MEDIAkompakt Ausgabe 35

01/ 2024
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Samira Voss hat sich oft gewundert,
warum sie sich trotz
festen Willens nicht gut konzentrieren
kann und Dinge gerne
auf den letzten Drücker erledigt.
Doch mit 20 Jahren findet
sie ihr fehlendes Puzzleteil
und bekommt die Diagnose
ADHS.
VON LEONIE NELE GANN
Bild: Unsplash
Popcorn
im Kopf
Der erste Verdacht kam Samira Voss*
durch eine Freundin, die ADHS hat
und zu der sie viele Parallelen entdeckt
hat. Beide können sich ihre
Zeit nicht gut einteilen: „Wenn wir
uns treffen, ist eine von uns immer zu spät. Oder
Liv sagt, ich fahre in zehn Minuten los, und ich
weiß, sie fährt erst in einer Stunde los.“ Zudem
fühlt sie sich häufig von Impulsen geleitet. Kürzlich
habe sie auf dem Flohmarkt spontan zehn Bücher
gekauft, ohne einmal an die vierstündige
Zugfahrt zu denken, auf die sie die Bücher anschließend
mitschleppen musste.
Mit 16 Jahren begibt sich die Stuttgarterin aufgrund
von Depressionen in Therapie. Beim Vergleich
mit ihren Mischüler:innen fiel ihr auf, dass
diese im Unterricht viel fokussierter seien als sie.
Sie habe sich zum Beispiel überlegt, wie sie das
Klassenzimmer einrichten würde, während die
anderen konzentriert in eine Aufgabe vertieft gewesen
waren. Ihr Selbstwertgefühl hat stark unter
dem Gefühl gelitten, in der Luft zu hängen und
nicht so gut zu funktionieren wie andere. „Menschen
mit unerkannter ADHS-Diagnose bekommen
oft jahrelang negatives Feedback aus dem
Umfeld und spüren ihr Anderssein in der Regel
deutlich. Mangels Erklärung werten sie sich selbst
ab, wodurch ein negatives, verzerrtes Selbstbild
entsteht“, bekräftigt die Psychotherapeutin Martina
Starck. Dies könne in Depressionen münden.
Im Alter von 20 Jahren bekommt sie dann die
Diagnose. ADHS fühlt sich für sie „wie Popcorn
im Kopf“ an. Ihr schießen dann 10.000 Gedanken
auf einmal durch den Kopf. Zudem fühlt sich die
Studentin häufig unter Strom und innerlich unruhig:
„Wenn der Professor in der Vorlesung eine
Pause ankündigt, springe ich immer sofort auf,
um mich zu bewegen“, verdeutlicht sie.
Samira Voss ist es wichtig, dass das Thema
ADHS ernst genommen wird, weil damit ein großer
Leidensdruck einhergehe. Vor allem wenn
man nicht wisse, dass man ADHS habe. Sie
kommt oft zu spät, weil ihr irgendetwas dazwischengekommen
ist oder sie vergisst, was ihr jemand
erzählt hat. Das können andere nicht immer
nachvollziehen.
„Ich versuche immer mit einzuplanen, dass
ich ADHS habe“, meint sie. Die 20-Jährige hat viele
Strategien entwickelt, um sich im Alltag und
Studium gut zu strukturieren. Sie hat immer ein
Notizbuch neben sich liegen. Wenn ihr ablenkende
Ideen und Fragen kommen, denen sie unbedingt
nachgehen will, schreibt sie diese auf und
legt das Notizbuch dann zur Seite. So behält sie
den Fokus und weiß, dass sie sich auch noch später
darum kümmern kann.
Ihre Diagnose hätte die Studentin gerne früher
bekommen, um mehr Verständnis für sich selbst
zu haben. Heute weiß sie, dass ADHS nichts mit
Faulheit zu tun hat, sondern ihr Gehirn einfach
anders funktioniert. In ihrem Gehirn herrscht ein
Mangel an Dopamin und Noradrenalin. Diese Botenstoffe
sorgen normalerweise dafür, dass man
motiviert ist und die Aufmerksamkeit zuverlässig
steuern kann.
Psychotherapeutin Martina Starck führt dazu
auf: „ADHS-Betroffenen fällt es schwer zu priorisieren,
Impulse zu bremsen, Emotionen zu regulieren,
ablenkende Reize zu filtern, sowie Langeweile
und Leerlaufzeiten auszuhalten.“
ADHS habe für Samira Voss aber auch viele positive
Seiten. Die Stuttgarterin ist sehr kreativ,
spontan, sensibel, fühlt Emotionen stark und hat
oft sehr viel Energie. „Wenn mich dann was interessiert,
kann ich mich da richtig reinfuchsen und
mich stundenlang darauf konzentrieren, zum Bei-
spiel wenn ich Sims spiele. Dann vergesse ich alles
um mich herum“, erzählt sie.
* Name wurde von der Redaktion geändert
ADHS
Laut dem ADHS-Infoportal der Universität
zu Köln sind in Deutschland circa 4,7 Prozent
der Erwachsenen von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) betroffen. ADHS beginnt in der
Kindheit und kann bis ins Erwachsenenalter
bestehen bleiben. Verschiedene neurobiologische,
psychosoziale und genetische
Faktoren sind für die Entstehung von ADHS
verantwortlich.
ADHS zeichnet sich durch drei
Kernsymptome aus:
• Durchgehende Unaufmerksamkeit
• Mangelnde Impulskontrolle
• Starke körperliche Unruhe (mit oder ohne
Hyperaktivität)