass dieser Tag bald kommt.“<br />

„Ich habe es vergessen“, sagt das Kind, während sein grauer<br />

Blick auf nichts mehr sieht.<br />

„Deine Mutter hat dich gesucht, sie hat dich gerufen. Sie hat<br />

geglaubt, du würdest bis zur Nacht zurückkehren - und dein<br />

Vater ist wütend geworden. Jetzt stehst du allein da … sie haben<br />

den Zug gestern Abend genommen … heute werden sie in der<br />

Schweiz ankommen.“<br />

Diese Reise in die Schweiz, auf die er sich so gefreut hat! …<br />

Ein Schauder schüttelt ihn, sein bleiches Gesicht wird noch<br />

bleicher.<br />

Die Frau beobachtet ihn; mit harten Gesichtszügen, gebräunter<br />

Haut, schwarzen Haaren mit einem Stirnband und schwerer<br />

Figur bleibt sie verlegen stehen. Was soll man bloß mit diesem<br />

Jungen machen?“<br />

Plötzlich verwandelt sich ihr stählerner Ausdruck mit wildem<br />

Leuchten, er hellt sich auf. Ihr Mund lacht und ihre Augen<br />

7


nehmen einen Farbton an, als sie sagt: „Komm! Es gibt für dich<br />

noch einen Platz; wir werden zusammenrücken.“<br />

Die Kinder, die sich auf dem Platz vergnügt haben, sind eines<br />

nach dem anderen herbeigekommen. Sie bilden um Mario und<br />

Frau Gardali einen Kreis. Neugierig betrachten sie die Szene und<br />

hören verschiedene Stimmen.<br />

„Wir können ihn bei uns aufnehmen!“, ruft einer von ihnen.<br />

„Nein, bei uns!“, fügt eine andere Stimme noch lauter hinzu.<br />

Die Frau antwortet nicht; sie wendet sich einer jungen Dame zu,<br />

die mit einem Kind auf dem Arm herbeikommt.<br />

„Mario!“, ruft die neu Angekommene, „seid ihr etwa nicht<br />

abgereist?“<br />

„Doch, sie sind abgereist“, sagt Frau Gardali mit gehackter<br />

Stimme, „natürlich sind sie abgereist … ohne ihn.“<br />

Dann ergänzt sie etwas sanfter: „Sie hätten noch einen Tag oder<br />

zwei warten können, bis er zurückkehrt.“<br />

Sie hebt ihre Schultern und setzt fort: „Er hat sich in Sicherheit<br />

gebracht … man schlägt ihn, also hat er Angst …“<br />

„Armer Kleiner!“, sagt die junge Frau, „trotzdem ist er hübsch mit<br />

seinen großen Augen. Glauben Sie nicht, dass der Vater die<br />

Abreise beschleunigt hat, um zu vermeiden, ihn mitzunehmen?<br />

Ein Mund weniger zu ernähren …“<br />

„Es könnte sein, dass Sie Recht haben. Die Mutter beschwerte<br />

sich und auch Leonardo, aber Serafino Balutti schien das nicht<br />

zu schmerzen. Er schrie jedem zu, der es hören wollte: Das ist<br />

eine gute Strafe, die ihn in Zukunft weise machen wird!“<br />

„Werden sie lange weg sein?“<br />

„Er hat einen Arbeitsvertrag für ein Jahr in einer Fabrik. Er wird<br />

Geld verdienen und mit vollen Taschen zurückkehren.“<br />

8


„Und der Junge?“<br />

„Wir werden für ihn einen Platz finden, hier unter unserem Dach<br />

- hörst du, Mario?“<br />

Das Kind, das anscheinend vom Träumen aufwacht, hebt für<br />

einen Augenblick den Kopf.<br />

„Bei euch?“, ruft die junge Frau heftig aus, „ihr habt ja schon<br />

sechs! Genügt euch das nicht?“<br />

„Einer mehr, einer weniger … na und?“<br />

„Also dann viel Vergnügen! Jetzt muss ich aber zurückkehren …<br />

mein Mann kommt bald und Nina ist hungrig - nicht wahr, Nina?“<br />

Die junge Frau streichelt die runden und roten Wangen ihres<br />

Kindes, das sie mit einem zustimmenden Lächeln anschaut.<br />

„Was für eine schöne Bambina!“, sagt Frau Gardali.<br />

Ihre Gesprächspartnerin richtet sich auf und sie meint mit Augen,<br />

die vor Stolz glänzen: „Sie ist schwer, aber sie wird bald gehen.<br />

Auf Wiedersehen, Frau Gardali - und auf Wiedersehen, Mario!<br />

Du wirst brav sein, nicht wahr?“<br />

9


Kein Geld<br />

Die Nacht ist hereingebrochen; Mario schläft nicht.<br />

Da alle Betten der Unterkunft schon belegt waren, hat man für<br />

ihn auf einem alten Sofa etwas Provisorisches eingerichtet: Eine<br />

winzige Matratze und eine Decke - das ist genug, damit er sich<br />

wohl fühlt.<br />

Man hört keinen Lärm mehr. Anna, Angelo, Pasquale, Maria,<br />

Antonio und Raffaele - die sechs Kinder von Frau Gardali ruhen<br />

still aus. Der Schlaf hat sie alle überwältigt.<br />

Sie bewohnen ein großes und einziges Zimmer ohne Fenster,<br />

von dem die Tür sich zur Straßenseite hin öffnet. Der Boden ist<br />

von matschigen Ziegelsteinen bedeckt. In einer Ecke sieht man<br />

den Ofen, den Schornstein und ein wenig weiter davon entfernt<br />

den großen Schrank, in dem die Kleider hängen.<br />

Rund um die nackte Wand, die unvollständig geweißelt worden<br />

ist, befinden sich mehrere Nischen, die von großen und<br />

durchlöcherten Vorhängen bedeckt werden. Hinter diesen<br />

Vorhängen sind die Betten, auf denen die Eltern und Kinder<br />

schlafen.<br />

Die Betten sind breit und die Kinder winzig darauf; sie stapeln<br />

sich zu dritt auf der gleichen Matratze und schlafen gut darauf.<br />

Mario hat die Augen noch nicht zugemacht; das Sofa, auf dem<br />

er liegt, führt der Mauer entlang.<br />

Das Kind gewöhnt sich an die Dunkelheit. Seine ängstlichen<br />

Augen starren auf den großen Tisch inmitten des Zimmers, dort,<br />

wo die Familie sich einengt, um ihre Mahlzeiten einzunehmen.<br />

Man hat ihm einen kleinen Platz in einer Ecke zugestanden …<br />

Das alles hat für ihn kein Interesse, sein Herz bleibt hart und kalt.<br />

Er empfindet keine Anerkennung für diese Leute, die sich<br />

10


eingeengt haben, um ihn zu empfangen. Trotzdem würde er<br />

ohne sie auf den Straßen herumschleichen und der Hunger<br />

würde ihn niederdrücken.<br />

Viel zu traurig denkt er gar nicht daran.<br />

Sein schöner Traum ist zusammengebrochen: Die lange Reise<br />

im Zug in ein Land, wo es viele Berge hat, dieses Land, das vom<br />

Meer so weit weg liegt, dass man dieses nicht mehr sieht, diese<br />

Schweiz, von der sein Vater gesagt hat, dass man dort gut lebt<br />

und viel Geld verdient - das alles wird er jetzt nicht sehen.<br />

Und während eines langen Jahres wird er von seiner Mutter<br />

getrennt sein, er wird ihre Küsse nicht mehr bekommen. Ein<br />

schwerer Kummer zerstampft ihn; es scheint ihm, dass das<br />

Leben nichts als ein großes schwarzes Loch ist, wo alles<br />

entsetzlich traurig wird.<br />

Er erhebt sich gegen diese unglückliche Existenz; diese Leute,<br />

die ihm Gastfreundschaft anbieten, lieben ihn nun einmal nicht.<br />

Sie leben glücklich zusammen und weil sie mehr als er besitzen,<br />

verabscheut er sie.<br />

Sein Schluchzen, das er zu unterdrücken versucht, wühlt ihn<br />

durcheinander und erschöpft ihn.<br />

Nein, er wird nicht hier bleiben … nein! Seine Mutter wartet in der<br />

Schweiz auf ihn, da ist er sicher. Er wird gehen und sich ihr<br />

anschließen!<br />

Aber wie soll er das machen?<br />

Völlig erschöpft schläft er endlich ein. Er hat für diese brennende<br />

Frage keine Lösung gefunden …<br />

Am nächsten Morgen steht er wie alle anderen auf. Er geht mit<br />

Frau Gardalis Kindern zur Schule. In letzter Zeit ist er nicht oft in<br />

seine Klasse gegangen. Sein Vater hat gesagt: „Ich brauche<br />

Geld für die Reise, du wirst später zur Schule gehen.“<br />

11


Jetzt ist es später … und er geht zur Schule. Marios Augen<br />

strahlen einen sehr dunklen Ausdruck aus. Die Trauer kann auf<br />

seinem Gesicht gelesen werden. Seine Füße bewegen sich zwar<br />

auf dem Weg in die Richtung des großen Schulgebäudes, aber<br />

seine Füße, seine Beine und sein ganzer Körper gehen ohne ihn;<br />

sein Geist und sein Herz sind ganz anderswo.<br />

Während er geht, denkt er ständig an seinen Wunsch, in die<br />

Schweiz zu reisen.<br />

Dafür braucht es viel Geld, Serafino Balutti hat es gesagt - und<br />

Mario hat nicht eine Lire in seiner Tasche!<br />

Diese quälende Frage zermartert sein Gehirn unaufhörlich: Wie<br />

soll er das nur machen?<br />

Als er aus der Schule kommt, gleitet Mario weg; er hat nicht vor,<br />

gleichzeitig mit der Gardali-Herde zurückzukehren.<br />

Das Leid ist ihm vorbehalten; er bewahrt es eifersüchtig und zieht<br />

die Einsamkeit vor.<br />

Als er sich seinem neuen Zuhause nähert, sieht er Frau Gardali<br />

vor der Tür aufrecht stehen. Sie schaut von weitem, sie<br />

überwacht die Ankunft der Kinder. Sie bemerkt Mario, der mit<br />

einer Grimasse den Wänden des Hauses entlangschleicht.<br />

„Du kommst allein?“, fragt sie, „und die anderen?“<br />

Der Junge macht eine Handbewegung; er dreht sich nach hinten,<br />

um anzuzeigen, dass sie hinter ihm kommen.<br />

Er schaut auf seine Schuhe; man hat ihn genötigt, sie<br />

anzuziehen, um zur Schule zu gehen. Sie sind schwer und<br />

sperrig. Er würde es vorziehen, barfuß zu gehen. So sieht er<br />

offensichtlich am besten aus, er fühlt sich wichtiger.<br />

„Du kommst als Erster - also geh etwas besorgen!“, sagt die Frau<br />

nach kurzem Überlegen, „das eilt. Nimm diesen Sack, um die<br />

Nudeln hineinzutun! … ein Kilo wird genügen. Und da ist das<br />

12


Portemonnaie. Vor allem verlier nichts! Es enthält eine Note von<br />

1‘000 Lire. Pass auf, dass man dir richtig zurückgibt!<br />

Verstanden?“<br />

„Ja“, antwortet das Kind mit hartem und verschlossenem<br />

Gesichtsausdruck.<br />

Der Laden befindet sich ganz in der Nähe; man muss nur eine<br />

Straße nach rechts und nachher eine nach links nehmen.<br />

Mario geht schnell davon; dann dreht er einen Winkel vom Haus<br />

weg und verlangsamt den Schritt. Er hält an und überlegt: Mit<br />

seinen Schuhen hämmert er auf das Kopfsteinpflaster. Frau<br />

Gardali sieht ihn nicht mehr …<br />

Mario denkt nur an eines: Er braucht Geld, um in die Schweiz zu<br />

gehen … und im Portemonnaie hat es!<br />

Geld! Genau das, was er braucht.<br />

Während er den Geldbeutel festhält, beginnt er zu zittern, und<br />

das Herz des Kindes schreckt vor lauter Emotionen zurück.<br />

Mario denkt jetzt über nichts mehr nach. Wozu soll das gut sein?<br />

Er hat die Lösung gefunden, die er so sehr gesucht hat.<br />

Er fragt sich nicht, ob er damit etwas Gutes oder Schlechtes tut<br />

und ob er Frau Gardali traurig machen wird. Nein … was<br />

kümmert ihn das!<br />

Er sieht nur noch sein trauriges Leben und seinen innigen<br />

Wunsch, dieser Traurigkeit zu entfliehen.<br />

Die Stimme Gottes, die sagt: „Du sollst nicht stehlen!“ - diese hört<br />

er nicht, weil er sie nicht kennt. Niemand hat mit ihm darüber<br />

gesprochen, kein einziges Mal. Im Gegenteil, er hat so oft<br />

gesehen, wie rund um ihn herum gestohlen und gelogen wird,<br />

um sich aus der Affäre zu ziehen.<br />

Das Kind springt auf: Es sieht plötzlich Anna und Antonio, zwei<br />

der Gardali-Kinder, die von weiter unten kommen. Mario geht<br />

13


schnell in Richtung des Ladens und erledigt hastig den Einkauf.<br />

Als man ihm das Wechselgeld überreicht, lässt er die Noten<br />

schnell in eine Hosentasche gleiten.<br />

Er verlässt den Laden; während dieser kurzen Zeitspanne sind<br />

Anna und Antonio weitergegangen und jetzt sind sie sehr nahe.<br />

Mario geht zu ihnen hin und ruft ihnen zu: „Nehmt das und geht<br />

damit schnell nach Hause!“<br />

Er legt den Sack, der die langen Nudeln enthält, in Annas Hände,<br />

und dann gibt er Antonio das Portemonnaie.<br />

Frau Gardalis Sohn stellt ihm erstaunt diese Frage: „Und du -<br />

kannst du nichts tragen?“<br />

„Ich“, antwortet Mario leicht verwirrt, „ich … ich komme bald. Ich<br />

muss noch etwas anderes erledigen.“<br />

Er geht eilig weg und ruft ihnen noch zu, während er sich noch<br />

einmal umdreht: „Dort unten!“<br />

Antonio und Anna antworten nichts; mit runden Augen<br />

beobachten sie ihn eine Weile. Dann sagt das Mädchen: „Er ist<br />

lustig, dieser Mario.“<br />

Ihr Bruder zeigt ein verständnisvolles Gesicht und meint: „Er<br />

langweilt sich.“<br />

Mario ist verschwunden, während er sich von der Straße<br />

wegdrehte. Plötzlich hält ihn jemand an: Ein großer Junge<br />

versperrt ihm den Weg und fragt ihn: „Hallo, Mario, wohin gehst<br />

du?“<br />

Das Kind stoppt keuchend und antwortet: „Zum Bahnhof … lass<br />

mich! Ich habe es eilig!“<br />

„Zum Bahnhof?“, wiederholt der junge Mann, „deine Eltern sind<br />

aber gestern abgereist, ich habe sie gesehen. Und du - was<br />

machst du dort?“<br />

14


Marios Augen werfen Blitze, sein Mund verbiegt sich zu einer<br />

bitteren Falte - und er ruft in flehendem Ton: „Pietro! Lass mich,<br />

ich werde zu ihnen gehen!“<br />

„Du? Ganz allein? Wirst du die Reise ganz allein machen?“<br />

Das Kind richtet sich wieder auf, ein wildes Glühen ist in seinen<br />

Augen - und dementsprechend antwortet es: „Jawohl, ich ganz<br />

allein.“<br />

„Du vergisst, dass es dafür Geld braucht“, entgegnet Pietro<br />

sofort.<br />

„Ich habe es“, antwortet der Junge kurz und treffend.<br />

Während sie sprechen, folgt Pietro dem Schritt seines jungen<br />

Kameraden. Er legt eine Hand unter seinen Arm und sagt mit<br />

einem freundschaftlichen Lächeln: „Zeig es mir! Hast du es?“<br />

„Ja“, antwortet Mario stolz.<br />

Und er zieht die Noten aus seiner Tasche.<br />

Pietro zählt sie.<br />

„Achthundert Lire - und das ist alles?“<br />

Das Kind schaut zum älteren auf, er macht mit seinem Kopf ein<br />

energisches Zeichen. Pietro, der große Junge von fünfzehn<br />

Jahren, fragt heftig: „Und du denkst, mit dieser Summe in die<br />

Schweiz zu reisen?“<br />

„Warum nicht?“<br />

Pietro lacht weiter und sagt: „Mach dich nicht müde, um nur bis<br />

zum Bahnhof zu gehen - das ist unnötig! Du wirst keine Fahrkarte<br />

bekommen. Es wäre zehnmal mehr nötig.“<br />

Mario fühlt, wie ein Schauer seinen Körper durchdringt; sein<br />

Gesicht wird bleich. Schmerzlich fragt er: „Glaubst du?“<br />

„Aber sicher! Armer Mario? Wo schläfst du jetzt?“<br />

15


„Bei Frau Gardali. Aber ich will nicht dort bleiben … ich habe mich<br />

davongemacht, weil Serafino mich schlagen wollte. Als ich dann<br />

zurückkam, war niemand mehr im Haus.“<br />

Sein erbitterter und entschlossener Gesichtsausdruck bewegt<br />

seinen Kameraden, der sagt: „Hör zu! Ich werde dir helfen …“<br />

„Ach ja?“, ruft das Kind, „hast denn du Geld?“<br />

Piero wühlt bis unten in seiner Tasche und antwortet schließlich:<br />

„Nein, keine einzige Münze.“<br />

„Und jetzt? …“<br />

„Jetzt … komm! Gehen wir weiter auf unserem Weg! Hast du<br />

Frau Gardali gesagt, dass du abreist?“<br />

„Nein - sie hätte mir nicht erlaubt, das zu machen.“<br />

„Natürlich nicht. In diesem Fall müssen wir uns beeilen, bevor sie<br />

sich beunruhigen und dich zurückbringen.“<br />

Mario schaut mit fragenden Augen zu seinem Kameraden auf,<br />

sein Blick wird vertrauenswürdig. Das Kind bewundert diesen<br />

großen Jungen, sie wohnen an der gleichen Straße. Pietro ist<br />

intelligent, er bringt die Kinder des Bezirks oft zu fügsamen<br />

Banden zusammen. Man respektiert ihn, man liebt ihn. Mario<br />

vertraut ihm. Die Mütter sagen, er ist brav. Allerdings kennt man<br />

ihn auch dafür, dass er manchmal schlechte Tricks anwendet.<br />

Doch er will Mario helfen, sein Abenteuer weiter zu verfolgen. Er<br />

empfindet ein berauschendes Vergnügen und eine große<br />

Befriedigung, vermischt mit einem berechtigten Stolz: Dank ihm<br />

wird das Kind vielleicht in die Schweiz reisen.<br />

16


Aufbruch zu den Grotten<br />

Sie sind mit guten Schritten vorwärts marschiert, schon sind sie<br />

am Bahnhof angekommen. Pietro zieht seinen Kameraden zu<br />

einer verlassenen Ecke. Er hat im Kopf eine Idee, diese will er<br />

ihm jetzt mitteilen.<br />

Mario wartet schweigend, er scheint verunsichert.<br />

Seine dunklen Gesichtszüge scheinen das Problem anzuzeigen,<br />

sein Herz schlägt heftig. Er lehnt sich an eine Mauer, er lässt sich<br />

von der Mittagssonne durchdringen.<br />

„Willst du wirklich in die Schweiz gehen?“, fragt Pietro ernsthaft.<br />

„Ja“, antwortet das Kind sofort.<br />

„Also dann“, setzt der junge Mann fort, „schau, du hast kein Geld<br />

… also musst du Leute finden, die dich in einem Auto<br />

mitnehmen.“<br />

Mario richtet sich erstaunt auf und fragt: „In einem Auto?“<br />

„In einem Auto, natürlich. Mit Ausländern … Amerikaner,<br />

Schweizer, ganz gleich wer … sie sind alle reich, diese Leute!<br />

Sie können dir sehr wohl einen Platz in ihren Fahrzeugen<br />

überlassen.“<br />

„Aber … ich weiß nichts davon … weißt du, wo man diese<br />

Amerikaner und schließlich auch Schweizer finden kann?“<br />

Pietro macht eine Grimasse und antwortet: „Hier in Bari …“<br />

Dann spricht er weiter, indem er mit dem Kopf schüttelt:<br />

„Natürlich nicht hier, sie sind viel zu wenig. Trotzdem kenne ich<br />

einen Ort, wo du viele davon und in Massen sehen wirst. Wenn<br />

die einen dich nicht wollen, werden die anderen dich sicher<br />

mitnehmen. Du wirst eine schöne Auswahl haben.“<br />

Marios Augen werden grösser, ein Freudenblitz erleuchtet sie.<br />

17


„Aber … wohin soll ich gehen?“<br />

„Nicht sehr weit. Du nimmst den Zug bis Castellana … mit<br />

deinem Taschengeld hast du genug, um die Reise zu bezahlen.<br />

Dort wirst du Touristen treffen und viele …“<br />

„Schweizer?“<br />

„Sicher.“<br />

„Wie weißt du das? Wer hat es dir gesagt?“<br />

„Ich bin im letzten Jahr dorthin gegangen, ich habe die Grotten<br />

mit meinem Vater besucht. Wir haben dort eine Menge von<br />

Ausländern getroffen. Die Grotten sind außerhalb der Stadt auf<br />

dem Land; du wirst sehen, du wirst sie finden …“<br />

„Ich werde sie finden“, versichert Mario, dessen Augen leuchten<br />

und die Sonne Italiens widerspiegeln.<br />

Während er sich Pietro zuwendet, fügt er hinzu: „Du wirst aber<br />

Frau Gardali nicht sagen, wohin ich gegangen bin …“<br />

Sein Kamerad entgegnet sofort: „Hältst du mich für eine kleines<br />

Kind? Ich weiß, wann ich reden muss, und ich weiß auch, wann<br />

ich schweigen muss.“<br />

Mario wirft einen bewundernden Blick auf seinen Freund und<br />

sagt: „Danke, Pietro! Wenn ich in der Schweiz bin, schreibe ich<br />

dir.“<br />

„Ich rechne fest damit. Gehen wir also deine Fahrkarte holen! Ich<br />

rate dir, so schnell wie möglich abzureisen. Wer weiß, sie suchen<br />

dich vielleicht schon.“<br />

Dieser letzte Satz schafft es nicht, das Glühen der Hoffnung zu<br />

löschen, welches das Gesicht des Kindes erleuchtet. Er<br />

antwortet unbesorgt: „Pah, sie essen jetzt gerade! Nachher,<br />

wenn sie sich daranmachen, mich zu verfolgen, bin ich schon<br />

weit weg …“<br />

18


„Und du - hast du keinen Hunger?“, fragt Pietro.<br />

Ohne die Antwort abzuwarten, sagt er weiter: „Warte einen<br />

Augenblick auf mich! Ich komme sofort wieder.“<br />

Er entfernt sich flink und zögert nicht, bald darauf<br />

zurückzukehren - mit einem Bündel schöner Trauben in der<br />

Hand.<br />

„Nimm sie, um deinen Magen ein bisschen zu füllen!“<br />

„Danke, aber … du hattest doch kein Geld …“<br />

Pietro schaut den jüngeren mit überlegenem Blick an, der keine<br />

Antwort erlaubt: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram, nicht<br />

