05.01.2013 Aufrufe

Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht e.V. Heft ...

Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht e.V. Heft ...

Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht e.V. Heft ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

GATWU - Forum, Nr. 1/2005 Seite 34<br />

zuschlägt <strong>und</strong> jeder Fuß, der nicht tritt, ist ein<br />

Erfolg - so unsere Legit<strong>im</strong>ation.<br />

Nachdem es tagsüber ziemlich ruhig geblieben<br />

war ... zieht nicht doch noch das ge<strong>für</strong>chtete<br />

Gewitter auf? Ich beobachte einen 13-<br />

oder 14-jährigen schmächtigen Jungen, der<br />

Papierkörbe aus ihren Halterungen zu reißen<br />

<strong>und</strong> den Inhalt anzuzünden versucht, wobei<br />

aus dem handlangen Feuerzeug eine gefährlich<br />

lange Flamme schießt, wann <strong>im</strong>mer das<br />

Bürschchen seine "Waffe" anknipst. Ich gehe<br />

auf mein Bürschchen zu <strong>und</strong> frage ihn, ohne<br />

lange zu fackeln:<br />

"Geh’ste mit mir’n Döner essen oder soll ich<br />

dir die Ohren lang ziehen?"<br />

Zwei Glupschaugen starren mich an <strong>und</strong> zwei<br />

schrecklich abstehende Ohren zittern vor<br />

Wachsamkeit.<br />

"Also, wat is?", setze ich energisch nach,<br />

"Döner essen oder Ohren lang ziehen?"<br />

Das Kerlchen entscheidet sich <strong>für</strong> den ersten<br />

Vorschlag. Und ich weiß, wo man auch jetzt<br />

noch einen Döner bekommt. Kurz darauf<br />

kommen wir ins Gespräch, über dies <strong>und</strong> das<br />

- auch über Papierkörberausreißen <strong>und</strong><br />

Feuerlegen. Sein häufigster Beitrag lautet<br />

"Wieso?". Wieso ist das verboten? Wieso ist<br />

das gefährlich? Wieso soll man nicht mal<br />

zuschlagen? Wir reden, streiten, begründen,<br />

rechtfertigen <strong>und</strong> allmählich wird eine<br />

gemeinsame Verabredung sichtbar: Du reißt<br />

keine Papierkörbe mehr raus <strong>und</strong> ich bleibe<br />

cool <strong>und</strong> lass’ die Polente aus dem Spiel! Und<br />

während mein Früchtchen "den zweten Döner<br />

vadrückt", gehen mir drei Fragen durch den<br />

Kopf:<br />

Hat je ein Erwachsener mit diesem Jungen<br />

über Regeln <strong>und</strong> Gesetze, über Gewalt <strong>und</strong><br />

ihre Folgen, über Einzelrechte <strong>und</strong> Verpflichtungen<br />

gegenüber der Gemeinschaft gesprochen?<br />

Jemals?<br />

Wo sind die Väter dieser verwahrlosenden<br />

Kids - Väter, die sie in diese Welt gesetzt <strong>und</strong><br />

schnellstmöglich verlassen haben? Und<br />

schließlich:<br />

Was soll, was kann, was wird aus diesem<br />

sympathischen Rabauki werden? Er ist einer<br />

von jenen r<strong>und</strong> 4000 hartnäckigen Schulschwänzern<br />

in Berlin, lebt von Sozialhilfe,<br />

mal bei der Mutter, mal bei deren Schwester.<br />

Welche Biografie wird dieser kleine Nomade<br />

sich zurechtbasteln - ohne Schulabschluss,<br />

Familie, eine Gemeinde, einen Verein, einen<br />

Beruf?<br />

Auf die Innenflächen seiner Hände hat mein<br />

Gegenüber mit einem Filzstift zwei nicht ganz<br />

korrekte Hakenkreuze gemalt. Wer Hitler<br />

war, weiß er nicht. Und vom Nationalsozialismus<br />

hat er keine Ahnung. "Aber so wat is<br />

echt geil!", schreit er mir plötzlich ins Gesicht.<br />

"Nackt rumlofen interessiert keinen<br />

Schwanz mehr. Aber so wat hier zeigen, dat<br />

is geil!"<br />

Mich würde nicht w<strong>und</strong>ern, wenn fleißige Jugendforscher<br />

demnächst wieder neonazistische<br />

Tendenzen, jetzt sogar unter Kindern,<br />

ausfindig machen, anstatt über die Nichterziehung<br />

der Erwachsenen zu forschen. Sie,<br />

die Erwachsenen, sind oft nicht da; sie sehen<br />

(nicht hin, sondern) weg; sie reden nicht mehr<br />

mit den Kindern (auch nicht mit den eigenen)<br />

<strong>und</strong> handeln keine Verbindlichkeiten aus<br />

(schon gar keine Regeln). Rousseau hat in<br />

seinem grandiosen Erziehungsroman "Emile"<br />

(von 1762) die zentrale pädagogische Aufgabe<br />

wie folgt formuliert: "Wenn man Kindern<br />

etwas beibringen will, muss man viel Zeit verlieren,<br />

um desto mehr zu gewinnen."<br />

Erziehung heißt nun mal: Inne-halten <strong>und</strong><br />

Halt-geben. Weil aber <strong>im</strong>mer mehr Erwachsene<br />

keine Zeit verlieren wollen, sind sie arm<br />

dran <strong>und</strong> können keinen Halt mehr denen geben,<br />

die so dringend <strong>und</strong> nötig Halt benötigen.<br />

Wenn das eine <strong>Gesellschaft</strong> nicht mehr<br />

begreift, betreibt sie ihre eigene Zerstörung -<br />

Agenda hin, Agenda her. Das, was zuallererst<br />

getan werden muss (agendum est), lautet:<br />

Wir müssen wieder erziehen - <strong>und</strong> dann besser<br />

unterrichten sowie umfassender bilden.<br />

Zu allen anderen "Reformen" gibt es Alternativen,<br />

zur Erziehung aber gibt es nichts außer<br />

- Erziehung.<br />

"Ich heiß’ übrigens Kevin", sagt mein Dönervertilger<br />

zum Abschied, grinst, wackelt mit<br />

den Ohren <strong>und</strong> flitzt davon.<br />

Ob unser Gespräch etwas genützt hat, weiß<br />

ich nicht. Ich weiß nur, dass Kevin eine gute<br />

St<strong>und</strong>e lang weder Papierkörbe aus den Halterungen<br />

gerissen noch Feuer gelegt hat.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!