wahr!“<br />

Mario folgt seinem Kameraden, ohne noch etwas zu sagen. Am<br />

Schalter kaufen sie die Fahrkarte nach Castellana. Nach der<br />

Bezahlung stellt das Kind sehr glücklich fest, dass ihm noch ein<br />

paar Münzen geblieben sind.<br />

Von Pietro geführt wendet er sich dem Bahnsteig zu. Ein Zug<br />

steht schon da zur Abfahrt bereit. Plötzlich bewegt schüttelt<br />

Pietro die Schultern des kleinen Jungen und sagt: „Viel Glück!<br />

Ich warte auf deinen Brief. Schreib mir sofort!“<br />

„Ja, ja!“, antwortet Mario, während sein Mund sich zu einem<br />

breiten Lächeln öffnet, und fragt: „Wenn ich in Castellana bin - ist<br />

der Weg bis zur Schweiz dann noch lang?“<br />

Der große Kerl antwortet lachend: „Aber sicher! Wenn du zu den<br />

Grotten gehst, näherst du dich der Schweiz nicht an … Aber du<br />

kannst es so besser machen: Dort wirst du Leute treffen, die dich<br />

mitnehmen können.“<br />

„Ah!“, entgegnet Mario ein wenig enttäuscht.<br />

Es bleibt keine Zeit mehr, um noch viel zu sagen. Pietro schubst<br />

ihn brüsk gegen den Wagen und sagt flüsternd: „Beeil dich und<br />

19


steig ein! Der Zug fährt gleich ab. Ich habe weiter unten beim<br />

ersten Gleis Herrn Gardali gesehen, der überall hinschaut. Er<br />

sucht dich - also versteck dich! Ich gehe auf der anderen Seite<br />

weg, um ihn nicht anzutreffen. Gute Reise, Mario!“<br />

Bewegt antwortet der Junge mit schwerer Stimme: „Auf<br />

Wiedersehen, Pietro!“<br />

Noch ein letzter und langer Blick - und er betritt das Abteil. Noch<br />

einmal dreht er sich um, aber Pietro ist schon nicht mehr da.<br />

Das Kind verdrückt sich in eine Ecke, im gleichen Augenblick<br />

fährt der Zug los.<br />

Mario schreckt auf, die Gefühle überwältigen ihn. Er ist bisher<br />

selten in einen Zug gestiegen. Seine Augen werden grösser,<br />

seine Brust schwillt an. Er seufzt tief.<br />

Die Leute im Wagen interessieren ihn nicht, sie sprechen alle<br />

ziemlich laut. Mario hört nicht zu; er denkt nur an seine Reise, an<br />

seine schöne Reise in die Schweiz.<br />

Plötzlich zieht das Fenster ihn an. Die Landschaft zieht an ihm<br />

mit beunruhigender Geschwindigkeit vorbei. Seine Augen<br />

würden gern auf einem Bild verbleiben, das er hinter dem Glas<br />

entdeckt. Aber leider geht es zu schnell … unaufhörlich verändert<br />

sich alles: Die Bäume, die Häuser und die Landschaften tanzen<br />

und folgen einander wie auf einer verrückten Bahn.<br />

Bei jedem Halt wird Mario unruhig: Muss er wohl hier<br />

aussteigen? Nein, noch nicht …<br />

Endlich hört er rufen: „Castellana!“<br />

Und schon ist er auf dem Bahnsteig und dann auf den Straßen<br />

der Stadt. Er schaut alles mit erstaunten Augen an.<br />

Hier kennt er nichts und niemanden. Das ist keine so große Stadt<br />

wie Bari. Die Straßen sind eng und die Häuser ganz weiß und<br />

mit eisernen Balkonen.<br />

20


Und die Grotten?<br />

Man muss auf das Land gehen, um sie zu entdecken, hat Pietro<br />

gesagt. Aber von welcher Seite aus?<br />

Aufs Geratewohl überquert Mario eine Straße, er folgt einem<br />

Gehsteig. Er sieht eine asphaltierte Kreuzung, die auf ihn einen<br />

guten Eindruck macht. Er schlägt diese Richtung ein, vielleicht<br />

ist sie die richtige.<br />

Er geht ein wenig weiter voran und schreckt plötzlich zurück.<br />

Gegen eine Hausmauer hin zeigt ein großes Pfeilzeichen:<br />

GROTTE sagen die groß geschriebenen Buchstaben.<br />

Der arme Junge fühlt, wie sein Herz vor Glück anschwillt. Es ist<br />

hier, gerade hier … er muss also diesen Weg nehmen. Mit<br />

leichtem Fuß marschiert er los.<br />

Aber die Schuhe kommen ihm schwer wie Blei vor. Schnell zieht<br />

er sie aus, er bindet sie zusammen und lässt sie über seine<br />

Schulter gleiten.<br />

Die Gegend unterscheidet sich ein wenig von jener, die sich rund<br />

um Bari erstreckt. Hier scheint die Erde wie ein ockerfarbener<br />

Teppich unter den Mandelbäumen. Lange Mauern mit weißen<br />

Steinen trennen die Gärten ab. Was Mario aber besonders<br />

amüsiert, sind die Häuslein, die er auf dem Land sieht, diese<br />

Hütten mit einem runden Dach wie eine spitze Kappe. Er hat von<br />

diesen „Trulli“ schon sprechen gehört - jetzt sieht er sie überall<br />

unter den Olivenbäumen und Weinranken.<br />

Trotzdem kommt er wieder zu seiner Hauptsorge zurück: Die<br />

Grotten.<br />

Moderne Gebäude, ein großer Platz, geparkte Autos und Leute,<br />

die kommen und gehen …<br />

Ich bin da, denkt Mario gerührt darüber, dass er jetzt am Ziel<br />

angekommen ist.<br />

21


Es ist viel los vor dem Eingang zu den Grotten, Mario prüft all<br />

diese unbekannten Gesichter. Und der Lärm der Stimmen dringt<br />

brutal hart in seine Ohren: Er versteht nichts, überhaupt nichts!<br />

Ein Durcheinander von Tönen …<br />

Was sagen wohl diese Leute?<br />

Wie sehr unterscheiden sie sich vom Volk, das er auf den<br />

Straßen seines alten Bezirks in Bari trifft!<br />

Ein Schauer durchschüttelt ihn, es krümmt ihn fast.<br />

Eingeschüchtert und wie gelähmt weiß er nicht mehr, was er jetzt<br />

tun soll …<br />

Welche Idee hat Pietro gehabt, um ihm ein solches Abenteuer<br />

anzuraten?<br />

Trotzdem wird er nicht hierbleiben, ohne sich zu bewegen …<br />

Wird er wohl Personen finden, die Italienisch sprechen?<br />

Natürlich versteht es sich, dass die Fremden sich in einer<br />

Fremdsprache ausdrücken!<br />

Er ist genau deshalb hierhergekommen, um Touristen zu treffen,<br />

die ihn bis über die Grenze bringen. Also dann … Mario<br />

akzeptiert philosophisch diese Lage und sagt sich, dass er nichts<br />

Besseres wünschen könnte.<br />

Trotzdem seufzt er - es wäre angenehmer, verstehen zu können,<br />

was man hier so alles sagt!<br />

Langsam geht er mitten in die Menge hinein. Das gelingt ihm<br />

unbemerkt, niemand kümmert sich um ihn. Er geht zum Autopark<br />

und wartet …<br />

Er wartet lange und geduldig, die Augen wie in einer Welle. Wird<br />

er es wohl wagen, sich jemandem zu nähern? Und wie soll er<br />

seine Bitte ausdrücken?<br />

Angst ergreift Marios Herz. Er hat Hunger, er hat Durst und die<br />

22


Sonne brennt.<br />

Da er vom langen Bleiben auf dem Platz ermüdet ist und nicht<br />

weiß, was er tun soll, spaziert er ein wenig herum.<br />

23


Verloren<br />

Mit bleichem Gesicht und gebrochenem Herzen geht Mario<br />

langsam auf dem Weg.<br />

Und plötzlich wird es ihm trotz der Hitze kalt: Dort vorn, ganz in<br />

seiner Nähe, bemerkt er eine Mauer - und direkt hinter der Mauer<br />

sieht er ein klaffendes schwarzes Riesenloch wie einen großen<br />

geöffneten Mund in der Erde. Die Grotten! Leute lehnen sich auf<br />

die Brücke, Mario nähert sich ihnen …<br />

Fasziniert taucht das Kind seinen Blick ins Tiefste dieses<br />

Schlunds, von dem der Grund kaum unterschieden werden kann.<br />

Er hat noch nie etwas Ähnliches gesehen. Die Emotion, die ihn<br />

ergreift, berauscht ihn; die dunkle Kluft zieht ihn an.<br />

Oh! Er will dorthin gehen … er will diese unterirdischen Wege<br />

erforschen. So viele Leute besuchen sie, viele unter ihnen<br />

kommen von sehr weit weg … warum soll er, das Kind aus Bari,<br />

sie nicht sehen?<br />

Muss man wohl bezahlen, um einzutreten? Mario lässt eine Hand<br />

in die Hosentasche gleiten. Es bleibt ihm noch ein wenig Geld,<br />

das wird genügen.<br />

Er hat beobachtet, dass alle sich zu einer modernen Konstruktion<br />

hinbewegen. Er folgt ihnen; um in diese geheimnisvolle Höhle<br />

einzutreten, muss man dort durch, hat er bereits erraten.<br />

Mitten in der Menge, welche die Treppe hinuntersteigt, schreckt<br />

er vor lauter Glück fast zurück. Wenn nur Leo ihn so sähe! Er<br />

wird ihm davon erzählen … und er wird auf seinen Erfolg stolz<br />

sein.<br />

Ein Angestellter gibt ihm seine Eintrittskarte, nachdem er ihm<br />

einen Teil seines Geldes zurückerstattet hat. Der Rest - ein paar<br />

Münzen - nimmt wieder den Weg in seine Tasche.<br />

24


Er gleitet inmitten der Leute durch, man nimmt ihn kaum wahr.<br />

Jeder folgt dem Touristenführer. Und während er vorwärtsgeht,<br />

bemerkt Mario, dass er beim Grund der Kluft ankommt, den er<br />

von oben gesehen hat, als er sich über die Mauer lehnte.<br />

Jetzt hebt er seinen Kopf und er nimmt eine kleine Münze von<br />

blauem Himmel wahr. Erstaunt und zugleich verärgert schaut er<br />

überallhin und verweilt so lange.<br />

Plötzlich sieht er sich allein, ganz allein! Wohin sind wohl die<br />

anderen gegangen?<br />

Man hört Stimmen … Mario lässt sich vom Lärm führen. Er<br />

schlägt einen beleuchteten Gang ein, der Weg nimmt eine Kurve<br />

… und das Kind findet wieder die ganze Touristentruppe. Er<br />

seufzt! Er hat schon geglaubt, hier verloren zu gehen.<br />

Die Leute haben angehalten, sie hören den Erklärungen des<br />

Touristenführers zu - zum Glück spricht dieser Italienisch! Doch<br />

Mario kann nicht zwei Dinge auf einmal tun: Alles anschauen und<br />

auch noch zuhören! … er sieht hier so viele schöne Dinge!<br />

Er hat bisher nicht gewusst, dass es unter der Erde so herrliche<br />

und so außergewöhnliche Landschaften gibt. All dies gleicht<br />

einem Märchen.<br />

Diese funkelnden Kristalle, die in so hübschen Zeichnungen<br />

eingebettet sind … warum sind sie hier versteckt? Dieser Glanz<br />

und dieser Reichtum, die niemandem nützen, scheinen ihm<br />

seltsam und unverständlich.<br />

Auf dem Land oben bieten nicht einmal die schönsten Paläste<br />

eine so üppige Architektur an …<br />

Mario vergisst, was um ihn herum geschieht; er kann seine<br />

Augen einfach nicht von so vielen Wundern lösen. Er lebt nicht<br />

mehr bewusst … er glaubt, er träumt! …<br />

Er macht ein paar Schritte; er hat den Eindruck, er wacht auf …<br />

25


Er schaut auf den Weg und sieht niemanden vor sich! Schnell<br />

rennt er, um sich der Truppe wieder anzuschließen. Er wählt<br />

einen Gang … nein, er trifft von dieser Seite aus niemanden.<br />

Mario gerät in Panik; er kehrt zurück und schlägt einen anderen<br />

Weg ein.<br />

Er hält einen Augenblick an und horcht; man hört Stimmen. Sie<br />

scheinen weit zu sein und ersticken immer mehr …<br />

Das Kind beginnt zu zittern, es wird vom Schrecken überwältigt.<br />

Er will nicht hier im Untergrund bleiben, so schön er auch ist.<br />

Nein! Er würde hier an Hunger sterben …<br />

Er rennt auf dem Weg, der von den Projektoren beleuchtet wird,<br />

deren Lichtstrahlen die Edelsteine so erstrahlen lassen.<br />

Mario nimmt den Lärm der Stimmen nicht mehr wahr; er bleibt<br />

versteinert und wagt es nicht mehr, sich zu bewegen …<br />

Von welcher Seite aus soll er weitergehen? Wo sind die<br />

Touristen durchgegangen?<br />

Der Wunsch, von hier herauszukommen, bedrückt ihn, obwohl er<br />

vorankommt. Auf dem Weg hält ihn eine enorm große Grotte mit<br />

einer sehr hohen Decke an, sie überwältigt ihn. Einen Augenblick<br />

lang verbleibt er staunend hier, dann setzt er seinen Weg<br />

verängstigt fort.<br />

Jetzt kommen ein neuer Gang und eine neue Grotte, die noch<br />

schöner ist, aber die Einsamkeit ist immer noch da. Niemand,<br />

niemand …<br />

Mario stöhnt; er ruft „Mamma!“ - und der Ton seiner Stimme<br />

macht ihm Angst. Er sieht nicht mehr den Glanz, der ihn umgibt.<br />

Nichts mehr zieht ihn noch an, nichts als nur der intensive<br />

Wunsch nach Freiheit: Die Sonne wieder sehen, die reine Luft zu<br />

spüren …<br />

Er rennt von einem Raum zum anderen - und plötzlich schreckt<br />

26


sein Herz zurück: Dort oben, ganz dort oben, sieht er eine Münze<br />

von blauem Himmel!<br />

Er erkennt wieder die erste große Grotte, wo er<br />

hinuntergestiegen ist.<br />

Er atmet tief; eine gewaltige Erleichterung lässt seine Brust<br />

anschwellen. Er macht sich daran, die Treppe hinaufzusteigen<br />

…<br />

Im gleichen Augenblick öffnet sich auf der Plattform die Tür: Es<br />

erscheint ein Touristenführer, dem eine Gruppe von Touristen<br />

folgt. Sie steigen langsam die Treppe hinunter.<br />

Mit einer brüsken Bewegung drückt sich Mario an die Wand; er<br />

gleitet seitlich weg und versteckt sich im Schatten. Er hat Angst<br />

… er hat Angst davor, dass man ihn beschimpft, dass man ihn<br />

ohrfeigt und dass man sich über seine Anwesenheit wundert, hier<br />

ganz allein …<br />

Er bleibt im Spalt außerhalb der Lichtspiele der Projektoren, bis<br />

alle vorbeigegangen sind.<br />

Der Touristenführer spricht wieder und Mario nützt das aus, um<br />

sich vorsichtig anzunähern. Er mischt sich unter die Fremden,<br />

die ihrem Sprecher folgen.<br />

Diesmal wird er nicht träumen und nicht zurückbleiben … er wirft<br />

einen zerstreuten Blick auf die Wunder, die ihn umgeben. Seine<br />

Sorge bleibt: Die Freiheit wieder zu erlangen!<br />

Er drängt die Leute ein wenig weg, um sich an die Spitze der<br />

Truppe zu setzen, die den Untergrundweg durchquert. Er<br />

erkennt mehrere Räume wieder, in die er schon gekommen ist,<br />

und andere hat er noch nie gesehen.<br />

Endlich halten alle vor einer großen Tür, die sich öffnet und<br />

Zugang zu einem geräumigen Aufzug anbietet.<br />

Mario schaut erstaunt: Wohin wird man ihn wohl führen?<br />

27


Er tritt so vertrauensvoll wie all diese seltsamen Fremden ein.<br />

Die Tür schließt sich wieder. Mario beginnt zu glauben, man<br />

habe ihn in einen Käfig gesperrt. Er hat keine Zeit, um lange<br />

daran zu denken; ein leichtes Rütteln - und die Metalltür öffnet<br />

sich wieder.<br />

Verwirrt und mit einem Gesicht, das von einem großen Lächeln<br />

bestrahlt wird, sieht Mario den Himmel und die Wiesen … er setzt<br />

seine Füße auf die graue Erde, er riecht die Luft … was für ein<br />

Gefühl!<br />

Was für eine Freude, die großen Räume und die Klarheit der<br />

Sonne wieder zu sehen!<br />

Von der Masse gedrängt kommt Mario voran und er findet sich<br />

auf einem großen Platz wieder. Er bleibt dort einen Moment und<br />

beobachtet das Kommen und Gehen. Und dann scheint es ihm,<br />

dass der Tag fällt.<br />

Wie spät ist es wohl? Mario hat keine Uhr.<br />

Jetzt nimmt das lebhafte Treiben rund um die Grotten ab. Die<br />

Autos fahren weg, eines nach dem anderen.<br />

Zögernd nähert sich das Kind einem großen schwarzen Wagen;<br />

er schaut die Leute an, die in den glänzenden Schlitten steigen.<br />

Ob sie wohl Schweizer sind? Sie reden eine Sprache, die er nicht<br />

versteht …<br />

Wie soll er ihnen erklären, was er sich wünscht?<br />

Er geht noch näher heran, er berührt das Auto mit seinem Finger.<br />

Er setzt vor einem kleinen Herrn mit Brille, der sich so bewegt,<br />

als wollte er die Tür öffnen, das Gesicht eines Bettlers auf.<br />

Der Mann dreht seinen Kopf für einen Augenblick zu ihm, aber<br />

mit gleichgültigen Augen. Der Junge scheint ihn überhaupt nicht<br />

zu interessieren. Er setzt sich ans Steuerrad und das Auto fährt<br />

schnell weg. Mario hat gerade noch Zeit, um zur Seite zu<br />

28


springen und von den Flügeln des Wagens nicht abgegrast zu<br />

werden.<br />

Er sieht die Maschine wegfahren … sein Herz erhebt sich vor<br />

Trauer. Er ist müde, er hat Hunger.<br />

Als er in seiner Tasche wühlt, berührt er die paar Münzen, die<br />

ihm noch geblieben sind. Langsam und ohne lange zu überlegen,<br />

was er tun soll, begibt er sich zur großen asphaltierten Route, die<br />

ihn zu den Straßen von Castellana führt.<br />

Während er auf den Bürgersteigen geht, bemerkt er einen Laden;<br />

er tritt ein.<br />

Er kauft zwei Scheiben Brot, die Fleisch enthalten. Jetzt ist seine<br />

Tasche leer, seine letzten paar Münzen sind von seinen Händen<br />

in die des Verkäufers übergegangen. Trotzdem verlässt er den<br />

Laden zufrieden und ist ungeduldig, in die dicken Brotscheiben<br />

zu beißen. Was für eine Freude, essen zu können, wenn man<br />

fühlt, dass man am Verhungern ist!<br />

Plötzlich ist es Nacht; die Leute sind bald nur noch Schatten, die<br />

sich bewegen. Mario entfernt sich von den Straßen und vom<br />

lebhaften Treiben.<br />

Er geht auf der langen Route weg, die zum Land hinführt. Sie<br />

wird von einer Mauer mit trockenen Steinen umrahmt. Der Junge<br />

klettert hinauf und bleibt einen Moment lang sitzen.<br />

Er schaut überall hin. Wohin soll er gehen?<br />

Dort unten, auf der anderen Seite des Weges, bemerkt er ein<br />

sehr kleines Haus mit einem dunklen Flecken - ein Trullo, eine<br />

dieser Hütten in Pilzform!<br />

Mit einem Sprung steigt Mario von der Mauer hinunter und<br />

überquert die Straße; dieses geheimnisvolle Häuschen zieht ihn<br />

an. Es versteckt sich in einem Olivengarten.<br />

Das Kind nähert sich langsam; es hat an dieser Liliputaner-<br />

29


Konstruktion kein einziges Fenster, nur eine klaffende Tür wie<br />

ein schwarzes Loch.<br />

Mario hört genau hin: Hat es hier drinnen wohl Leute?<br />

Es bleibt still und es hat kein Licht …<br />

Der Junge versteht, dass er vor diesem einladenden Häuschen<br />

allein ist. Das Abenteuer gefällt ihm - er wird hier schlafen, in<br />

diesem so hübschen Puppenhaus, das einer Behausung in<br />

einem Märchen gleicht.<br />

Er tastet sich heran und betritt das Trullo. Zuerst sieht er nichts<br />

als Dunkelheit, trotzdem öffnen sich seine Augen ganz groß …<br />

Unentschlossen wartet er.<br />

Nach und nach wird das Schwarze weniger intensiv - und<br />

plötzlich staunt er darüber, dass er alle Umrisse des kleinen<br />

Hauses unterscheiden kann. Im Inneren hat es nicht viel:<br />

Mehrere Zementblöcke und in der Mauer Nischen, die<br />

Steinbänken gleichen.<br />

Mario jubelt: Er hat sein Bett gefunden!<br />

Ohne Zögern streckt er sich auf einer Bank aus und legt einen<br />

Arm unter seinen Kopf als Kissen.<br />

Erschöpft schläft er sofort ein.<br />

30


Auf dem Weg nach Rom<br />

Als Mario am nächsten Morgen aufwacht, durchdringt die<br />

Klarheit bereits das Häuschen. Man hört Lärm auf der Straße:<br />

Ein Karren knarrt, ein Bus fährt vorbei und hupt laut.<br />

Der Junge schreckt auf, diesmal träumt er nicht. Er streckt sich<br />

unterkühlt und versteift von der Kälte.<br />

Er springt von seinem Glücksbett auf und riskiert einen Blick<br />

nach draußen. Die Sonne scheint so wie immer. Mario beeilt<br />

sich, um sein kleines Gehäuse zu verlassen und sich zu wärmen.<br />

Ganz in der Nähe sieht er Weinranken auf einem Grundstück,<br />

das von einer Mauer aus weißen Steinen umgeben ist; herrliche<br />

Trauben gedeihen dort. Der Junge zögert nicht: In diesem<br />

Moment befindet sich niemand auf dem Weg.<br />

Er weiß nicht, dass oben im blauen Himmel jemand all seine<br />

Taten verfolgt und all seine Schritte bemerkt … jemand, den er<br />

nicht kennt, obwohl er groß und mächtig ist. Aber neugierig<br />

gemacht weiß dieser Jemand sehr wohl, wer Mario ist. Er sieht,<br />

wie er auf die Mauer steigt, auf die andere Seite springt und eine<br />

schöne Traube ergreift, und dann noch eine und mehrere andere<br />

… bis das Kind fühlt, dass sein Magen ordentlich gefüllt ist, und<br />

befriedigt und satt weggeht.<br />

Zufrieden flüstert Mario, während er nach allen Seiten schaut:<br />

„Niemand hat mich gesehen.“<br />

Er irrt sich: Gott hat ihn beobachtet. Er weiß, dass Mario ein Dieb<br />

ist, aber er weiß auch, dass das Kind arm, unglücklich und allein<br />

ist …<br />

Plötzlich bekommt der Junge eine Gänsehaut: Ganz nahe hält<br />

ein Auto auf der asphaltierten Straße. Das Trullo hat ihn zuvor<br />

vor seinen Augen verborgen.<br />

31


Mit unruhigem Gesicht hält Mario inne; er wagt es nicht, weiter<br />

zu gehen. Diese Leute haben ihn vielleicht im Garten gesehen<br />

…<br />

Ein junges Mädchen, ein Herr und eine Dame haben angehalten;<br />

sie schauen ihn an. Mario senkt die Augen und bewegt sich nicht<br />

mehr.<br />

Und was für eine Überraschung … man spricht mit ihm<br />

Italienisch!<br />

„Komm vor das Häuschen!“, ruft das Mädchen ihm mit einem<br />

starken fremdländischen Akzent zu, „ich will dich fotografieren!“<br />

Das Kind hebt vorsichtig den Kopf; drei Gesichter bieten ihm ein<br />

Willkommenslächeln an. Marios Herz beginnt, stärker zu<br />

schlagen. Die dunklen Augen ändern die Farbe, sie fangen wie<br />

die Sterne zu funkeln an.<br />

Ermutigt nähert sich Mario dem Eingang des Trullos.<br />

„Dort, sehr gut!“, sagt darauf der Mann, „das gibt eine perfekte<br />

Aufnahme!“<br />

Klick! Das junge Fräulein macht das Foto ... sie ist zufrieden,<br />

doch ihr Vater meint: „Ich denke, es wäre klug, noch eine zu<br />

machen. Gib mir den Apparat, Lilian, und stell dich neben den<br />

kleinen Italiener! Das wird eine hübsche Erinnerung an den<br />

Süden für den Fotoalbum.“<br />

„Gute Idee!“, ruft das Mädchen, während es kommt und sich<br />

direkt neben Mario aufstellt.<br />

Ihr Lächeln vertreibt die Schüchternheit, welche die Glieder des<br />

Jungen versteifen ließ.<br />

Ein neuer Klick, eine neue Fotografie. Lilian eilt zu ihrem Vater,<br />

nimmt wieder den Apparat und lässt den Gürtel über ihren Hals<br />

gleiten.<br />

Jetzt steigt Frau Grangier, Lilians Mutter, aus dem Auto. Sie geht<br />

32


auf Mario zu, legt beide Hände auf die Schultern des Kindes und<br />

fragt: „Wie heißt du?“<br />

„Mario.“<br />

„Mario“, wiederholt das Mädchen, „ich liebe diesen Namen.“<br />

Die Augen des Jungen strahlen wie die Sonne.<br />

„Hör zu, Mario!“, sagt dann Herr Grangier, „wenn wir in die<br />

Schweiz zurückgekehrt sind, senden wir dir Kopien von diesen<br />

zwei Fotos … falls sie gut geraten sind. Das wird deine<br />

Belohnung dafür, dass du für uns posiert hast. Gib mir deine<br />

Adresse! Ich werde sie aufschreiben.“<br />

Mario sagt nichts … er schaut nach unten …<br />

Kommt es darauf an, wo er wohnt?<br />

Diese Leute gehen in die Schweiz - das ist es, was ihn<br />

interessiert!<br />

Sein Schweigen erstaunt alle, so drängt ihn Lilian mit Fragen:<br />

„Wohnst du in Castellana - und an welcher Straße?“<br />

Mario macht ein negatives Zeichen, er senkt den Kopf.<br />

Schließlich sagt er, während er die Lippen kaum bewegt: „Ich will<br />

in die Schweiz gehen …“<br />

Ein allgemeines Gelächter verletzt sein Herz.<br />

„Was würdest du denn ganz allein in der Schweiz machen?“,<br />

fragt Lilians Vater und sagt dann noch: „Du würdest dich<br />

langweilen, ohne deine Mutter.“<br />

„Es ist eine lange Reise!“, fügt Frau Grangier hinzu, „was für eine<br />

schöne Landschaft ist hier! Du lebst in einem herrlichen Land.<br />

Bei uns scheint die Sonne nicht mit so viel Wärme.“<br />

Diese tröstenden und wohlwollenden Worte erzielen aber nicht<br />

die erwartete Wirkung.<br />

33


Niedergedrückt wiederholt Mario: „Ich will in die Schweiz gehen<br />

… ich will diese lange Reise machen. Mamma und Leo wohnen<br />

dort … und ich bleibe ganz allein.“<br />

Frau Grangier beobachtet das Kind etwas genauer. Ein Gefühl<br />

tiefen Mitleids ergreift sie - und sie fragt: „Du bist allein?“<br />

„Ja“, antwortet Mario, „ich habe im Trullo geschlafen … ich habe<br />

Bari gestern verlassen … ich bin hierhergekommen, um<br />

Schweizer zu suchen, die mich im Auto mitnehmen …“<br />

Der Junge fühlt, wie sich seine Zunge löst.<br />

„Komm und setz dich einen Moment in den Wagen!“, sagt darauf<br />

Herr Grangier, „du wirst uns deine Geschichte erzählen, sie<br />

interessiert mich.“<br />

Seine Geschichte? Kann sie für diesen gutgekleideten Herrn mit<br />

feinen und liebenswürdigen Manieren und für diese Dame mit<br />

sanfter Stimme irgendwelche Bedeutung haben?<br />

Mario empfindet plötzlich einen Eindruck, den er bisher noch nie<br />

gefühlt hat.<br />

Gestern sah er die Grotten, ein Wunder - und heute scheint es<br />

ihm, er betrete von neuem eine unwirkliche und mit Schönheit<br />

geschmückte Welt. Das Vertrauen wächst langsam in seinem<br />

Herzen.<br />

Als er dann auf den bequemen Bänken des Autos sitzt, redet<br />

Mario. Er erzählt seine Abenteuer … er sagt, warum er sich nicht<br />

in der Schweiz mit seiner Familie befindet. Er schließt damit,<br />

dass er den Wunsch ausdrückt, der ihn bis nach Castellana<br />

geführt hat.<br />

Sein erbärmlicher Gesichtsausdruck bewegt seine Zuhörer.<br />

„Und weißt du die Adresse deiner Eltern?“, fragt jetzt Frau<br />

Grangier.<br />

„Nein“, antwortet Mario traurig.<br />

34


„Die Schwierigkeit scheint mir nicht groß zu sein“, bemerkt darauf<br />

Herr Grangier, „wenn diese Leute einmal auf helvetischem<br />

Boden waren, mussten sie zum Fremdenbüro der Stadt gehen,<br />

wo sie eingezogen sind. Man hat dort ihre Namen und ihre<br />

Adresse notiert, nach ein paar Recherchen würden wir sie<br />

finden.“<br />

„Also dann - ich will mit euch reisen!“, ruft Mario siegessicher.<br />

„Oh!“, ruft jetzt auch Lilian, „die ganze Reise mit uns?“<br />

Der Ton ihrer Stimme zeigt das Gegenteil an.<br />

Das Kind hebt mit bittenden Augen eines Bettlers den Kopf. Herr<br />

und Frau Grangier verständigen sich mit Blicken.<br />

„Unvernünftig!“, scheint der Ausdruck von Lilians Vater zu sagen.<br />

Frau Grangier befürchtet, den armen Kleinen zu enttäuschen.<br />

Dieses hoffnungsvolle Glühen, das auf dem bleichen Gesicht<br />

leuchtet, findet sie zu hart, um es auszulöschen.<br />

So sagt sie sanft und zögernd: „Wir kehren nicht sofort in die<br />

Schweiz zurück, wir sind in den Ferien. Vielleicht könnten wir<br />

dich ein Stück des Weges mitnehmen …“<br />

Ihr Mann unterbricht sie, diese Lösung scheint ihm sehr gut zu<br />

sein. Er spürt sichtbar eine Erleichterung, als er sagt: „Aber<br />

sicher - wir machen das: Wir nehmen ihn mit uns bis nach Rom.<br />

Dort haben wir italienische Freunde, die sich um dich kümmern<br />

und sicher etwas finden werden, damit du auf deinem Weg<br />

weitergehen kannst.“<br />

„Nach Rom - Sie fahren nach Rom?“, fragt Mario, dessen Augen<br />

jetzt grösser werden.<br />

„Aber ja“, antwortet das Mädchen, das von den Körperspielen<br />

des Kindes amüsiert wird, „ein kleines Stück Weg in Richtung<br />

Schweiz.“<br />

„In Rom wohnt meine Tante …“<br />

35


„Deine Tante?“, wiederholt Herr Grangier.<br />

„Ja, meine Tante Lucia.“<br />

„Kennst du ihre Adresse? Wir könnten dich bis zu ihr bringen“,<br />

schlägt Frau Grangier vor, die über diese Lösung glücklich ist.<br />

Sie fühlt sich von einer Last erleichtert: Das Kind wird in die<br />

Hände einer Verwandten übergeben. Es ist unmöglich, es auf<br />

dem Weg allein und schutzlos zurückzulassen.<br />

„Wir werden dich zu deiner Tante bringen“, sagt dann Herr<br />

Grangier und fragt: „Weißt du ihre Adresse?“<br />

Mario schüttelt den Kopf als bejahendes Zeichen, kein Ton<br />

kommt aus seinem Mund. Er schaut auf die Obstgärten und auf<br />

die Landschaft. Was verbergen wohl diese Augen mit dem<br />

geheimnisvollen Ausdruck?<br />

„Also, bist du einverstanden?“, fragt Herr Grangier, während er<br />

dem Kind zulächelt, und sagt weiter: „wir nehmen dich mit. Heute<br />

Abend werden wir in der Nähe von Neapel übernachten und<br />

morgen sind wir in Rom. Bist du zufrieden? Liebst du es, im Auto<br />

zu reisen?“<br />

„Ja“, flüstert Mario, dessen Herz vor lauter Emotionen hüpft.<br />

Dieses Ereignis ist zu viel für ihn - er hat keine Stimme mehr.<br />

Und die Reise beginnt durch das Land auf den langen, sehr<br />

langen Straßen Italiens.<br />

36


Allein auf den Straßen von Rom<br />

Sie sind in der Nähe von Neapel angekommen und haben die<br />

Nacht in einem großen Haus verbracht. Nach einer guten<br />

Mahlzeit hat man Mario in einen geräumigen Schlafsaal<br />

gebracht. Er hat in einem Bett neben anderen Jungen in seinem<br />

Alter geschlafen. Dabei hat er auch noch jüngere, aber auch<br />

ältere gesehen …<br />

Das Kind hat verstanden, dass man ihn in ein Waisenhaus<br />

gebracht hat, zu Freunden von Herrn und Frau Grangier.<br />

Am Abend, vor dem Einschlafen, haben die Jungen noch schöne<br />

Melodien gesungen. Alle sind Mario zufrieden und glücklich<br />

vorgekommen.<br />

Er ist sich elend vorgekommen, weil er nie zuvor in einer<br />

ähnlichen Atmosphäre gelebt hat. Der Essraum, wo er sich vor<br />

einem vollen Teller hingesetzt hat, war für ihn so schön<br />

anzusehen.<br />

Als er in seinem Bett einschlief und seine Gedanken sich mit<br />

seinen Träumen vermischten, sah er noch einmal die alte<br />

Behausung von Bari, das weiß getünchte Zimmer, seinen bösen<br />

Vater mit einem Blick aus Stahl und mit einer groben Stimme.<br />

Am nächsten Morgen, vor der Weiterfahrt, hat eine freundliche<br />

Dame zu ihm gesagt: „Nimm dieses kleine Buch! Du wirst es<br />

lesen - nicht wahr? Es enthält schöne Geschichten.“<br />

Gerührt darüber, dass er ein Geschenk bekam, hat Mario ein<br />

breites Lächeln gezeigt und mit einem kurzen „Ja“ geantwortet.<br />

Er hat die Hand ausgestreckt, er hat einen Augenblick lang das<br />

Geschenk angeschaut. Er hat es in die Tasche seiner Hosen<br />

gleiten lassen. Auf dem Deckel hat er den Titel „Neues<br />

Testament“ gelesen.<br />

37


Jetzt fährt das Auto wieder, man kommt bald am Ziel an. Mario<br />

streichelt manchmal das kleine Buch in seiner Tasche. Er hat<br />

sich entschieden, es mit Leo zu lesen, wenn er in der Schweiz<br />

ist.<br />

Während der ganzen Fahrt hat man mit ihm voller Güte<br />

gesprochen; man beunruhigte sich und wollte wissen, ob er<br />

Hunger hatte und ob er müde war.<br />

„In Rom kommst du mit uns die Basilika von San Pietro schauen“,<br />

hat Herr Grangier gesagt, „und nachher gehen wir zu deiner<br />

Tante.“<br />

Er hat Rom nie zuvor gesehen … ist es für Mario, den kleinen<br />

Süditaliener, nicht die schönste Stadt, die er besuchen kann?<br />

Sie nähern sich den Vororten der Stadt; die Straßen und Alleen<br />

folgen einander. Alles ist hier schön aufgesetzt und alles scheint<br />

groß zu sein.<br />

„Mario“, sagt Lilians Mutter, „wir kaufen zuerst für dich ein<br />

hübsches Hemd. Wir müssen dieses ersetzen, es scheint so<br />

schmutzig und verblasst.“<br />

Das Kind schaut sein Kleid an, sein Gesicht errötet.<br />

Wie um ihn zu entschuldigen, fügt Frau Grangier hinzu: „Du<br />

verstehst, um die Basilika zu betreten und dich deiner Tante zu<br />

zeigen, musst du besser aussehen. Dieses Hemd hast du<br />

beschmutzt, als du im Trullo geschlafen hast.“<br />

Mario bestätigt lachend: „Ja, ich habe es im Trullo beschmutzt.“<br />

Und während er durch das Autofenster die Straßen überprüft,<br />

denkt er daran, dass sein Hemd bereits ganz schwarz war, als er<br />

von Frau Gardalis Haus floh.<br />

Sie treten in einen großen Laden ein und machen Einkäufe. Auf<br />

der Stelle wird Mario verwandelt; sehr stolz auf sich selbst<br />

bewundert er sich im Spiegel.<br />

38


Lilian ruft: „Du bist sehr hübsch!“<br />

Die Augen des Kindes leuchten. Er soll hübsch sein? Das hat er<br />

bisher nicht gewusst.<br />

Sie spazieren auf den Straßen, das Auto haben sie auf einem<br />

Parkplatz zurückgelassen. Mario beobachtet alles; er ist bereit,<br />

bei allem ein wenig zurückzubleiben.<br />

Frau Grangier verliert ihn nicht aus den Augen; sie wirft auf ihn<br />

einen liebevollen Blick, der ihn vor lauter Zufriedenheit<br />

zurückschrecken lässt.<br />

„Wir müssen uns beeilen“, bemerkt Herr Grangier, „vielleicht<br />

wohnt die Tante von Mario in einem weit entfernten Bezirk, die<br />

Distanzen sind hier groß. Wir sind nicht in der Schweiz! Sagst du<br />

mir den Namen der Straße, Mario?“<br />

Das Kind zögert: „Via… Via … ich weiß es nicht mehr.“<br />

Darauf sagt Lilian lachend: „Straße ‚Ich weiß es nicht mehr‘. Da<br />

haben wir einen neuen Namen. Dieser ist zwar lustig, doch er<br />

führt uns nicht zur richtigen Adresse.“<br />

„Via Arrighi“, sagt Mario schließlich.<br />

Dieser Name gefällt ihm - er hat ihn in der Schule in einer Übung<br />

seines Grammatikbuches gelesen. Er findet es sehr einfach, das<br />

Problem so zu lösen!<br />

„Also dann, nach unserem Besuch in der St. Peterkirche werden<br />

wir uns informieren gehen, wo sich diese Via Arrighi befindet“,<br />

sagt dann Herr Grangier, „in einem Auskunftsbüro wird man uns<br />

das mitteilen.“<br />

Während sie plaudern, kommen sie auf dem Platz vor der<br />

Basilika an; sie bewundern die Architektur und die vielen Säulen.<br />

Sie betreten die Kirche zusammen. Mario hält seinen Atem an -<br />

so sehr fürchtet er sich davor, Lärm zu machen.<br />

39


Man hat ihm erklärt, er würde das Haus Gottes betreten. Das<br />

fasziniert ihn … er öffnet die Augen, weil er Gott nicht kennt. Die<br />

einzige Erinnerung, die er von der Göttlichkeit hat, ist die Form<br />

eines kleinen Holzkreuzes, das an der weißgrauen Wand des<br />

armen Zimmers von Bari hängt.<br />

Und plötzlich fühlt Mario sein Herz heftig schlagen. Was für ein<br />

Glanz! Was für eine Schönheit! Seine Augen schaffen es nicht,<br />

alles genügend zu betrachten …<br />

Was für Reichtümer! Was für Wunder!<br />

Gibt es noch etwas Schöneres auf der Welt?<br />

Nein, er glaubt es nicht … das ist nicht möglich.<br />

Inmitten von schönen Farben hat es herrliche Bilder.<br />

Oh! Dieser Gott, der hier in diesem Palast wohnt - wie groß,<br />

berühmt und reich muss er sein!<br />

Während das Auto auf dem Weg fuhr, hat Frau Grangier Mario<br />

gesagt, dass Gott ihn liebt und sich um ihn kümmert.<br />

Ist das möglich? Ist das wahr?<br />

Er, der arme Mario und alle armen bis sehr armen Leute … nein,<br />

Gott liebt sie nicht und kümmert sich nicht um sie.<br />

Das Kind ist verärgert, die Trauer überwältigt ihn völlig. Sie<br />

verwandelt sich in tiefe Bitterkeit - und trotzdem dürstet es ihn<br />

nach Trost …<br />

Wo wird er einen Gott finden, der nicht so reich und nicht so groß<br />

ist und der ihn verstehen kann?<br />

Völlig durcheinander im Geist achtet Mario auf niemanden mehr.<br />

Er sieht jedoch, dass Herr und Frau Grangier gefolgt von Lilian<br />

sich ein wenig entfernen. Dann halten sie alle drei an, um ein<br />

Meisterwerk zu betrachten.<br />

Eine plötzliche Idee macht sich im Geist des Kindes breit: Er<br />

40


geht in eine andere Richtung und versteckt sich dann hinter einer<br />

Säule …<br />

Frau Grangier dreht sich um, sie schaut überallhin. Man sucht<br />

ihn, das ist offensichtlich.<br />

Er denkt nicht an die Unruhe und an den Kummer, den er jetzt<br />

bewirkt. Sein Durst nach Freiheit trägt ihn weg!<br />

Übrigens, diese Via Arrighi … das war nur eine Erfindung von<br />

ihm! Er erinnert sich nicht mehr an die Adresse der Schwester<br />

seiner Mutter.<br />

Wie sollte er denn wieder davon sprechen?<br />

Andererseits drängt es ihn kaum danach, zu seiner Tante Lucia<br />

zu gehen - würde sie ihn überhaupt in die Schweiz reisen lassen?<br />

Er zieht es vor, sein Abenteuer fortzusetzen und andere<br />

Touristen zu finden, die ihn weiter mitnehmen.<br />

Und er entscheidet sich ganz einfach dafür, diese Leute zu<br />

verlassen, ohne sich von ihnen zu verabschieden …<br />

„Schade!“, seufzt er, „ich werde nie die hübschen Fotografien<br />

sehen, die beim Trullo gemacht worden sind.“<br />

Er hebt seine Schultern und sagt vor sich hin: „Umso schlimmer!“<br />

Dann begibt er sich geräuschlos in eine kleine Kapelle und von<br />

dort aus gelingt es ihm, in seinem Halbschatten die Basilika zu<br />

verlassen, ohne bemerkt zu werden.<br />

Kaum ist er draußen, geht er mit voller Geschwindigkeit durch<br />

den ganzen Platz, und sobald er kann, überquert er eine Straße,<br />

dann noch eine und noch eine …<br />

Atemlos hält er endlich an.<br />

Ein Gefühl der Sicherheit überwältigt ihn; es ist unmöglich, dass<br />

man ihn findet. Er schaut vor sich hin: Wohin wird er gehen?<br />

Er taucht seine Hände in die Taschen: Eine ist leer, die andere<br />

41


enthält das kleine Buch … er steht wieder allein und ohne Geld<br />

da!<br />

Warum hat er sich auf so dumme Weise davongemacht?<br />

Er spaziert ziellos vor sich hin - und trotzdem ist er über seine<br />

Freiheit glücklich. Er hält vor den Schaufenstern der Läden an.<br />

Der Verkehr interessiert ihn. Auf die Dauer überwältigt ihn jedoch<br />

die Müdigkeit …<br />

Der Tag neigt sich dem Ende zu, ein Nervenkitzel läuft ihm über<br />

den Rücken. Die Einsamkeit hat ihm auf dem Land bei<br />

Castellana keine Angst gemacht, aber das lebhafte Treiben, das<br />

er in dieser Großstadt zum ersten Mal sieht, erschreckt ihn.<br />

Wenn er sich jetzt plötzlich an die Adresse von Tante Lucia<br />

erinnern würde, würde er diesmal nicht zögern - er würde zu ihr<br />

hingehen.<br />

Ob Herr Grangier ihn wohl noch sucht?<br />

Er denkt wieder ans Lächeln und an die sanfte Stimme von<br />

Lilians Mutter …<br />

Jetzt hat er Hunger …<br />

Mario marschiert lange; bei jeder Kreuzung liest er auf den<br />

Häusern die Namen der Straßen … er beobachtet auch die<br />

Leute: Es sind so viele, die er nicht kennt!<br />

Die Nacht ist hereingebrochen und die Stadt funkelt im<br />

Lichtermeer. Mario nimmt plötzlich wahr, dass er vor dem<br />

Bahnhof ankommt. Er hört den Lärm der Züge und sieht ein sehr<br />

großes Gebäude.<br />

Sein Herz schlägt heftig: Seine Tante wohnt ganz in der Nähe!<br />

Es gibt keinen <strong>Zwei</strong>fel - der Junge erinnert sich wieder daran,<br />

was sie beim letzten Mal sagte, als sie nach Bari kam: Ganz nahe<br />

beim Bahnhof, hat sie mehrmals wiederholt.<br />

42


Er geht sie suchen … und er wird sie finden! Er wird in einem<br />

Bett schlafen! Sein schönes weißes Hemd würde schmutzig<br />

werden, wenn er sich auf dem Boden hinlegen müsste …<br />

Ganz nahe beim Bahnhof - aber auf welcher Seite?<br />

Mario betritt die große Halle, die zu den Bahnsteigen führt. Er<br />

weiß, dass Tante Lucia eine Pension führt. Wenn also jemand<br />

ihm die Straße und die Hausnummer angeben könnte! …<br />

Die Reisenden kommen und gehen, alle mit schwerem Gepäck<br />

beladen. In Glaskäfigen beantworten Angestellte hinter den<br />

Schaltern die Fragen der fremden Durchreisenden in der ewigen<br />

Stadt.<br />

Mario sieht all dies; er zögert und wartet noch - und plötzlich fasst<br />

er Mut. Er geht mit gleitenden Schritten voran und nähert sich<br />

einem Auskunftsbüro. Der Schalterbeamte schaut ihn fragend<br />

an. Mario strengt sich gewaltig an, um ein paar Töne zu<br />

formulieren: „Frau Lucia Papali … wissen Sie, wo sie wohnt? Sie<br />

führt eine Pension in der Nähe des Bahnhofs.“<br />

Der Angestellte antwortet nicht sofort. Er schaut zuerst in ein<br />

Buch und sagt dann: „Jawohl, Frau Papali, Via Amendola 91.“<br />

„Via Amendola“, wiederholt Mario entzückt, „jetzt erinnere ich<br />

mich wieder … auf welcher Seite ist das?“<br />

„Du gehst dorthin“, erklärt der Beamte, während er mit einer<br />

Hand die Richtung anzeigt, „du nimmst die erste Straße und an<br />

der Ecke findest du dann die Via Amendola.“<br />

Mario bedankt sich, indem er dem liebenswürdigen Informanten<br />

ein Lächeln schenkt, und dessen Augen leuchten wie<br />

Diamanten.<br />

Der graue Gesichtsausdruck nimmt wieder Farbe an, das Kind<br />

zieht glücklich davon.<br />

43


Mario klopft an die Tür<br />

Die erste Straße, wenn er den Bahnhof verlässt, und dann …<br />

beginnt an der Ecke die Via Amendola.<br />

Der kleine Italiener erreicht ohne Mühe die Adresse seiner Tante.<br />

Er hält vor der Haustür an.<br />

Auf einer Metallplatte, deren Farben nur noch schwach zu sehen<br />

sind, sieht er diese Inschrift: Frau Lucia Papali, Pension, fünftes<br />

Stockwerk. Auf jeder Seite der Tür sind ähnliche Metallplatten mit<br />

anderen Namen angebracht. Mario liest sie nicht, nur diese eine<br />

interessiert ihn.<br />

Im Flur scheint ein alter Aufzug ihn zum Eintreten einzuladen, um<br />

den Aufstieg zu beginnen.<br />

Mario geht zur Seite … er kennt diese Maschine nicht. Er zieht<br />

es vor, seine Füße zu benützen, obwohl diese sehr müde sind.<br />

Er hat einen guten Atem und hält auf dem Weg nicht an.<br />

Als er oben ist, gibt es ein Problem: Es hat mehrere Türen und<br />

kein Licht …<br />

Trotzdem erkennt er auf der ersten Holzplatte eine größere<br />

Inschrift, die wichtiger als die anderen ist. Ist es wohl hier, wo er<br />

anklopfen muss?<br />

Auf gut Glück schlägt Mario mit seiner Faust kräftig gegen die<br />

Tür, die zittert und schwingt.<br />

Ungeduldig wartet er - dann klopft er noch einmal.<br />

Nichts bewegt sich …<br />

Trotzdem hört Mario hinter der Wand flüsternde Stimmen. Er hält<br />

es nicht mehr aus und ruft: „Tante Lucia! … Tante Lucia! …“<br />

Sofort dreht sich der Schlüssel im Schloss, die Tür öffnet sich<br />

44


und bringt Licht. Eine grazile Dame mit großen schwarzen Augen<br />

und auch schwarzen Haaren und einem lächelnden Gesicht<br />

schaut Mario verwirrt an.<br />

Ein Ruck schüttelt sie, als sie ihn fragt: „Mario? Mario? Was<br />

machst du hier? Sind deine Eltern hier?“<br />

Das Kind richtet sich stolz auf und antwortet: „Nein, ich bin ganz<br />

allein gekommen!“<br />

Dann stürzt er sich in Frau Papalis Arme. Er gibt ihr mehrere<br />

Küsse auf die Wangen, er ist tief bewegt und glücklich.<br />

Ein junges Mädchen beobachtet auf dem Flur einen Augenblick<br />

lang die Szene und entfernt sich dann wieder.<br />

„Du hast uns Angst gemacht, Mario“, sagt die Tante lachend, „ich<br />

habe mich gefragt, welches Individuum sich entschieden hat,<br />

meine Tür zu zerstören. Ich habe eine Pensionärin gerufen,<br />

damit sie mir zu Hilfe kommt. … und - bist du es, Mario? Du, ganz<br />

allein … armes Kind! Du bist müde und scheinst sehr hungrig zu<br />

sein … sag mir: Wann bist du angekommen? Und warum? Wo<br />

ist deine Mutter?“<br />

„In der Schweiz - und ich will auch in die Schweiz gehen“,<br />

antwortet Mario ohne Zögern.<br />

Tante Lucia lässt den Jungen eintreten, dann umarmt sie ihn und<br />

sagt: „Armer kleiner Mario, du Armer … ganz allein … du hast<br />

die Reise ganz allein gemacht! Ist das möglich? Komm, setz dich<br />

an den Tisch! Ich gebe dir etwas zu essen.“<br />

Dann führt Frau Papali das Kind in einen kleinen und schicken<br />

Essraum. Mario schaut erstaunt: Wie hübsch ist es hier! Nichts<br />

gleicht dem armseligen Zimmer, in dem er in Bari immer gelebt<br />

hat. Er träumt noch von allem, was er hier entdeckt, als Tante<br />

Lucia ihm von der Küche einen dampfenden Teller bringt.<br />

Mario sagt nichts mehr, er isst nur noch …<br />

45


In kurzer Zeit leert sich der Teller. Frau Papali legt eine Hand auf<br />

die des Jungen und sagt: „Und jetzt erzähl mir alles, Mario!“<br />

Das Kind spricht lange und berichtet von seinen Abenteuern und<br />

auch von seinen Drangsalen in all ihren Einzelheiten.<br />

Von Zeit zu Zeit unterbricht ihn die Tante seufzend: „Armer<br />

Mario, armes Kind!“<br />

Sie fügt aber auch hinzu: „Warum hast du Herrn und Frau<br />

Grangier verlassen? So nette Leute … ich hätte sie hier<br />

untergebracht.“<br />

Mario schaut zu seiner Tante auf, er antwortet nichts.<br />

Er durchwühlt seine Tasche, zieht das kleine Buch heraus und<br />

legt es auf den Tisch.<br />

„Was ist das?“, fragt Frau Papali.<br />

„Ein Geschenk, das man mir im Waisenhaus in der Nähe von<br />

Neapel gegeben hat.“<br />

Tante Lucia nimmt das Buch und liest: Neues Testament.<br />

Sie blättert ein wenig darin und sagt dann mit gleichgültigem<br />

Gesichtsausdruck: „Ein Kirchenbuch.“<br />

Mario fügt hinzu: „Es enthält schöne Geschichten. Ich werde es<br />

mit Leonardo lesen, wenn ich in der Schweiz bin …“<br />

„In der Schweiz? Du gehst nicht in die Schweiz! Du bleibst hier<br />

bei mir. Du weißt, Mario, ich bin ganz allein seit dem Tod meines<br />

Mannes. Ich habe kein Kind … und noch etwas: In der Schweiz<br />

würdest du wieder bei Serafino wohnen. Er ist nicht dein Vater<br />

… er liebt dich nicht.“<br />

„Er ist bös“, sagt Mario mit einem Frösteln.<br />

Trotzdem setzt er mit einem Ton des Bedauerns fort: „Ich würde<br />

gern diese schöne Reise machen …“<br />

„Nein, nein, du gehst nicht! … ich schreibe deiner Mutter; ich<br />

46


sage ihr, dass du jetzt in Rom bist. Um dir einen Gefallen zu<br />

erweisen, lese ich mit dir jeden Abend die schönen Geschichten<br />

… Leonardo wirst du in einem Jahr wiedersehen, wenn sie ins<br />

Land zurückkehren. Sie werden in Rom einen Halt einlegen und<br />

dich dann mitnehmen … du wirst nach Bari zurückkehren.“<br />

Frau Papali beendet das Gespräch mit einem Seufzer: „Und ich<br />

werde dann wieder allein sein …“<br />

Darauf schweigt Mario, er ist ohnehin sehr müde; seine Augen<br />

schließen sich. Er lässt das Neue Testament auf dem Tisch und<br />

folgt seiner Tante mit schlurfendem Schritt zu einem kleinen<br />

Zimmer, wo ein Bett mit schönen weißen Laken ihn zum<br />

Ausruhen einlädt.<br />

An diesem Abend schläft Mario zufrieden ein - eine Hand hat<br />

seine zerzausten Haare gestreichelt und er hat auf seiner Stirn<br />

die Wärme eines Kusses gespürt …<br />

Tante Lucia hat das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen<br />

- und zur gleichen Zeit hat sie in ihrem Herzen eine neue Freude<br />

gespürt.<br />

Jetzt hat sie keine Lust, um schon einzuschlafen; die Ankunft des<br />

Kindes und alles, was es erzählte, hat sie aufgewühlt.<br />

Langsam geht sie in den Essraum; sie setzt sich und sieht das<br />

kleine Buch … sie öffnet es aufs Geratewohl und liest.<br />

Sie vergisst die vorbeiziehenden Stunden … sie liest und liest.<br />

Endlich, spät in der Nacht, streckt sie ihre betäubten Glieder. Sie<br />

schließt das Neue Testament und flüstert: „Morgen, mit Mario,<br />

werde ich es wieder öffnen …“<br />

47


Weine nicht mehr, Mario!<br />

Ein Monat ist seit dem Tag verstrichen, an dem Mario keuchend<br />

und hungrig bei seiner Tante Lucia angekommen ist … und er ist<br />

geblieben!<br />

Jeden Tag spaziert er auf den Straßen von Rom - und immer<br />

entdeckt er neue Wunder! Während der Woche geht Frau Papali<br />

zu ihrer Arbeit und ist immer sehr beschäftigt. Aber an den<br />

Sonntagen gelingt es ihr, dem Kind mehrere Stunden zu widmen;<br />

dann gehen sie zu zweit wie Forscher in der alten und herrlichen<br />

Stadt umher. Mario hat schon viele Ruinen gesehen: Das<br />

Kolosseum, die Foren … er ist lange auf der Via Appia<br />

gegangen, diesem langen und antiken Weg, der bis zum Süden<br />

hinführt.<br />

Wenn er allein ausging, beobachtete er die zahlreichen<br />

Touristen. Niemand hat ihm gesagt, er solle anhalten, und<br />

niemand hat gewünscht, ihn so zu fotografieren wie in Castellana<br />

… er hat niemanden gefunden, der ihm hilft, seine Reise<br />

fortzusetzen. Jetzt scheint ihm die Schweiz so fern und<br />

unerreichbar zu sein.<br />

Mit gekränktem Herzen denkt Mario, dass er niemals in dieses<br />

schöne Land gehen und Herrn und Frau Grangier nie mehr<br />

wiedersehen wird.<br />

Trotzdem hat er für seine Enttäuschung eine Entschädigung<br />

gefunden: Jeden Abend liest er mit Tante Lucia im kleinen Buch,<br />

das man ihm im Waisenhaus gegeben hat. Und die Geschichten<br />

sind so schön!<br />

So hat er erfahren, dass dieser Gott, den er kaum kannte … dass<br />

dieser reiche, große und ferne Gott weit oben im Himmel einen<br />

Sohn hatte. Und dieser Sohn ist einmal auf die Erde gekommen;<br />

er war arm, sehr arm … als er geboren wurde, hatte er nicht<br />

48


einmal eine Wiege, die ihn empfing … man legte ihn in eine<br />

Krippe in einem Stall …<br />

Mario fühlt diesen Sohn Gottes so nah bei ihm; er liebt ihn wie<br />

einen Freund und zweifelt nicht daran, dass er von ihm geliebt<br />

und verstanden wird. Im Buch wird auch noch erzählt, dass<br />

dieser Sohn Gottes Jesus heißt … diesen Namen hat er zwar<br />

schon gehört, doch er kannte nicht die wunderbare Geschichte.<br />

Und Jesus ist groß geworden und ein Mann geworden, er hat<br />

Wunder vollbracht, er hat viele kranke Leute geheilt, er hat alle<br />

geliebt. Oh, wie gern hätte sich Mario gewünscht, in der gleichen<br />

Zeit mit ihm zu leben, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen! …<br />

Heute marschiert das Kind traurig und mit niedergedrückten<br />

Augen. Es irrt auf den Straßen, ohne auf die Menge von Leuten<br />

zu schauen und ohne vor den Läden anzuhalten. Hat es gestern<br />

nicht im Neuen Testament gelesen, dass die Menschen, die wie<br />

immer bös und grausam sind, ihn zum Tod verurteilt und getötet<br />

haben - ihn, diesen großen Freund seines Herzens?<br />

Mario seufzt … er beeilt sich, um in die Pension zurückzukehren<br />

und Tante Lucia wieder zu sehen. Bald werden sie ihre Lektüre<br />

fortsetzen. Und die Tage folgen einander …<br />

Mario besucht die Schule dieses Bezirks. Zu Beginn haben ihn<br />

seine Kameraden wie ein neugieriges Tier angeschaut. Giorgio,<br />

ein schöner Junge mit römischem Profil, hat seinen Mund<br />

verächtlich verzogen.<br />

Er hat geflüstert: „Er kommt aus dem Süden …“<br />

Das Kind hat den Kopf weggedreht; es ist langsam und mit<br />

schlurfendem Schritt weggegangen.<br />

Fernando, ein kleiner Dunkelhaariger mit Augen, die vor lauter<br />

Neugier leuchten, ist ihm gefolgt. Er hat ihn eingeholt und<br />

gefragt: „Ist es wahr, dass du aus dem Süden kommst? Etwa von<br />

Neapel?“<br />

49


Mario hat kurz und leise nur mit „Nein“ geantwortet. Und sofort<br />

hat er hinzugefügt: „Ich will nicht hier bleiben … ich gehe in die<br />

Schweiz.“<br />

Die neugierigen Augen wurden von Licht bestrahlt und der Junge<br />

sagte laut: „In die Schweiz? Warum würdest du in die Schweiz<br />

gehen? Es ist dort zu kalt! Es hat dort nichts als Berge und<br />

Gletscher!“<br />

Dann ist er in dunkles Gelächter ausgebrochen, was Marios Herz<br />

gebrochen hat.<br />

Er hat das kleine Buch weitergelesen und sich damit getröstet.<br />

Manchmal hat er während seiner Lektüre die Stirn gerunzelt, weil<br />

er nicht gut verstand. Andere Male ist seine Brust vor Freude<br />

angeschwellt: Jesus ist nicht für immer gestorben, er ist<br />

auferstanden! Mario hat gedacht, sein Herz würde vor Glück<br />

hochspringen, als er die Ostergeschichte las. Und mit Tante<br />

Lucia hat er entdeckt, warum sein großer Freund hatte sterben<br />

müssen: „ … damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben<br />

hat.“ (Johannes 3, 16).<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Tag für Tag ist das lange Jahr vorbeigegangen, ohne dass Mario<br />

in die Schweiz ging.<br />

Heute Abend setzt sich das Kind wie üblich an den Tisch im<br />

Essraum. Frau Papali schaut es an; sie versucht zu lächeln, aber<br />

es gelingt ihr nur mit Mühe.<br />

„Mario, morgen wirst du abreisen … und ich werde wieder allein<br />

sein“, sagt sie schließlich leise.<br />

Der Junge schüttelt den Kopf und schafft es kaum, den Mund zu<br />

öffnen. Seine Augen schauen voller Wärme zu Tante Lucia auf.<br />

Diese spricht weiter: „Wir können dann nicht mehr zusammen<br />

lesen …“<br />

50


Das Kind nimmt das Neue Testament, das auf dem Tisch liegt,<br />

streckt es ihr hin und sagt: „Nimm es, Tante Lucia, ich gebe es<br />

dir! … so wirst du nicht mehr ganz allein sein.“<br />

Frau Papali entgegnet laut: „Mario! Nein, nein! Du hast es<br />

bekommen, es ist deines … und jetzt kehrst du nach Bari zurück<br />

… du wirst wieder mit Leo sein und ihr werdet es beide<br />

zusammen lesen … es ist nötig, dass dein Bruder seinen Erlöser<br />

ebenfalls kennen lernt.“<br />

Mario richtet sich wieder auf und sagt fröhlich: „Ja, Leonardo<br />

muss das erfahren …“<br />

Dann fügt er niedergedrückt hinzu: „Morgen? Kommen sie<br />

wirklich morgen von der Schweiz? Glaubst du, Tante Lucia, dass<br />

Leonardo Herrn und Frau Grangier und Lilian getroffen hat … auf<br />

den Straßen ihrer Stadt im Verlauf dieses Jahres?“<br />

Frau Papali bricht in Lachen aus und sagt: „Mario! Guter Junge!<br />

Selbst wenn sie sich getroffen haben - wie willst du, dass sie sich<br />

erkennen?“<br />

„Aber … ich gleiche Leo … wenn Lilian ihn sah, hat sie sicher<br />

gesagt: Schau da, ein Italiener, der Bruder von Mario!“<br />

„Ach“, sagt Tante Lucia laut, „es hat jede Menge von Italienern in<br />

der Schweiz - und oft gleichen sie Mario. Wie könnten deine<br />

Freunde also wissen, wer dein Bruder ist?“<br />

Das Kind senkt den Kopf, um dem schelmischen Blick von Frau<br />

Papali auszuweichen.<br />

Dann sagt er seufzend: „Das ist schade.“<br />

„Warum?“, fragt sie, „hast du Kummer?“<br />

Mario schüttelt den Kopf und antwortet leise: „Ja.“<br />

Er atmet lange und setzt fort: „Ich bin bös gewesen … ich habe<br />

mich davongemacht.“<br />

51


„Und du hast ihnen nicht gedankt … und du hast sie traurig<br />

gemacht.“<br />

„Ja“, flüstert das Kind.<br />

„Mario, ich habe eine Idee“, sagt Tante Lucia laut, „eine gute<br />

Idee!“<br />

Der Junge richtet sich auf, seine Augen leuchten.<br />

Frau Papali setzt glücklich und überschwänglich fort: „Du reist<br />

morgen ab … ich bleibe allein. Glaubst du, das ist schön für<br />

mich? Nein - ist es nicht. Du nimmst das Neue Testament mit<br />

und ich habe nichts mehr als meine Augen, um zu weinen …<br />

Aber nein, ich werde nicht so verbleiben. Ich schreibe dem<br />

Waisenhaus dort unten in der Nähe von Neapel. Ich habe auf der<br />

ersten Seite des Buches den Namen gesehen. Ich bitte sie um<br />

ein Exemplar für mich; da sie so nett sind, werden sie es mir<br />

schicken. Und jetzt hör mir gut zu: Gleichzeitig will ich mich bei<br />

ihnen über die Adresse dieser Leute informieren, die dich<br />

hierhergebracht haben. Sie kennen diese vielleicht, weil sie ihre<br />

Freunde sind.“<br />

Mario erhebt sich, wirft sich in die Arme seiner Tante und hängt<br />

sich an ihr in einem Anflug von Freude.<br />

Tante Lucia sagt lachend: „Du bist zufrieden, Mario!“<br />

Der Junge bewegt seinen Kopf, sein Ausdruck antwortet für ihn.<br />

Nach einem kleinen Moment der Stille schließt er: „Und du wirst<br />

mir die Antwort schicken. Ich werde ihnen schreiben, um sie um<br />

Verzeihung zu bitten.<br />

Er zögert ein wenig und fügt dann hinzu: „Vielleicht werden sie<br />

glücklich sein, wenn ich ihnen sage, dass Jesus jetzt mein großer<br />

Freund ist.“<br />

An diesem Abend - dem letzten Abend, den er in Rom verbringt<br />

– dreht und dreht sich Mario in seinem weißen Bett; es gelingt<br />

ihm nicht, Schlaf zu finden.<br />

52


Draußen geht der Lärm der Busse und der Menschenmenge<br />

weiter. Um ihn nicht zu hören, sind die Fenster geschlossen<br />

worden.<br />

Es herrscht eine brütende Hitze.<br />

Marios Geist geht hin und her: Morgen, sehr früh am Vormittag,<br />

gibt es das Wiedersehen im Bahnhof mit seiner Mutter, seinem<br />

Vater und Leo. Für die drei Italiener, die von der Schweiz<br />

kommen, geht die Reise dann weiter, und für Mario wird sie<br />

beginnen. Spät am Abend werden sie in Bari eintreffen.<br />

Bari! … das Kind erschaudert, es sieht wieder das ärmliche<br />

Zimmer und den alten orientalischen Bezirk … es scheint ihm,<br />

der harte Blick von Serafino Balutti richtet sich wieder auf ihn.<br />

Plötzlich denkt er wieder an Frau Gardali, deren Existenz er<br />

völlig vergessen hat … auch sie wird schimpfen, weil Mario sich<br />

davongemacht und ihr Geld mitgenommen hat!<br />

Das Kind bedeckt seinen Kopf im Kissen … Tränen rinnen über<br />

seine Wangen. Wenn doch all diese Dinge aus seinem<br />

Gedächtnis verschwinden könnten!<br />

Da er das nicht länger aushält, schluchzt er. Und plötzlich steht<br />

er auf und steigt aus seinem Bett. Er geht nach dem Essraum,<br />

das Licht brennt dort noch. Frau Papali schreibt etwas, sie dreht<br />

sich nach ihm um und sagt: „Mario, mein Kleiner, mein Kind! Was<br />

machst du? Weinst du? Armer Kleiner! Komm zu mir! …“<br />

Sie umarmt und herzt das Kind, sie küsst es und fragt nochmals:<br />

„Du weinst - warum?“<br />

„Weil ich ein schlechter Junge bin … weil ich Angst habe … ich<br />

habe Angst vor Frau Gardali, ich habe Angst vor Serafino,<br />

meinem Vater. Ich bin ein Dieb, ich bin ein Lügner und habe<br />

Angst …“<br />

Mario bricht zusammen, das Schluchzen beginnt von neuem.<br />

53


Frau Papali scheint verärgert; sie zieht das Kind zu sich und sagt<br />

dann laut: „Weine nicht! … ich sage dir jetzt etwas, das dich<br />

trösten wird. Aber hör zu, schluchze nicht mehr, erhebe deinen<br />

Kopf und schau mich mit einem Lächeln an!“<br />

Langsam befreit sich das Gesicht des Jungen von den Tränen,<br />

seine großen niedergedrückten Augen schauen die Tante<br />

verzweifelt an.<br />

„Mario, Mario!“, sagt dann Frau Papali, „erinnerst du dich nicht<br />

daran, was wir im Buch gelesen haben? Ich habe die Verse vor<br />

kurzem unterstrichen … wir werden sie wieder finden, hilf mir<br />

dabei!“<br />

Sie durchblättert fieberhaft das Neue Testament, dann spricht sie<br />

weiter: „Hör, hier steht es: Denn alle haben gesündigt … und sie<br />

sind umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade und durch die<br />

Erlösung, die in Jesus Christus ist.“ (Römer 3, 23-24)<br />

Frau Papali seufzt tief und setzt dann fort: „Du hast gesündigt,<br />

Mario … du siehst das ein, aber gerade dafür ist er gestorben,<br />

dein großer Freund: Um dich zu retten. Erinnerst du dich nicht an<br />

die Verkündigung des Engels vom Himmel an die Hirten, die auf<br />

den Feldern ihre Herden hüteten: ‚Fürchtet euch nicht! … ich<br />

verkündige euch eine gute Nachricht … euch ist ein Retter<br />

geboren worden.‘ (Lukas 2, 10-11). Also hab keine Angst mehr,<br />

Mario! Dein großer Freund vergibt dir, er will dich trösten. Er ist<br />

grösser und stärker als Serafino Balutti, grösser und stärker als<br />

Frau Gardali. Er liebt dich sehr … aber von jetzt an wirst du nicht<br />

mehr lügen, nicht mehr stehlen und nicht mehr fliehen … nicht<br />

wahr?“<br />

Die Tränen versiegen, bewegt schweigt das Kind lange. Er<br />

scheint nachzudenken, seine Augen drücken eine feste<br />

Entschlossenheit aus.<br />

Dann fragt er schüchtern: „Du glaubst, er liebt mich? … du<br />

glaubst, er will mir vergeben?“<br />

54


„Da bin ich mir sicher … und er wird dir helfen, ein braver Junge<br />

zu werden.“<br />

Diesmal erhellt sich Marios Gesicht. Zufrieden flüstert er: „Ich<br />

liebe ihn auch.“<br />

Er wischt eine letzte Träne weg, die auf seiner Wange trocknet.<br />

Tante Lucia sagt: „Ich schreibe dem Waisenhaus …“<br />

„Nein, nein, warte bis morgen! … ich will zuerst mit Leonardo<br />

sprechen. Wenn, wenn …“<br />

„Wenn was?“<br />

Mario schaut seine Tante mit einem strahlenden Blick an und<br />

antwortet: „Wenn er Herrn und Frau Grangier getroffen hat, wird<br />

er ihre Adresse wissen.“<br />

55


Eine Zugfahrkarte<br />

Seit einer Woche ist Mario wieder das Kind aus dem Süden. Er<br />

schleicht von neuem auf den Straßen von Bari herum, barfuß und<br />

in Begleitung von Leonardo.<br />

Sie haben einander so viele Dinge zu erzählen!<br />

Sie gehen auf den Kais und plaudern ununterbrochen.<br />

Leo spricht von seinem Leben in der Schweiz und Mario<br />

beschreibt den Glanz von Rom.<br />

„Bist du sicher, Leo, dass du Herrn und Frau Grangier nicht<br />

gesehen hast?“, fragt er ihn nicht nur einmal.<br />

Er beschreibt den Wagen; in den Einzelheiten, die er gibt,<br />

zeichnet er ein genaues Porträt von Lilian und ihren Eltern.<br />

Es ist verlorene Mühe - Marios Bruder hat diese Leute nicht<br />

getroffen …<br />

„ Weißt du“, sagt er, „wir waren immer mit Italienern zusammen.<br />

Dort hat es so viele wie Schweizer selber! Und dazu kümmern<br />

sich die Schweizer nicht um uns … sie ziehen jeden Tag schöne<br />

Kleider an, sie sind alle reich, aber sie können nicht richtig lachen<br />

…“<br />

Jeden Morgen, wenn der Briefträger seine Tour macht, kehrt<br />

Mario nach Hause zurück: Er wartet ungeduldig auf einen Brief<br />

von Tante Lucia.<br />

Heute kommt er an, indem er einen Umschlag schwingt. Er hat<br />

den Briefträger getroffen, der ihm diesen ausgehändigt hat.<br />

Laut ruft er ins Haus hinein, wo seine Mutter das Mahl<br />

vorbereitet: „Ein Brief von Tante Lucia! Schnell, Mamma, wir<br />

müssen ihn lesen!“<br />

Anna Balutti antwortet nicht, sie scheint zu beschäftigt zu sein.<br />

56


„Mamma, verstehst du? Ein Brief von Tante Lucia …“<br />

Zerstreut und zu beschäftigt wirft die Frau nur einen<br />

gleichgültigen Blick auf den weißen Umschlag und sagt: „Nimm<br />

diese Münzen! … geh schnell Zucker im Laden holen!“<br />

Mario geht rennend weg; als er zurückkommt, ist Serafino Balutti<br />

bereits da im großen Zimmer. Das Kind schweigt; es wagt nicht,<br />

etwas zu fragen. Es geht wieder auf die Straße …<br />

Erst am nächsten Morgen, als er dabei ist, zur Schule zu gehen,<br />

riskiert es Mario, noch einmal die Frage zu stellen: „Mamma, was<br />

sagt Tante Lucia? Schickt sie dir die Adresse von Frau<br />

Grangier?“<br />

„Nein, im Waisenhaus kennen sie diese nicht“, antwortet sie jetzt<br />

und fragt dann: „Übrigens, was gehen dich diese Leute an? Es<br />

sind Ausländer …“<br />

Ein Satz ist zwar bereit, aus dem Mund des Jungen zu treten,<br />

doch er hält sich rechtzeitig zurück.<br />

Er geht mit Leo weg … jetzt brennen auf seinen Lippen die<br />

Worte, die herauskommen: „Dank ihnen habe ich das Neue<br />

Testament gelesen. Dank ihnen kenne ich Jesus, meinen großen<br />

Freund. Ich würde ihnen dafür so gern danken.“<br />

Die Augen des Kindes schwellen an; die Tränen sind bereit zu<br />

fließen. Leonardo schaut seinen Bruder an, er sagt nichts. Er<br />

beobachtet ihn und ist erstaunt … er findet Mario seit seinem<br />

Aufenthalt in Rom sehr verändert.<br />

Nachdenklich sagt er endlich: „Du wirst mir dein kleines Buch<br />

ausleihen, ich möchte es auch gern lesen.“<br />

Nach der Schule setzen sich Mario und Leo an den Tisch im<br />

Zimmer, sie machen ihre Hausaufgaben. Mit einem<br />

geheimnisvollen Blick lässt der ältere das Neue Testament zu<br />

seinem Bruder hinübergleiten.<br />

57


„Nimm es!“, sagt er leise.<br />

Im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür heftig. Schnell<br />

versteckt Leo das Buch unter seinen Heften.<br />

Serafino Balutti tritt herein. Er geht zu seiner Frau und schreit:<br />

„Erkennst du deinen Bengel wieder? Er macht schöne<br />

Geschichten! Wirst du mir wohl erklären, warum diese Fotografie<br />

bis in die Schweiz spazieren geht?“<br />

Mario erschreckt und wird bleich.<br />

Anna Balutti artikuliert erstaunt: „Aber … aber … ja, ich erkenne<br />

Mario … oh, Mario! Was ist denn das?“<br />

Das Kind erhebt sich zitternd - was wird jetzt mit ihm geschehen?<br />

Er nähert sich und prüft von ganz nahe einen kleinen Karton,<br />

über den sich auch seine Mutter lehnt.<br />

„Aber ja, das bin ich!“, sagt er dann, „vor dem Trullo! Wer hat<br />

euch dieses Foto gegeben? Frau Grangier?“<br />

Verächtlich schaut der Mann das Kind an.<br />

„Frau Grangier? Du würdest gut daran tun, dich nicht um diese<br />

Ausländer zu kümmern. Haben etwa diese dich fotografiert?“<br />

„Ja“, antwortet Mario in einem Atemzug.<br />

„Und du hast es akzeptiert, für sie zu posieren? Hattest du noch<br />

nicht genug von deinen Abenteuern? Ich traue diesen Leuten<br />

nicht … ich frage mich, aus welchem Grund sie dich fotografieren<br />

wollten. Und jetzt lassen sie uns nicht in Ruhe.“<br />

Leo wird mutig und fragt: „Was machen sie denn?“<br />

„Ich weiß nichts darüber“, antwortet sein Vater, „geh Roberto<br />

Bonno fragen! Er ist es, der mir das Foto gegeben hat. Er ist<br />

gestern Abend mit seinem Vater und einer ganzen Bande von<br />

der Schweiz zurückgekehrt - insgesamt fünfzig, von Bari und<br />

seiner Umgebung.“<br />

58


Serafino redet noch, Mario hört ihn nicht mehr. Er hat sich<br />

geräuschlos nach draußen geschlichen, noch bevor man seinen<br />

Abgang bemerkt. Er marschiert schnell, sein Herz schlägt mit<br />

heftigen Stößen. Er kennt Roberto Bonno gut: Ein großer Junge<br />

von vielleicht vierzehn Jahren.<br />

Dieser ist von der Schweiz zurückgekehrt … er hat die Fotografie<br />

mitgebracht … also hat er Lilians Eltern gesehen! Er hat mehr<br />

Glück gehabt als Leo …<br />

Bei diesem Gedanken zittert Mario vor Freude; so beschleunigt<br />

er seinen Schritt und kommt vor einem großen neuen Gebäude<br />

an. Er sieht Roberto, der auf dem Gehsteig mit seinen<br />

Kameraden spricht.<br />

Roberto dreht seinen Kopf nach ihm; er bemerkt ihn, nähert sich<br />

mit einem Lächeln und sagt: „Salü, Mario! Hat dein Vater dir das<br />

Foto gegeben? Es ist hübsch, nicht wahr?“<br />

Bewegt fragt Mario: „Hast du Herrn und Frau Grangier gesehen?<br />

Was haben sie dir gesagt?“<br />

Der große Junge sagt staunend: „Herr und Frau Grangier? Nein,<br />

ich kenne sie nicht …“<br />

„Du kennst sie nicht?“, wiederholt das Kind verwirrt, „schließlich<br />

sind es die Leute, die dir diese Fotografie mitgegeben haben …<br />

wo hast du sie getroffen?“<br />

Mit sicherer Stimme und kräftigerem Ton antwortet Roberto: „Du<br />

amüsierst mich! Ich weiß nicht, von wem du sprichst!“<br />

Die Enttäuschung zerschneidet Marios Atem, trotzdem artikuliert<br />

er noch mühsam: „Also, das Foto? …“<br />

„Es ist mein Vater, der sie mir gezeigt und gesagt hat: ‚Erkennst<br />

du Mario?‘ Ich hatte es nicht nötig, mir eine Brille aufzusetzen,<br />

um zu bemerken, dass er die Wahrheit sprach.“<br />

Der Junge schafft es nicht, seine Enttäuschung hinzunehmen.<br />

59


„Und du hast Herrn und Frau Grangier nicht getroffen?“<br />

Roberto antwortet lachend mit einem Nein.<br />

Mario bohrt aber weiter: „Also, dein Vater …“<br />

„Mein Vater? Lass dir nicht einfallen, dich meinem Vater<br />

aufzudrängen! Er würde dir dementsprechend antworten … Er<br />

würde dich als neugierig einstufen - und seine Geschäfte sind<br />

seine Geschäfte. Übrigens, wer sind diese Grangiers? Wenn sie<br />

zu den Bekanntschaften meines Vaters gehören sollten, würde<br />

ich das wissen; da bin ich mir sicher, Mario.“<br />

Das Kind seufzt und zeigt ein trauriges Gesicht.<br />

„Warum machst du diesen Kopf?“, fragt Roberto.<br />

Mario bewahrt sein Schweigen; er lehnt sich gegen die<br />

Hausmauer und starrt ins Leere.<br />

„Mario!“, schreit der große Kerl.<br />

Der Bruder von Leo zuckt zusammen und wiederholt: „Hast du<br />

Herrn und Frau Grangier also nicht gesehen? …“<br />

Diesmal lacht Roberto, als er fragt: „Sag mir, warum möchtest<br />

du, dass ich diese Leute kenne?“<br />

„Weil sie so nett sind, weil sie mich bis nach Rom gebracht haben<br />

… ich würde ihnen gern schreiben, aber ich weiß ihre Adresse<br />

nicht. Ich dachte, Leo würde sie in der Schweiz sehen, doch er<br />

ist wie du: Er hat sie nicht getroffen … als ich die Fotografie sah,<br />

habe ich geglaubt, du könntest mir angeben, wo sie wohnen.“<br />

„Wo sie wohnen? Also das könnte ich dir vielleicht sagen.“<br />

Mario springt auf und fragt: „Du … du könntest?“<br />

Roberto zögert: „Ich bin mir da nicht sicher. Warte mal, ich muss<br />

etwas schauen gehen!“<br />

„Etwas?“<br />

60


„Ja, du Neugieriger. Warte hier auf mich! Ich komme sofort<br />

wieder.“<br />

Mario hält seine Augen auf die Tür gerichtet, hinter der sein<br />

Kamerad verschwunden ist. Er zögert nicht, um bald wieder zu<br />

erscheinen. Er hält etwas in der Hand.<br />

„Noch ein Foto?“, fragt Mario, „ist es das, wo ich mit Lilian drauf<br />

bin?“<br />

„Nein. - Es ist eine schweizerische Zugfahrkarte, die für zehn<br />

Tage gültig ist.“<br />

„Ah!“, seufzt Mario sofort enttäuscht.<br />

Roberto stellt den kleinen Karton stolz vor dem<br />

niedergeschlagenen Kind auf.<br />

„Schau, schau!“, sagt er dann, „sie wohnen hier, diese Leute, von<br />

denen du die Adresse kennen möchtest: In Télévenaz!“<br />

„Wie weißt du das?“<br />

„Das ist ein Geheimnis.“<br />

Mario wird ungeduldig: „Ein Geheimnis? Erkläre, erkläre! …<br />

warum weißt du, dass sie in Télévenaz wohnen, wenn du sie<br />

nicht kennst?“<br />

Roberto wird ernst und antwortet: „Hör zu, Mario! Wenn du mir<br />

nicht glauben willst - umso schlimmer für dich. Lies hier auf der<br />

Fahrkarte: ‚Télévenaz-Lausanne et retour.‘ Retour heißt, dass<br />

sie nach Télévenaz zurückgekehrt sind, wo sie wohnen.<br />

Verstehst du?“<br />

Das Kind hebt die Schultern; nein, es versteht das nicht sehr gut,<br />

vertraut jedoch Roberto und fragt ihn deshalb: „Glaubst du also,<br />

dass sie meinen Brief bekommen, wenn ich ihnen schreibe und<br />

dabei die Adresse hier angebe?“<br />

Der junge Mann ist sich zwar nicht sicher, doch er lässt sich das<br />

61


nicht anmerken und antwortet energisch: „Ohne jeden <strong>Zwei</strong>fel.“<br />

Mario jubelt: „Zeig mir die Fahrkarte! … Welcher Name?<br />

Welche Stadt? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich werde<br />

ihnen schnell schreiben.“<br />

Roberto legt die Hände hinter Marios Rücken und fragt: „Was<br />

gibst du mir als Tausch für die Fahrkarte?“<br />

„Als Tausch?“<br />

„Ja, du kannst sie behalten … für drei Zigaretten. Dein Vater hat<br />

solche von der Schweiz gebracht.“<br />

Mario filzt seine Taschen, sein guter Wille verschwindet.<br />

„Zigaretten? Ich habe keine.“<br />

„Also gut, dann etwas anderes! Das ist mir gleich.“<br />

Der Junge sagt nichts mehr, sondern denkt nach. Was besitzt er<br />

denn? Seine Schulhefte … und sein Neues Testament. Also das<br />

… er wird sein kostbarstes Gut niemals hergeben. Doch heute<br />

hat er zufällig seine Schuhe angezogen … er schaut auf seine<br />

Füße. Er hat es gefunden! So sagt er triumphierend: „Ich gebe<br />

dir meine Schuhe.“<br />

Roberto zeigt einen abweisenden Schollmund und entgegnet<br />

lachend: „Zu klein … und zu alt!“<br />

Mario gibt sich noch nicht geschlagen und sagt weiter: „Ich habe<br />

zu Hause eine Krawatte, eine schöne Krawatte mit mehreren<br />

Farben, die Tante Lucia mir in Rom gekauft hat …“<br />

„Einverstanden! Geh die Krawatte holen - und du bekommst die<br />

Fahrkarte!“<br />

Mario schüttelt den Kopf mit einem Zeichen der Bestätigung und<br />

geht ruhig weg. Er kann jetzt Lilians Eltern schreiben! Umso<br />

schlimmer für die Krawatte …<br />

Er kommt in der engen Straße an, wo er wohnt, und betritt das<br />

62


große Zimmer mit den kalten Mauern. Es hat viele Leute drinnen:<br />

Nachbarn, Verwandte … viel Trubel, alle reden lebhaft.<br />

Mario hört nicht zu; die Gespräche der erwachsenen Personen<br />

interessieren die Kinder nicht. Er will sein Ziel erreichen … doch<br />

das ist unmöglich! All diese Leute behindern ihn und versperren<br />

ihm den Weg, der dorthin führt, wo er seine Krawatte<br />

untergebracht hat: Unter seinem Bett in einem Koffer.<br />

Er tritt zurück; Roberto wird bis morgen warten und Mario<br />

ebenso. Er geht zum Tisch … sein Bruder schaut ihn mit<br />

geschlossenem Mund an. Die Augen des jüngeren widerspiegeln<br />

ein Geheimnis und Angst.<br />

Warum ein solcher Ausdruck?<br />

Plötzlich fühlt Mario einen heftigen Schmerz.<br />

„Leo!“, fragt er seufzend, „was ist hier los? Ist es der Vater?“<br />

„Ja, er hat eine Szene gemacht; er hat uns das Neue Testament<br />

weggenommen.“<br />

Mario unterdrückt einen Schrei und fragt mit einem Würgen: „Hat<br />

er es gesehen?“<br />

Leonardo antwortet mit entsprechendem Kopfnicken.<br />

Mario sagt nichts mehr … er geht leise nach draußen auf die<br />

Straße …<br />

Die Nacht bricht an, das Kind geht schluchzend dahin.<br />

Er marschiert lange, er entfernt sich von seinem Wohnbezirk. Der<br />

mit Sternen bedeckte Himmel beruhigt endlich sein zermartertes<br />

Wesen. Dort oben lächelt ihm sein großer Freund zu, das nimmt<br />

er tief wahr …<br />

Ein feierlicher Friede kommt über ihn. Er ist nicht mehr allein:<br />

Jesus begleitet ihn im Leben.<br />

Es wird Zeit, wieder nach Hause zurückzukehren … doch er geht<br />

63


den Weg nach der Altstadt ohne Eile.<br />

Als er das Zimmer betritt, sieht er den Tisch gedeckt. Die Mutter<br />

bringt die Suppe, die Brotscheiben sind auf dem Tisch verteilt.<br />

Das Kind kommt geräuschlos herein.<br />

Sein Vater überprüft ihn mit Augen, die hart wie Stahl sind.<br />

„Woher kommst du, Herumtreiber?“<br />

Darauf ertönen zwei Ohrfeigen, die wenigstens nicht allzu kräftig<br />

sind, auf beiden Wangen. Ohne mit der Stirn zu runzeln setzt sich<br />

Mario neben seinen Bruder. Während des Essens plaudern der<br />

Vater und die Mutter mit einem Nachbarn, der gerade hier<br />

verweilt.<br />

Die Kinder essen schweigend; manchmal erheben sie die Augen<br />

mit unruhigem Blick.<br />

64


Schließ die Augen, Mario!<br />

Am nächsten Vormittag, als er aus der Schule kommt, beeilt sich<br />

Mario; die Krawatte lässt die Tasche seiner Hosen anschwellen.<br />

Bevor er nach Hause zurückkehrt, geht er Roberto Bonno<br />

besuchen …<br />

Jetzt, da man ihm sein kleines Buch weggenommen hat, spürt er<br />

einen noch größeren Wunsch, in die Schweiz zu schreiben. Er<br />

wird von seinem Kummer erzählen … vielleicht wird man mit ihm<br />

Mitleid haben und ihm ein Neues Testament schicken, das ganz<br />

neu ist.<br />

Diese Hoffnung ist gestern Abend in seinem Herzen geboren,<br />

bevor er einschlief, als die beiden Ohrfeigen noch auf seinen<br />

Wangen brannten. Und diese Perspektive hat ihn getröstet.<br />

Jetzt freut er sich … wenn sein Vater das Buch lesen sollte,<br />

würde Gott sein Herz sicher verändern!<br />

Von dieser Hoffnung gestärkt geht Mario zur Seite des Hauses,<br />

wo Roberto wohnt. Von seinem Balkon aus hat der große Junge<br />

Mario gesehen, er kommt herunter auf den Gehsteig und fragt<br />

ihn: „Und die Krawatte?“<br />

„Nimm sie!“, sagt das Kind, während es in seiner Tasche wühlt,<br />

„da ist sie!“<br />

Roberto lacht, als er sie sieht, und ruft: „Sie ist schön!“<br />

Er zieht sie an und sagt damit stolzierend: „Herrlich!“<br />

Mario lacht geduldig.<br />

„Du willst wohl deine Fahrkarte“, schlussfolgert Roberto,<br />

nachdem er das lange und mehrfarbige Stück gut überprüft hat.<br />

„Ja.“<br />

65


„Warte - ich muss es noch finden!“<br />

Der junge Mann zieht aus den Tiefen seiner Tasche etwas, das<br />

er in seiner Hand versteckt.<br />

„Schließ die Augen, Mario!“, fordert er ihn dann auf.<br />

Fügsam gehorcht das Kind und bedeckt seine Augen mit beiden<br />

Händen.<br />

Roberto nimmt eine seiner Hände und legt ein Stück Papier<br />

hinein …<br />

„Und jetzt kommt das große Schweigen“, sagt er weiter, „Kein<br />

Wort zu niemandem, wer auch immer es ist. Verstanden?“<br />

Ohne zu antworten, eilt Mario davon. Erst nachdem er die Straße<br />

überquert hat, legt er einen Halt ein. Er öffnet seine Hand: Er<br />

schaut … und er schaut gut. Er erschrickt und schreit: „Du<br />

Mistkerl!“<br />

Seine zitternden Finger halten ein kleines Blatt Papier, das auf<br />

beiden Seiten ganz weiß ist. Das ist nicht die Zugfahrkarte!<br />

Mario kehrt sofort mit finsterer Miene zurück, aber Roberto ist<br />

verschwunden. Das Kind ruft ihn aus Leibeskräften. Er schreit<br />

und schreit - und die Jungen dieser Straße helfen ihm dabei.<br />

Die Balkontür öffnet sich und es erscheint Catarina, Robertos<br />

ältere Schwester.<br />

„Roberto ist nicht hier!“, ruft sie mit scharfer Stimme, „schweigt<br />

endlich!“<br />

„Er ist hier!“, antwortet Mario, „er muss kommen!“<br />

Die Augen des Kindes werfen Blitze.<br />

„Ich will die Fahrkarte!“<br />

„Welche Fahrkarte?“<br />

„Die Zugfahrkarte!“<br />

66


Catarina scheint erstaunt und völlig überrascht zu sein. Etwas<br />

sanfter ruft sie herunter: „Gib ihm eine Zigarette!“<br />

„Ich habe keine!“, antwortet das Kind fest.<br />

Seine Augen füllen sich mit Tränen, so fügt er hinzu: „Er hat die<br />

Krawatte schon bekommen!“<br />

„Die Krawatte?“, wiederholt sie und ruft dann: „Warte, ich<br />

komme!“<br />

Sie taucht an der Eingangstür des Hauses auf, die Kinder des<br />

Bezirks versammeln sich neugierig rund um sie.<br />

„Geht weg!“, schreit sie ihnen mit einer drohenden Bewegung zu.<br />

Die Jungen zerstreuen sich, nur Mario bleibt noch. Sie nimmt ihn<br />

geheimnisvoll beim Arm und enthüllt ihm: „Ich habe ihm gesagt,<br />

du würdest zwei Zigaretten geben. So hat er mir die Fahrkarte<br />

überlassen - da, nimm sie!“<br />

Mario reißt sie ihr aus den Händen. Sein Gesicht macht eine<br />

Grimasse und er artikuliert nervös: „Er wollte meine Schuhe<br />

nicht. Die Krawatte ist neu, sie ist schön …“<br />

Während er spricht, lässt er die Fahrkarte in seine Tasche<br />

gleiten, und sagt nichts mehr. Dann macht er sich davon und<br />

seine hastigen Füße berühren den Boden kaum.<br />

Noch bevor er zu Hause ankommt, verlangsamt er den Schritt.<br />

Er wird niemandem auch nur ein Wort vom kleinen Kartonstück<br />

erzählen, das für ihn ein Schatz bedeutet. Seine Mutter würde<br />

Serafino davon erzählen und Serafino würde ihm diesen<br />

wegnehmen. Selbst Leonardo würde es riskieren, ihn zu verraten<br />

- ist es nicht wegen ihm, dass er sein Neues Testament nicht<br />

mehr besitzt?<br />

Niemand wird von seinem wertvollen Geheimnis erfahren,<br />

niemand. Und trotzdem ist gerade dies das Problem, dass er es<br />

niemandem sagen kann. Mario braucht nämlich Geld, um seinen<br />

67


Brief zu schicken … er braucht einen Umschlag und eine<br />

Briefmarke …<br />

Das Papier wird er finden, indem er von seinem Schulheft eine<br />

Seite herausreißt. Aber was soll er tun, um an Geld zu gelangen,<br />

ohne zu lügen und zu stehlen, wenn man arm ist? …<br />

Mario seufzt, er findet keine Lösung für dieses Problem. Eine<br />

andere Frage bleibt immer noch unerklärlich: Wo hat Roberto die<br />

Fotografie und die Zugfahrkarte bekommen?<br />

Es scheint ihm, dass all diese Sorgen in seinem Gehirn einen<br />

verrückten Tanz aufführen, der ihm den Atem raubt. Also verlässt<br />

er sie und versucht, sie zu vergessen. Ohne Eile geht er nach<br />

Hause zurück.<br />

Plötzlich ruft ihn jemand: „Mario! Mario!“<br />

Das Kind erschreckt, es hat Frau Gardalis Stimme erkannt. Mario<br />

hat sie seit seiner Rückkehr nach Bari nicht mehr gesehen …<br />

jeden Tag hat er es vermieden, ihr zu begegnen.<br />

Sein Gesicht zerknittert sich, seine Augen verstecken sich hinter<br />

den schlagenden Augenlidern. Er weiß sehr wohl, dass er Frau<br />

Gardali um Verzeihung bitten müsste, doch es ist viel leichter,<br />

solche Dinge schriftlich auszudrücken, als mit einer lebendigen<br />

Stimme.<br />

Er tut so, als würde er nichts hören, und setzt seinen Weg mit<br />

langsamem Schritt und unentschlossen fort.<br />

Der Ruf erklingt noch einmal: „Mario! Mario!“<br />

In diesem Augenblick hat er den Eindruck, dass sein großer<br />

Freund ihn auf dem Gehsteig anhält und ihn zur Rückkehr<br />

zwingt. Mario ist fast erstaunt darüber, dass er auf seinem Weg<br />

ganz natürlich zurückkehrt.<br />

Er nähert sich der Frau mit gesenktem Kopf; er fühlt, dass er<br />

überhaupt nicht stolz auf sich selbst sein kann. Sein<br />

68


Gesichtsausdruck erbittet Mitleid und Nachsicht.<br />

„Bist du von deiner Reise zurückgekehrt?“, fragt jetzt Frau<br />

Gardali, und dann fügt sie hinzu: „Du hast es wohl nicht<br />

geschafft, sie zu erreichen …“<br />

„Nein“, antwortet Mario mit gesenktem Blick zum Boden, „ich bin<br />

zu meiner Tante in Rom gegangen.“<br />

„Ist es dir bei uns nicht gut ergangen?“, fragt Frau Gardali mit<br />

harter Stimme, „weißt du, dass ich große Lust habe, deinem<br />

Vater zu sagen, wie du dich benommen hast?“<br />

Mario antwortet nichts.<br />

„Verstehst du mich?“, fragt sie weiter.<br />

Das Kind schüttelt den Kopf, sein Gesichtsausdruck ist<br />

verzweifelt.<br />

„Ich bedaure das sehr“, sagt er schließlich leise, „ich werde<br />

sowas nie mehr tun, ich verspreche es Ihnen. Wenn ich einmal<br />

groß bin und Geld habe, gebe ich Ihnen die Münzen zurück.“<br />

Frau Gardalis Augen leuchten. Sie legt eine Hand auf die<br />

Schulter des Kindes, lehnt sich gegen ihn und sagt: „Du bist brav,<br />

Mario. Serafino Balutti wird nichts erfahren.“<br />

Der Junge richtet sich auf, sein Ausdruck verändert sich. Ein<br />

breites Lächeln zeigt all seine Zähne.<br />

Frau Gardali drückt einen Kuss auf die Stirn, die sich vor ihr<br />

erhebt.<br />

„Du bist brav“, wiederholt sie und fügt dann hinzu: „Und was für<br />

ein hübscher Junge du bist!“<br />

Sie lacht und Marios Herz erwärmt sich; so geht er weg, da es<br />

ihm wieder leichter geworden ist.<br />

69


Mario trifft eine glückliche Wahl<br />

In den folgenden Tagen kehren Leonardo und Mario zum<br />

Bahnhof zurück, um ihre Süßigkeiten zu verkaufen, wie sie das<br />

schon vor der Abreise in die Schweiz gemacht haben.<br />

Seit seiner Rückkehr hat Serafino Balutti keine Arbeit mehr<br />

gefunden. Er spaziert auf den Straßen, er lebt auf den Plätzen<br />

und wartet auf diese Weise, dass die Stunden vorbeiziehen. Das<br />

von der Schweiz mitgebrachte Geld wird schnell aufgebraucht<br />

sein, also müssen die Kinder eben ihre Ware verkaufen.<br />

Jeden Abend, wenn er nach Hause zurückkehrt, hört Mario auf<br />

das Klimpern, das die Münzen in seiner Tasche verursachen …<br />

ein Stück oder sogar zwei, die er zufällig ganz unten in der<br />

Tasche lässt, wären genau das, was er braucht, um seinen Brief<br />

in die Schweiz an die Adresse zu schicken, die auf der<br />

Zugfahrkarte angegeben ist.<br />

Die Versuchung ist groß …<br />

Seiner Mutter könnte er leicht eine Lüge erzählen: Kommt es<br />

nicht häufig vor, dass ein Kunde sich verzählt, wenn er Rückgeld<br />

gibt? Und das Geld … das Geld, um den Brief zu schicken - das<br />

hätte Mario dann!<br />

Oh! Das Herz des Kindes schlägt, wenn es daran denkt. Hier,<br />

rund um ihn herum, seitdem er seine Erinnerungen speichern<br />

kann, hat Mario gesehen, wie alle lügen und stehlen. Wenn er<br />

das mit dem Ziel tut, eine gute Tat zu vollbringen … rechtfertigt<br />

das nicht völlig die Mittel, die er anwendet?<br />

Mario zögert … er zögert lange.<br />

Heute, auf dem Rückweg nach Hause, geht Leonardo<br />

schweigend neben seinem Bruder. Seitdem er sich für den<br />

Verlust des Neuen Testaments verantwortlich fühlt, lähmt ihn<br />

70


eine Beschämung, die ihn von Mario entfernt. Er sieht sehr wohl,<br />

dass sein älterer Bruder nicht mehr der Gleiche ist; er verbirgt<br />

etwas hinter seinen schwarzen Augen. Leo errät, dass ein<br />

Geheimnis sie trennt und Mario deshalb nicht alles sagt: Er<br />

spricht nicht mehr, er folgt auf dem Weg mit abwesendem Blick.<br />

Mario denkt nach, gerade deshalb sagt er nichts ... plötzlich<br />

wendet er seine Augen vom staubigen Gehsteig weg. Er hebt<br />

den Kopf und sieht den Himmel, der immer noch wunderbar blau<br />

ist, obwohl es schon bald Nacht wird.<br />

Was für ein Gegensatz zwischen diesem blauen Himmel und<br />

dieser grauen Erde, auf der man die Phantome der Trauer, der<br />

Angst … und auch der Entmutigung herumtreiben sieht! Mario<br />

fühlt all dies in seiner Kinderseele, in seinem sensiblen Herzen<br />

des kleinen Süditalieners … er würde gern das schwere Gewicht<br />

heben, das ihn niederdrückt und verschwinden lässt. Er kann es<br />

nicht … nein, das Leben verläuft zu elend und zu schwer. In<br />

dieser großen Stadt umgibt sich alles mit schwarzen Bereichen,<br />

während im Himmel oben der Bereich aus Gold ist …<br />

Der Junge seufzt tief … er trifft jetzt seine Wahl: Er zieht das<br />

Blaue des Himmels dem Staub der Erde vor … er dreht seinen<br />

Blick zur Seite, von der er weiß, dass er dort Gott und seinen<br />

großen Freund Jesus Christus treffen wird.<br />

Und Mario versteht eine Sache: Wenn er vom Glück leben will,<br />

das Jesus Christus gibt, darf er weder lügen noch stehlen. Er hat<br />

im kleinen Buch gelesen, dass in den Himmel, in die ewige Stadt<br />

Gottes, keine Lügner eintreten werden. Ein Vers kehrt in sein<br />

Gedächtnis zurück: „Wenn jemand das Leben lieben und die<br />

glücklichen Tage sehen will, bewahre er seine Zunge vom Übel<br />

und seine Lippen von irreführenden Worten, und er entferne sich<br />

vom Übel und tue Gutes!“ (1. Petrus 3, 10-11)<br />

Er zögert nicht mehr und denkt nicht mehr nach. Mit<br />

entschlossenem und zufriedenem Gesichtsausdruck kehrt er<br />

71


nach Hause zurück: Dort leert er den ganzen Inhalt seiner<br />

Tasche auf dem Tisch aus. Mario wird kein Lügner und kein Dieb<br />

mehr sein.<br />

Am nächsten Morgen entscheidet er, allein zu den Kais zu<br />

gehen, um bei der Suche nach Arbeit ein paar Münzen zu<br />

verdienen, die nur für ihn sein werden.<br />

Er sieht einen jungen Mann, der einen mit großen Säcken<br />

gefüllten Karren zieht, und er beeilt sich, um ihn zu erreichen.<br />

Ohne etwas zu sagen, stößt er hinter dem Wagen mit. Der Mann<br />

dreht sich um; er sieht Mario und schenkt ihm ein breites<br />

Lächeln. Er setzt seinen Weg fort und das Kind folgt ihm, indem<br />

es ihm mit all seinen Kräften hilft, diese schwere Ladung<br />

fortzubewegen, bis sie vor einem großen Industriegebäude<br />

ankommen.<br />

Ein Tor öffnet sich und es erscheinen andere Arbeiter, um Säcke<br />

zu transportieren. Niemand achtet auf den kleinen Jungen, der<br />

hier wartet, und Mario geht langsam und enttäuscht weg. Müde<br />

betritt er einen öffentlichen Garten, er setzt sich auf eine Bank<br />

aus Eisen und bleibt dort unbeweglich.<br />

Einen Augenblick später setzen sich ein Herr und eine Dame<br />

nahe bei ihm. Sie tragen beide schwere Koffer.<br />

Ausländer, sagt sich Mario. Ich werde ihnen helfen und sie<br />

werden mir Münzen geben.<br />

Im gleichen Moment, als die Leute aufstehen, macht der Junge<br />

das Gleiche. Er will einen der Koffer ergreifen. Die Dame hindert<br />

ihn daran und sagt lachend: „Zu schwer für dich!“<br />

Mario will darauf bestehen, der Herr wird ungeduldig und sagt<br />

seiner Frau: „Lass ihn! Sie sind alle gleich, sie kleben an uns …<br />

beeilen wir uns, wir verpassen noch den Zug!“<br />

Sie gehen weg, ohne noch einmal zurückzukehren. Eine<br />

Mattigkeit überwältigt Mario. Er bleibt einen Moment, ohne sich<br />

72


zu bewegen, und geht dann weg - verärgert über sich selbst und<br />

mit gesenktem Blick.<br />

Plötzlich stößt sein nackter Fuß an etwas Metallisches. Er hält an<br />

und bückt sich. Mario hat wirklich Mühe, zu glauben, dass er<br />

nicht träumt …<br />

Ist es wirklich wahr?<br />

Dieses Stück, das er hier sieht … das ist Geld - Geld, das ihm<br />

helfen wird, einen Brief an Lilians Eltern zu schicken!<br />

Marios Augen leuchten vor Glück. Er hebt die Münze auf und<br />

schaut sie gut an: Es sind hundert Lire, ein Vermögen für ihn.<br />

Noch am gleichen Tag schickt er seinen Brief an die Adresse<br />

des kleinen Orts in der Schweiz, der auf der Zugfahrkarte<br />

angegeben ist. Und er wartet vertrauensvoll …<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

Eine Woche verstreicht, dann vergehen zwei Wochen. Jeden<br />

Tag schaut er darauf, dass er den Briefträger trifft. Er will nicht,<br />

dass eine allfällige Antwort in die Hände von Serafino Balutti<br />

gelangt. Geduldig wartet er weiter …<br />

Eines Tages schaut er im Bahnhof von Bari auf die Reisenden,<br />

die von den Bahnsteigen kommen und die Halle betreten. Jetzt<br />

trägt gerade Leo die Schachtel mit den Süßigkeiten; er belästigt<br />

die vorbeigehenden Leute, er dringt auf sie ein und bittet …<br />

Plötzlich wird Mario bleich; seine Augen öffnen sich weit und er<br />

fühlt sich unfähig, irgendeine Bewegung zu machen. Sein Herz<br />

hüpft - wird es nicht gleich hochspringen?<br />

Mario atmet tief und richtet einen festen Blick auf drei Personen,<br />

die näherkommen.<br />

Man hat ihn erkannt - schön hört er: „Mario! Mario!“<br />

Das Kind springt auf, es wendet sich Leo zu.<br />

73


„Das sind Herr und Frau Grangier und Lilian!“, sagt er zu ihm,<br />

während sein Gesicht vor Freude strahlt.<br />

Er sagt nichts mehr; er geht spontan auf die drei zu und hängt<br />

sich an den Hals von Frau Grangier, die sich nach vorn beugt.<br />

Sie hält ihn hoch und drückt ihn an sich, und er gibt ihr zwei<br />

Küsse auf beide Wangen.<br />

Die junge Frau, die mit ihren erst vierzig Jahren ja noch nicht alt<br />

ist, fühlt die Emotionen sie überwältigen.<br />

„Wir haben deinen Brief nicht beantworten können“, sagt sie<br />

dann laut.<br />

„Du hast deine Adresse nicht angegeben“, fügt Lilian lachend<br />

hinzu.<br />

„Deshalb sind wir gekommen, um dich nicht zu enttäuschen“,<br />

setzt Herr Grangier fort.<br />

„Das ist wahr“, entgegnet Mario, „ihr habt sie nicht gewusst und<br />

ich habe vergessen, sie anzugeben.“<br />

Frau Grangier sagt erstaunt: „Du hast die unsere gekannt? … Ich<br />

begreife nicht, wie du dich herumgeschlagen hast, bis du es<br />

geschafft hast, um herauszufinden, wo wir wohnen.“<br />

„Das ist ein Geheimnis“, entgegnet Mario, „ein Geheimnis mit der<br />

Zugfahrkarte und der Fotografie …“<br />

Alle staunen.<br />

„Ein Geheimnis?“, wiederholt Herr Grangier.<br />

Doch Mario will für den Moment nicht mehr sagen. Leo steht nur<br />

wenige Schritte daneben, er kann alles hören.<br />

Vorsichtig dreht er sich zu seinem jüngeren Bruder um und sagt:<br />

„Das ist Leonardo, mein Bruder. Er hat ein ganzes Jahr lang in<br />

der Schweiz gelebt, doch er hat euch nie getroffen.“<br />

Alle lachen.<br />

74


„Schade!“, sagt darauf Lilian. „Wir müssen langsam weg von<br />

hier“, schlägt Herr Grangier vor, „während ihr noch schwatzt,<br />

gehe ich ins Auskunftsbüro, um die Adresse eines Hotels zu<br />

bekommen.“<br />

Er entfernt sich und die beiden reisenden Frauen gehen begleitet<br />

von den zwei kleinen Italienern zum Bahnhofplatz.<br />

„Wir waren sicher, dass wir dich am Bahnhof finden werden“,<br />

sagt Lilian.<br />

Mario lacht spitzbübisch und fragt: „Und wenn ich heute nicht<br />

gekommen wäre?“<br />

„Dann wären wir in die Altstadt gegangen, dort hätten wir dich<br />

gesucht.“<br />

„Wir reisen dieses Jahr nicht mit dem Auto“, erklärt Frau<br />

Grangier, „wir hatten nicht die Absicht, bis ganz in den Süden zu<br />

fahren … dein Brief ist drei Tage vor unserer Abreise<br />

angekommen. Er hat uns zur Entscheidung geführt, ein paar<br />

Tage hier zu verbringen. Morgen reisen wir wieder ab.“<br />

„Oh, Mario!“, spricht dann das Mädchen weiter, „in Rom haben<br />

wir dich gesucht und gesucht … stundenlang. Wir haben nie<br />

gedacht, dass du dich davongemacht hast. Wir haben geglaubt,<br />

wir hätten dich verloren … und wir waren untröstlich. Wir haben<br />

oft an dich gedacht, aber es war unmöglich, deine Spur zu<br />

finden.“<br />

„Als dein Brief uns erreicht hat, waren wir aber glücklich“, fügt<br />

ihre Mutter hinzu, „und was uns ebenfalls mit Freude erfüllt hat,<br />

war deine Nachricht, dass du das Neue Testament gelesen hast<br />

und jetzt weißt, dass Jesus dein Freund und dein Erlöser<br />

geworden ist.“<br />

Da wagt es Leo, auch etwas zu sagen: „Mein Vater hat uns das<br />

Neue Testament weggenommen. Er liebt das nicht, er ist Mario<br />

immer noch bös.“<br />

75


„Ich weiß“, antwortet Frau Grangier, „aber ich habe eines<br />

mitgebracht. Achtung, Mario! Diesmal wirst du es gut<br />

verstecken.“<br />

Herr Grangier kommt zurück, er scheint zufrieden zu sein. Er<br />

besitzt eine gute Adresse und zeigt den Prospekt, den man ihm<br />

gegeben hat.<br />

„Ich kenne dieses Hotel“, sagt Mario, „ich werde euch hinführen.“<br />

„Und ich?“, fragt Leo, der sich wünscht, ebenfalls<br />

dazuzugehören, „was wird mit meiner Schachtel voller<br />

Süßigkeiten?“<br />

„Du musst nach Hause zurückkehren“, schlägt der ältere Bruder<br />

vor, „ohne diesen wird dein Vater ausrufen.“<br />

Dann fügt er lachend hinzu: „Ich werde sowieso eine Ohrfeige<br />

bekommen, wenn ich zurückkehre … eine mehr, das ist nicht<br />

schwerwiegend!“<br />

Er schüttelt mit glücklichem Gesichtsausdruck die Schultern.<br />

„Aber wenn wir mit dir kommen, wird dein Vater das nicht<br />

wagen“, meint Lilian.<br />

Das Kind unterbricht: „Serafino Balutti kennt euch nicht, er liebt<br />

die Ausländer nicht. Er misstraut ihnen immer …“<br />

„Ich glaube, Mario hat Recht“, sagt dann Frau Grangier, „wir<br />

wollen nichts überstürzen. Wir gehen dieses Jahr nicht dorthin.“<br />

„Oh! Morgen früh, wenn der Vater ausgegangen ist, wird es<br />

Mamma ein Vergnügen sein, euch zu sehen.“<br />

„Morgen früh müssen wir aber abreisen“, entgegnet Herr<br />

Grangier, „also ist das unmöglich, Mario.“<br />

Das Kind seufzt, schaut zu Leo hinüber und sagt: „Sag also zu<br />

Hause nichts!“<br />

76


Das Geheimnis lüftet sich<br />

Leonardo geht weg und nimmt dabei die Schachtel voller<br />

Süßigkeiten mit. Mario seinerseits bringt die Reisenden über die<br />

Straßen bis zum Hotel. Dort führt man sie in ein schönes und<br />

geräumiges Zimmer im zweiten Stockwerk.<br />

Müde setzen sie sich für einen Moment und die brennende Frage<br />

kommt ganz natürlich auf: „Mario, wirst du uns sagen, wie du<br />

unsere Adresse erfahren hast? Was ist das Geheimnis, von dem<br />

du gesprochen hast?“<br />

„Aber … es ist das Geheimnis der Zugfahrkarte und der<br />

Fotografie beim Trullo“, antwortet Mario.<br />

„Die Fotografie beim Trullo?“, wiederholt Lilian, „ich verstehe<br />

nicht.“<br />

„Ich habe sie gesehen … und mein Vater hat ausgerufen. Er war<br />

unzufrieden darüber, dass ich mich habe fotografieren lassen.“<br />

„Du hast sie gesehen?“, fragt Lilian auf dem Gipfel des<br />

Erstaunens weiter, „wo und wie?“<br />

„Ja, ich habe sie gesehen … mein Vater hat sie aufbewahrt; ich<br />

weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat. Die Fahrkarte kann ich<br />

aber zeigen …“<br />

Sehr stolz und sehr glücklich zieht Mario aus seiner Tasche den<br />

kleinen Karton.<br />

Herr Grangier nimmt ihn lebhaft an sich.<br />

„Eine schweizerische Zugfahrkarte, Télévenaz-Lausanne et<br />

retour“, sagt er staunend und fragt dann: „Wer hat sie dir<br />

besorgt? Etwa dein Vater?“<br />

„Nein - es war Roberto Bonno, ein großer Junge. Er ist vor<br />

kurzem von der Schweiz zurückgekehrt. Ich habe geglaubt, ihr<br />

77


seid es gewesen, die ihm die Fotografie für mich gegeben habt.<br />

Das ist aber nicht wahr, er kennt euch gar nicht.“<br />

„Wir auch nicht“, entgegnet Herr Grangier verblüfft, „aber … wer<br />

hat ihm denn die Fahrkarte gegeben?“<br />

Mario hebt seine Schultern und antwortet einfach: „Ich weiß es<br />

nicht.“<br />

Alle schauen einander verwirrt an.<br />

„Tatsächlich, wenn du von einem Geheimnis redest, übertreibst<br />

du nicht“, bemerkt Frau Grangier, „es ist ein Rätsel.“<br />

Lilians Vater überlegt: „Schauen wir nochmals zurück! Denken<br />

wir nach! Diese Fahrkarte …“<br />

„Roberto Bonno hat mir gesagt, ihr müsst wohl in Télévenaz<br />

wohnen“, sagt Mario dazwischen, „weil sie ja ‚retour‘ angibt.“<br />

„Tatsächlich!“, ruft jetzt Lilian, „aber was hat ihn schließlich dazu<br />

veranlasst, zu vermuten, dass wir es sind, wenn er dir schon<br />

versichert hat, dass er uns nie gesehen hat?“<br />

Mario scheint verlegen zu sein; seine Augen strahlen und er sagt<br />

lachend: „Das ist es gerade … das ist das Geheimnis.“<br />

Der amüsierte Gesichtsausdruck des Kindes erwärmt die drei<br />

und Lilian bricht in Lachen aus: „Das kannst du so sagen.“<br />

„Ich denke“, meint dann wieder Mario, „es ist wegen dem Foto.<br />

Als ich Roberto sah, fragte ich ihn, ob er mir die Adresse der<br />

Leute angeben könne, die ihm das Foto gegeben haben … da<br />

hat er mir die Fahrkarte gezeigt.“<br />

Lilian springt auf, die Überraschung kann auf ihrem Gesicht<br />

gelesen werden.<br />

„Die Fotografie des Trullo!“, sagt sie laut, „jetzt erinnere ich mich<br />

wieder daran, wann ich sie verloren habe! Ja, tatsächlich, zur<br />

gleichen Zeit wie meine Fahrkarte!“<br />

78


Herr Grangier schlägt kräftig in seine Faust. Er wirft einen Blick<br />

auf seine Tochter - sie verstehen sich, sie haben es erraten. Das<br />

Mädchen legt eine Hand auf den Arm ihrer Mutter und fragt sie:<br />

„Mama, erinnerst du dich noch an unsere Rückfahrt, an jenen<br />

Abend? … nach einem Einkaufstag in der Stadt? … wir waren<br />

mit dem Zug gefahren, weil das Auto ein paar Tage lang in der<br />

Garage bleiben musste.“<br />

Herr Grangier richtet sich erstaunt auf.<br />

„Du willst etwa reden vom …“<br />

„Ja, vom Verlust meines Portemonnaies … es enthielt das Foto,<br />

meine Zugfahrkarte und zehn Franken!“<br />

Alle drei schauen sich nickend an, das Geheimnis zerstreut sich.<br />

Nur Mario versteht nichts - warum diese überraschten und<br />

gleichzeitig auch übereinstimmenden Gesichter?<br />

Er wagt es nicht, das zu fragen, und trotzdem würde er es gern<br />

wissen … als Frau Grangier seine fragenden Augen sieht, sagt<br />

sie zu ihm: „Wir werden es dir erzählen … aber du wirst diese<br />

Geschichte für dich behalten und niemandem erzählen. Das wird<br />

ein Geheimnis bleiben, nicht wahr?“<br />

Mario schüttelt den Kopf energisch; er ist völlig damit<br />

einverstanden, was man von ihm erbittet.<br />

Herr Grangier steht auf.<br />

„Seid ihr nicht zu müde? Ich schlage vor, wir gehen für einen<br />

Moment auf dem Kai spazieren, noch vor dem Abend. Nachher<br />

muss Mario nach Hause zurückkehren. Wir müssen es<br />

ausnützen, solange wir noch zusammen sind, und zum Meer<br />

gehen.“<br />

Alle sind mit diesem Vorschlag zufrieden.<br />

Bevor sie aufbrechen, zieht Herr Grangier aus seinem Koffer ein<br />

79


hübsches Neues Testament.<br />

„Da hast du es“, sagt er dann zu Mario, „um das zu ersetzen, das<br />

dein Vater dir weggenommen hat. Und wenn du in die Schweiz<br />

kommst, gebe ich dir eine vollständige Bibel. Du wirst jetzt sehen,<br />

dass das Neue Testament nur einen kleinen Teil der heiligen<br />

Schriften ausmacht, aber es ist ein sehr wichtiger Teil.“<br />

„Wenn ich in die Schweiz gehe …“, entgegnet Mario seufzend.<br />

Er beendet den Satz nicht; alle verstehen, was er sagen will.<br />

„Mario, verzweifle nicht!“, ermuntert ihn jetzt Lilian.<br />

„Der Tag wird kommen“, fügt Herr Grangier hinzu, „wir beten zu<br />

Gott für deinen Vater und deine Mutter ein ganzes Jahr lang. Und<br />

nach diesen zwölf Monaten kommen wir zurück.“<br />

„Wir nehmen dich dann in die Schweiz mit“, setzt Frau Grangier<br />

in ermunterndem Ton fort, „du wirst deine schöne Reise machen<br />

und mit uns während deinen Ferien bleiben. Wir finden nachher<br />

sicher jemanden, der dich nachher nach Italien zurückbringt.“<br />

Mario scheint nicht überzeugt zu sein.<br />

„Mein Vater wird mich nicht abreisen lassen … ich wäre dann<br />

nicht mehr hier, um die Süßigkeiten zu verkaufen und Geld zu<br />

verdienen.“<br />

Da nimmt Frau Grangier ihn bei der Hand und sagt: „Wir werden<br />

beten - Gott wird uns helfen.“<br />

„Glaubt ihr?“<br />

„Aber sicher“, antwortet Lilian, „wir dürfen nicht zweifeln.“<br />

„Und jetzt gehen wir!“, sagt dann Herr Grangier.<br />

Nachdem sie ein erfrischendes Getränk zu sich genommen<br />

haben, gehen sie auf den heißen Straßen weiter.<br />

„Ich führe euch bis zum Lungomare“, sagt Mario, der auf seine<br />

Rolle als Reiseführer stolz ist.<br />

80


„Bis zum Lungomare?“, wiederholt Lilian.<br />

„Ja, die Promenade am Meeresufer, am Ufer des Adriatischen<br />

Meeres. Ihr werdet sehen … man hat dort wunderbare Häuser<br />

gebaut - ganz moderne, schöne und große, wie Paläste. Sie<br />

gleichen nicht denen in meinem Bezirk.“<br />

„Wohnst du weit von hier?“, fragt Frau Grangier.<br />

„Oh nein!“, antwortet Mario ausweichend, „wenn wir dem Kai<br />

entlanggehen, kommen wir schnell dort an. Es ist dort unten in<br />

der Altstadt … Nichts als hässliche Häuser und enge Straßen.“<br />

Sie erreichen den Kai.<br />

„Das Meer!“, ruft Lilian.<br />

„Was für ein Panorama!“, ergänzt Frau Grangier.<br />

„Mario“, sagt dann der Vater des Mädchens, „dein Land gefällt<br />

mir.“<br />

Die Augen des Kindes leuchten, die Sonne widerspiegelt sich in<br />

ihnen. Was für ein Augenblick des Glücks! Mario wird sich sein<br />

ganzes Leben daran erinnern.<br />

Und der Spaziergang geht noch weiter …<br />

Frau Grangier wendet sich ihrer Tochter zu und sagt zu ihr: „Wie<br />

wäre es, wenn du die Geschichte mit dem Portemonnaie<br />

erzählen würdest? Ich bin sicher, dass Mario ungeduldig ist, sie<br />

zu kennen.“<br />

Das Kind dreht den Kopf zu Lilian, sein Gesichtsausdruck<br />

überzeugt sie. Mario sagt ganz einfach nur „Ja“.<br />

Wie mit Bedauern fügt er hinzu: „Nachher wird es kein Geheimnis<br />

mehr gehen ...“<br />

„Nein, es wird kein Geheimnis mehr geben“, wiederholt Lilian<br />

lachend, „das ist schade! Trotzdem ist es besser, es zu wissen<br />

… ich werde dir kurz erzählen, was geschehen ist: Eines Tages<br />

81


sind wir alle drei im Zug nach Lausanne gereist. Ich warne dich:<br />

Die Reise war nicht lang! Wir leben in einem sehr kleinen Land;<br />

die Distanzen gleichen nicht denen in Italien.“<br />

„Ja“, bestätigt Mario mit einem Nicken, „hier werdet ihr auch<br />

große Dörfer bei Bari sehen. Ich denke, das ist so, als ob ihr nach<br />

Gioia oder Castellana gegangen wäret.“<br />

„Oh, nicht so weit! Also weiter in Kurzform: Es genügt, wenn du<br />

weißt, dass wir in der nächstgelegenen Stadt Einkäufe machen<br />

wollten. Ich hatte Lust, hübsche Dinge zu kaufen. Also weißt du,<br />

was man bei diesen Bedingungen tut: Man steckt Geld ins<br />

Portemonnaie. Das ist in allen Ländern gleich.“<br />

Mario schüttelt den Kopf und zeigt ein breites Lächeln auf seinen<br />

Lippen, dann sagt er: „Ja, aber um Geld ins Portemonnaie zu<br />

stecken, muss man es zuerst haben - es sei denn, man findet es<br />

auf dem Boden.“<br />

Lilian bricht in Lachen aus und fragt: „Denkst du, das wächst<br />

manchmal auf dem Kopfsteinpflaster?“<br />

„Ja, manchmal“, antwortet Mario träumerisch, „wenn Gott ein<br />

armes Kind sieht … das gern einen Brief in die Schweiz schicken<br />

würde, ohne zu lügen und zu stehlen …“<br />

„Was sagst du da?“, unterbricht Herr Grangier.<br />

Mario sagt jubelnd: „Also dann! … ich erzähle es euch …“<br />

Dann erzählt er mit loser Zunge vom Fund, der ihm erlaubt hat,<br />

eine Briefmarke und einen Umschlag zu kaufen.<br />

„Wunderbar!“, ruft Herr Grangier mit deutlich hörbarer Emotion.<br />

„Unsere Geschichte scheint mir da weniger schön zu sein“,<br />

bemerkt dann Lilian, „ich mache also weiter: Meine Eltern<br />

machten so viele Einkäufe, bis sie mitten am Tag entdeckten,<br />

dass ihnen kein Geld mehr geblieben war, um etwas zu essen.<br />

Wir waren müde und hatten Hunger. Da ich selber nicht<br />

82


gefunden hatte, was ich mir wünschte, schlief das Geld, das ich<br />

in mein Portemonnaie gesteckt hatte, immer noch dort drinnen.<br />

Darum habe ich meiner Mutter den Inhalt meines Geldbeutels<br />

angeboten, damit wir in ein Restaurant eintreten konnten.“<br />

Die drei Touristen schauen einander lachend an - diese<br />

Erinnerung amüsiert sie.<br />

„Du hast wohl ein bisschen befürchtet, du würdest mittellos<br />

dastehen“, bemerkt Frau Grangier, „aber du hast das trotzdem<br />

spontan getan.“<br />

„Ich habe es nicht bedauert“, sagt Lilian darauf.<br />

Ein feines Lächeln gleitet über ihr Gesicht, dann spricht sie<br />

weiter: „Nachdem ich es geleert hatte, legte ich mein<br />

Portemonnaie wieder in meine Tasche; es enthielt nur noch<br />

meine Zugfahrkarte und zehn Franken. Die Fotografie von Mario<br />

befand sich in der äußeren Tasche. Als wir zum Bahnhof gingen,<br />

wurde es Nacht. Man konnte auf den Bahnsteigen viel Leben<br />

bemerken. Der Wartesaal der zweiten Klasse war voll von<br />

Italienern und Gepäck. Man hörte die Schreie - es passierte<br />

etwas, da war ein Streit. Die Atmosphäre kam einem schwer vor.<br />

Vom Lärm angezogen haben wir uns genähert. Wir mussten uns<br />

einen Weg durch die Menge erkämpfen, bevor wir zum<br />

Bahnsteig gelangten, wo unser Zug wartete.“<br />

„Die Polizei hat zwar alles überwacht“, sagt Herr Grangier<br />

dazwischen.<br />

„Ja, die Polizei hat zwar alles überwacht, aber sie konnte nicht<br />

alles sehen. Als ich dann im Zug war, wollte ich meine Fahrkarte<br />

herausziehen … aber da war kein Portemonnaie mehr! Meine<br />

Handtasche hatte die Form eines offenen Schiffes - so war es<br />

leicht, eine Hand hineinzubringen.“<br />

Mario scheint bestürzt zu sein und fragt: „Hat man es gestohlen?“<br />

„Aber sicher …“<br />

83


Jetzt mischt sich wieder Herr Grangier ein: „Mario, pass auf! Du<br />

wirst deinem Kameraden nichts davon erzählen, dieses<br />

Geheimnis bleibt unter uns.“<br />

Das Kind reagiert sofort: „Nein, nein … ich werde nichts sagen.“<br />

Dann fügt er nachdenklich hinzu: „Ich verstehe … darum hat<br />

Roberto euch nicht gekannt … es ist sein Vater, der das getan<br />

hat.“<br />

„Sei nicht traurig, Mario!“, beruhigt ihn Lilian, „der Geldbeutel war<br />

schon alt und fast leer - ein guter Vorwand, um einen anderen zu<br />

kaufen.“<br />

„Und die Fahrkarte - die habe ich!“<br />

„Behalte sie als Erinnerungsstück! Ich musste für meine Zugfahrt<br />

kein zweites Mal bezahlen. Der Schaffner hat uns<br />

liebenswürdigerweise verstanden. Wir haben ihn an unserem<br />

Missgeschick teilhaben lassen, er schien nicht überrascht zu<br />

sein. Ich habe den Eindruck, dass wir an diesem Tag nicht die<br />

Einzigen waren, die in diesem Bahnhof voller Leute einen<br />

solchen Schaden erlitten.“<br />

„Für uns hat sich dieser Verlust aber in einen Gewinn<br />

verwandelt“, bemerkt Frau Grangier, „weil er uns erlaubte, dass<br />

wir uns wieder gefunden haben.“<br />

„Und Mario, weißt du“, sagt dann noch Herr Grangier, „dieses<br />

Abenteuer hat uns gelehrt, eine große Lektion zu verstehen.“<br />

Das Kind öffnet seine Augen sowohl erstaunt als auch mit einem<br />

Lächeln: Also ein neues Geheimnis!<br />

„Du scheinst überrascht zu sein“, sagt Herr Grangier weiter,<br />

„wenn Lilian nicht hätte teilen und uns Geld anbieten wollen,<br />

damit wir essen konnten, hätte sie es verloren; man hätte es ihr<br />

zusammen mit dem Portemonnaie gestohlen und wir wären<br />

hungrig heimgekehrt … indem sie es hingenommen hat, ihre<br />

Tasche für die anderen zu leeren, hat sie sich bereichert. Sie hat<br />

84


die Summe wieder gefunden: Zu Hause hat ihre Mutter ihr das<br />

geliehene Geld zurückgegeben ...“<br />

Da mischt sich Frau Grangier ein und sagt ihrem Mann: „Die<br />

Lektion wendet sich nicht an Mario. Es ist für ihn noch zu<br />

schwierig, um den Sinn darin zu erkennen. Sie wendet sich viel<br />

mehr an all jene, die das Leben ausfüllt, die für sich das Beste<br />

aufbewahren und sich mit Schätzen anhäufen … oh, ich spreche<br />

nicht nur vom Geld! Ich denke an diesen Vers: ‚Wer sein Leben<br />

erhalten will, wird es verlieren, aber wer es um meinetwillen<br />

verliert, wird es wiederfinden.‘ (Matthäus 10, 39). Weil viele Leute<br />

befürchten, sie würden ihre Güter und ihr bequemes und leichtes<br />

Leben verlieren, stirbt eine große Zahl von ihnen ausgehungert<br />

… und Satan, der Dieb und Lügner, profitiert davon, um sich ihrer<br />

zu bemächtigen und alles zu nehmen, was nicht für ihn bestimmt<br />

war.“<br />

Dieser letzte Satz hinterlässt im Herzen von allen einen tiefen<br />

Eindruck.<br />

Während sie weitergehen, nähern sie sich der Altstadt. Mario<br />

hebt die Hand nach einer Richtung und sagt: „Dort unten, ganz<br />

am Ende dieser Strauße, ist das Haus, wo ich wohne …“<br />

Da ruft Lilian: „Mario! Du hast uns deine Adresse noch nicht<br />

gegeben! Wir wollen dir schreiben!“<br />

„Hier, schreib sie in dieses Notizbuch!“, sagt dann Herr Grangier<br />

und fügt lachend hinzu: „Die unsere kennst du ja schon.“<br />

„Und hier hast du noch ein kleines Paket, das du öffnen wirst,<br />

wenn du zu Hause bist“, ergänzt Frau Grangier, „es ist Schweizer<br />

Schokolade! Wenn du deinem Vater davon anbietest, wird er<br />

vielleicht denken, dass diese Ausländer nicht so abscheulich<br />

sind.“<br />

Marios Brust schwillt an, er ist tief bewegt.<br />

Unter dem schönen Himmel Italiens nehmen sie alle wahr, dass<br />

85


Gott hier ist, dass er sieht, dass er sie segnet …<br />

„Ich werde für euch zu Gott beten“, sagt Mario wie in einem Echo.<br />

Sein Gesicht wird bleich und erbleicht noch mehr, seine Augen<br />

sind von Angst gefärbt.<br />

„Wir werden zurückkommen, Mario“, verspricht dann Herr<br />

Grangier, „im nächsten Jahr nehmen wir dich in die Schweiz mit<br />

…“<br />

Jetzt lächelt Mario wieder - und sein Lächeln lässt all seine<br />

Zähne erscheinen.<br />

„Du musst jetzt nach Hause zurückkehren“, sagt dann Herr<br />

Grangier mit Mühe, „du siehst ja, die Nacht kommt schon bald.“<br />

„Ja“, sagt das Kind, ohne sich zu beeilen.<br />

Frau Grangier beugt sich über ihn, zieht an sich und drückt ihm<br />

heiße Küsse auf die Wangen, und dann sagt sie: „Schreib uns<br />

bald!“<br />

Darauf nähert sich Lilian: „Mario! Ich habe fast vergessen, dir die<br />

Fotografien mit dem Trullo zu geben. Und da ist auch noch ein<br />

Portemonnaie mit etwas drin. Du weißt ja, man findet nicht immer<br />

Münzen auf dem Weg, um Briefe in die Schweiz zu schicken …“<br />

Marios Blick leuchtet.<br />

„Danke“, sagt er aus tiefstem Herzen.<br />

Er weiß, dass er jetzt weggehen und nach Hause zurückkehren<br />

sollte, aber seine Füße wollen sich nicht bewegen … sie bleiben<br />

am Boden angeklebt.<br />

„Du wirst weiterfahren, dein Neues Testament zu lesen“, sagt<br />

dann Herr Grangier, „du wirst die Geschichten Leo erzählen. Du<br />

wirst darüber mit deiner Mutter und später vielleicht auch noch<br />

mit deinem Vater sprechen. Du wirst hier, in dieser kleinen Stadt,<br />

86


ein kleines Licht sein. Wir reisen ab, aber Jesus, dein großer<br />

Freund, bleibt immer bei dir.“<br />

Mario erhebt seinen Blick gegen den Himmel; ja, sein großer<br />

Freund bleibt bei ihm.<br />

„Auf Wiedersehen“, sagt er dann, „bis zum nächsten Jahr.“<br />

Das Kind geht weg und die drei Reisenden sehen, wie er sich<br />

entfernt. Bevor er die enge Straße erreicht, dreht er sich noch<br />

einmal um, winkt mit einer Hand und ruft noch einmal: „Auf<br />

Wiedersehen!“<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

Noch bevor er am Abend einschläft, lässt Mario in seinem Geist<br />

noch einmal alle Einzelheiten dieses schönen Tages an sich<br />

vorüberziehen. Er erinnert sich nicht mehr an die Ohrfeige, die er<br />

bekam, als er nach Hause zurückgekehrt war, und auch nicht<br />

mehr an die bösen Worte von Serafino Balutti.<br />

Was er vor sich sieht, als er die Augen schließt, sind die<br />

lächelnden Gesichter seiner Freunde. Unter der Matratze hat ein<br />

kleines und ganz neues Buch den Platz des vorherigen<br />

eingenommen. Dieses wird er jeden Tag in die Tasche seiner<br />

Hosen stecken - niemand wird es ihm wegnehmen.<br />

Er hört noch Herr Grangiers Stimme: „Im nächsten Jahr kommen<br />

wir dich holen, wir nehmen dich in die Schweiz mit, du wirst die<br />

schöne Reise machen …“<br />

Und Mario flüchtet in den Schlaf; die Träume nehmen ihn bis<br />

jenseits der Grenze mit, gegen ein kleines Land, wo es - wie man<br />

ihm gesagt hat - nur Berge und Gletscher gibt, und wohin trotz<br />

allem viele Leute gehen, weil man dort gut lebt, wie es scheint …<br />

Ende<br />

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